H.C. Artmann: Das poetische Werk – Flaschenposten & Erweiterte Poesie

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von H.C. Artmann: Flaschenposten & Erweiterte Poesie

Artmann-Flaschenposten & Erweiterte Poesie

VERS FÜR DEN GESTRIGEN TRAUM:

silsam soliman
safferan!
salum bec und
safferan..
sonne mond und
augentram
mond und samen
safferan!
silsam ilsam
soliman..
soliman am
zungenzahn!!

 

 

 

Editorische Notiz

Die zumeist experimentellen oder in erfundenen Sprachen geschriebenen Gedichte dieses Bandes sind um die zentrale Sammlung der 1964 in Malmö entstandenen „flaschenposten“ gruppiert. Gegenüber dem ersten „vollständigen“ Abdruck der „flaschenposten“ hat der Autor den Zyklus um folgende frühere Stücke erweitert: „ginevra verrät sich“, „deutsche ansprache an könig artus“, „lancelot und gwynever“. Hinzugekommen ist ferner der noch in Malmö entstandene Text „kraniche kacheln mein haus aus“ so wie das Stück „snalong. srâp. gurng, gok. lyâr aus tök ph’rong süleng (1967). Die übrigen Texte, in den 50er Jahren entstanden, folgen der vom Autor neu für diese Ausgabe festgelegten Anordnung, die sich von der im lilienweißen brief unterscheidet.
Im „versuch einer kleinen chrestomathie mit zisternen“ aus dem Band Unter der Bedeckung eines Hutes (Residenz Verlag, Salzburg 1974) hat der Autor die erzählenden Zwischenpassagen gestrichen.
Nicht im lilienweißen brief standen „other statistix“ und „montagen“, die Gerhard Rühm in seiner Anthologie Die Wiener Gruppe (Rowohlt Verlag, Hamburg 1967) veröffentlichte. Davon sind zwei Stücke – „vollständiges lehrgedicht für deutsche“ und „elf verbarien“ – Gemeinschaftsarbeiten mit Konrad Bayer, und weitere zwei – „magische kavallerie“ und „stern zu stern“ – Gemeinschaftsarbeiten mit Konrad Bayer und Gerhard Rühm. Der Text „bagh i bish qimat i zumûm“, ebenfalls mit Konrad Bayer geschrieben, stand erstmals in The best of H.C. Artmann (Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main 1970).
Die Entstehungsdaten der Gedichte befinden sich im Inhaltsverzeichnis.

Rainer Verlag und Verlag Klaus G. Renner

Editorische Notiz der Verleger

Die Idee zu einer mehrbändigen, aufgegliederten Ausgabe des damals schon auffällig vielschichtigen poetischen Œuvres von H.C. Artmann in der „Kleinen Reihe“ des Rainer Verlages – naheliegend erschien es damals – entstand 1967. Sie wurde – wie die meisten „Ideen“ von Verlegern – aufgrund dieser und jener Entwicklung (des Autors, seiner ständigen Wohnwechsel, des kleinen Verlages und seiner Probleme) ad acta gelegt, eigentlich aber nie aus dem Gedächtnis entlassen.
1969 erschien die von Gerald Bisinger mit Liebe und Fleiß betreute Sammlung Ein lilienweißer Brief aus Lincolnshire im Suhrkamp Verlag. 1978 auch in Taschenbuchform, die bis dahin vollständigste Zusammenstellung der Gedichte, welche bis heute Gültigkeit und Wirksamkeit erlangt hat.
Viele Jahre später, im Herbst 1991 also – was im Durcheinander der Frankfurter Buchmesse nicht möglich – nämlich bei einem Besuch der Renners bei Rainers im ungarischen Fünfkirchen, gerät diese „Idee“ wieder ins Blickfeld: ein mehrbändiges Werk, verteilt auf zwei Schultern.
Salzburg, Wohnort des H.C., liegt zwischen Fünfkirchen und München, zwischen Rainer und Renner. H.C. gibt also wenige Tage später sein Placet, bekundet Wohlwollen, avisiert gar seine Mitwirkung. Auch Klaus Reichert in Frankfurt am Main – nobilder und aufrechter Herausgeber vieler Werke H.C.s – wird sofort gewonnen.
1992 – Klaus Reichert hat seine nicht mühelose Arbeit angefangen, fortgeführt und mit H.C. abgestimmt – die, von den Verlegern übernommen, die Bandzahl der Gesamtausgabe auf zehn Stück (ursprünglich acht) ausgeweitet bzw. begrenzt. Die redaktionelle Arbeit des Herausgebers und des Autors ist vorläufig abgeschlossen.
Im Sommer 1993 beginnen Pretzell und Renner unter Nutzung der typographischen Vielfalt einer 1992 erworbenen leistungsfähigen Photosatz-Maschine die Ausführung der ersten Bände.
Frühjahr 1994 – Beendigung der Satzarbeiten. Die Drucklegung kann beginnen…

Klaus G. Renner und Rainer Pretzell, Nachwort

Ich betrachte die folgenden texte…

Ich betrachte die folgenden texte als bloße inhaltsverzeichnisse für den leser, als literarisierte inhaltsverzeichnisse freilich; als anhaltspunkte und als ideen für noch nicht existierende, erst in der vorstellung sich vollziehende gegebenheiten. Ich versuche mich also praktisch in ausgriffen auf die zukunft. Ein inhaltsverzeichnis weist auf etwas hin, das erst zu realisieren wäre: es ist ein vorentwurf, und ein solcher befaßt sich mit der zukunft.
Mit diesen texten soll ein weg, eine methode gefunden werden, um von der engen und allgegenwärtigen vergangenheit, wie sie da in der literatur als abgehalfterter Ahasver herumgeistert, wegzukommen. Hiermit soll der sehnsucht nach einer besseren vergangenheit entgegengetreten werden; wehmütiges sicherinnern ist fruchtlos, ein abgestorbner kirschbaum, der sich nie mehr beblättern wird. Wohl bin ich romantiker – aber war nicht jede romantik von etwas erfüllt, das uns hin und wieder gegen ende des winters gleich einer noch unrealen frühlingsbrise überfällt?
Auch die konventionelle science-fiction ist meist nichts anderes als in die zukunft projizierte vergangenheit (kenntlich allein schon am imperfektstil), obendrein dominiert der vergangenheitscharakter jedenfalls eindeutig in ihr.
Warum inhaltsverzeichnis? Warum so viel unausgeführtes? Warum nur angedeutetes? Warum nur versprechungen? – Warum denn nicht? Eine eindeutige antwort soll nicht gegeben werden, weil sprache festlegt; jeder leser mag jedoch für sich herausfinden, was diese texte ihm persönlich an möglichkeiten anbieten.
Auf die frage, welche von diesen möglichkeiten mir selbst am meisten am herzen liegen, kann ich nur antworten: jene, die in die westliche, in die atlantische richtung weisen, jene abenteuer, die ich bei der lektüre der fragmentarischen altirischen dichtung er-lebte, durch-lebte und noch heute weiter-lebe.

H.C. Artmann, aus: Unter der Bedeckung eines Hutes, Residenz Verlag, 1974.

 

Beiträge zur Gesamtausgabe: Das poetische Werk

Fitzgerald Kusz: Kuppler und Zuhälter der Worte
Die Weltwoche, 18.8.1994

Andreas Breitenstein: Die Vergrößerung des Sternenhimmels
Neue Zürcher Zeitung, 14.10.1994

Thomas Rothschild: Die Schönheit liegt in der Abwesenheit von Nützlichkeit
Badische Zeitung, 15.10.1994

Franz Schuh: Weltmeister jedweder Magie
Die Zeit, 2.12.1994

Albrecht Kloepfer: Hänschen soll Goethe werden
Der Tagesspiegel, 25./26.12.1994

Karl Riha: Wer dichten kann, ist dichtersmann
Frankfurter Rundschau, 6.1.1995

Christina Weiss: worte treiben unzucht miteinander
Die Woche, 3.2.1995

Dorothea Baumer: Großer Verwandler
Süddeutsche Zeitung, 27./28.5.1995

Armin M.M. Huttenlocher: Narr am Hofe des Geistes
Der Freitag, 25.8.1995

Jochen Jung: Das Losungswort
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.12.1995

 

Für H.C. Artmann

Als sich im Wien der fünfziger Jahre wieder mal eine Avantgarde formierte und auf das ihr zustehende Unverständnis hoffte, gaben sich die Dichter der Stadt, die auf sich hielten, als Dandys; H.C. Artmann, noch glattrasiert, trug, wie sein treuer Monograph Michael Horowitz anmerkt, pflaumenfarbene Homburger, vielleicht Gamaschen, wer weiß, und er verfaßte die „Acht-Punkte-Proklamation des Poetischen Actes“ mit dem schönen, unangreifbaren Satz, unter dessen Fittiche viele junge Genies flohen, „daß man Dichter sein kann, ohne auch irgendjemals ein Wort geschrieben oder gesprochen zu haben. Vorbedingung ist aber der mehr oder minder gefühlte Wunsch, poetisch handeln zu wollen. Die alogische Geste selbst kann, derart ausgeführt, zu einem Act ausgezeichneter Schönheit, ja zum Gedicht erhoben werden.“
In diese Zeit emsiger Produktion Artmanns, lange vor „Fleiß und Industrie“, fällt die denkwürdige Freundschaft mit einem damals spindeldürren Mann: Helmut Qualtinger. Stark induziert vom auto-poetischen Rausch beschließt man, einen Film zu machen. Das Sujet ist Dürrenmatts sinister-ausweglose Geschichte „Der Tunnel“, in welcher ein Zug abwärts in die Miasmen des Erdinnern stürzt – diese Bahnfahrt wird tödlich enden, weiß ein dicker junger Mann, dem schon die Wattebällchen aus den Ohren fliegen.
Man stürzt ins Nichts, der Traum eines jeden Bergsteigers, wie Sir Hillary einmal schrieb. Den dicken Mann sollte der dünne Qualtinger geben, Artmann den Lokomotivführer. Die Tatsache, daß sich der multilinguale Alchimist Artmann auf Reisen begibt, ist nicht ungewöhnlich; er war immer ein großer, polyglotter Reisender, ein liebenswürdiger Passagier auf Fluchten in Landrovern, Kutschen, U-Booten und Fesselballons; durch unwegsame Zonen bewegte sich der vazierende Poet auf Kamelen, starken Elfen, aber auch Einhörnern, die ihre schönen Schädel sonst nur in den Schoß von Jungfrauen schmiegen.
Und der Reisende HCA trug sein Laboratorium immer im Gepäck: exotische Grammatiken, fremde Idiome, Dia-, Idio- und Soziolekte und das magische Gebräu seiner eigentümlichen Virtuosität für Ana- und Metamorphosen.
Der Meister der Amphibolie und Dislokation, ein erfahrener Tourist auch hier, besteigt in Gedanken einen Schweizer Zug im Gebirg’ und will als Loke-Motivist dem finalen, von Dürrenmatt angerichteten, Abgrund die Stirn bieten; für mich ist Artmanns Entschluß klar – er wußte, daß er antigravide ist; er hätte überlebt und noch in der letzten Minute den dicken Passagier mit einer Sentenz des Großvaters aus der Schuhmacherwerkstatt abgelenkt:

Scheißen und Brunzen sind Kunsten.

Vielleicht machte der Mangel an Licht am Ende des Tunnels – gemäß den Gesetzen der irregulären Ars poetica – die Anziehungskraft der Tunnelmetapher aus; diese Idee entspräche dem Satz des Erfinders Daniel Düsentrieb, den HCA schätzte:

Eine neue Küste zu entdecken und kein Glück zu empfinden, wäre das Wahre.

Auf dem Frankfurter Forum für Literatur im Jahr 1967 sah Artmann aus wie ein eleganter Scherenschleifer aus Ottakring; sein Schnurrbart war schön und exakt, wie von Edward Gorey gezeichnet, seine Stirn zart gebuckelt, wie es einem Magier geziemt, der unaufhörlich mit Phiolen, Kolben, Mörser und Messingstößel hantiert. Gegen ihn sah der Rest zu alt oder zu jung aus. „Geh, Kloaner“, sagte er zu mir nach der Lesung, „bist schon ein Poet – irgendwie…“ Danach floh er mit dem Treibstoff Alkohol zur Königin Zabra und entwarf unterwegs die Shipebo-Sprache.
Jahre später sahen wir uns von Coupé zu Coupé im Glacis-Expreß: der eine fuhr bergan, der andere bergab. Der Dichter war in Begleitung einer schönen Dame, und mir fiel eines seiner Liebesgedichte ein, in dem es heißt:

Du bist mein grünes Gurkenglas der Nacht, daraus dein ewig Weibliches mir lacht.

Wir haben uns nicht mehr oft gesehen.
Wenn ich fadistad – verdüstert – bin, rettet mich der „aeronautische Sindtbart“ aus dünner Luft; oder ein Spiel wie in der Grammatik der Rosen, wo Artmann Rosen mit Pißnelken okuliert, was eine jede Lebenslage verbessert.
Ich weiß nicht, ob er je die von ihm vermessenen Routen des Don Quixote bereiste, die er so akribisch notiert hat. Aber in dieser trockenen Zone wäre er nicht ohne Erfrischungen ausgekommen, dieser wunderbare Strawanzer mit Grandezza. Der Alchimist träumte von einer Theke ohne Alpha und Omega: Wo „die frischgewaschenen Stamperln wie ausgerichtete Soldaten“ stehen.

Und es schillert in allen Farben eines gewaltigen Rausches… fichtennadelgrün, waschblau-blau, griotterot, kaiserbirngelb, sliwowitzblond… in znaimerisch großen Gurkengläsern lauert der Angesetzte. Auf der Budel stehen griffbereit der wohlfeile Korn und eisklarer Kümmel, nicht weitab davon träumt eine Flasche Kranawettenschnaps, den einfachere Menschen gewöhnlich Gin titulieren.

Mit Qualtinger und anderen Freunden wird sich Hans Carl Artmann bei einem schottischen Whisky von den Strapazen der Großen Reise an einer ätherischen Bar erholen.

Ingomar von Kieseritzky, Sinn und Form, Heft 1, Januar/Februar 2002

H.C.

er hat wasserhelle Augen immer noch, kann schön fabulieren, sitzt vor seiner Lesung in der Hotelhalle, schlürft Kamillentee, wird von ehrfürchtigen Jüngern umringt, fährt Moped meist überland, will den Knochenschmerz nicht wahrhaben.
Ist der jüngste von uns allen geblieben, die wir damals in den fernen Fünfzigerjahren begonnen hatten, die NEUE POESIE für uns und die Welt wiederzuentdecken.
Ohne Ende seine stolze Feuerkunst möge verzaubern.

Friederike Mayröcker, 15.5.1991, aus Friederike Mayröcker: Magische Blätter IV, Suhrkamp Verlag, 1995

Hans Carl Artmann

Infolge ihrer verspäteten Drucklegung kommt Artmanns poetische Produktion heutzutage einem Kunstgeschmack zupaß, der den Akzent seiner Betrachtung nicht mehr auf die sich in ihr perpetuell äußernde Manifestation einer Haltung zu setzen geneigt ist, sondern auf die Exklusivität des Ergebnisses Wert legt. Das Erstaunen über die nuancierte Anpassung an immer wieder als neu hervorgeholte Sprachmuster täuscht leicht über die Basis hinweg, von der Artmanns Schreiben seinen Ausgangspunkt bezog, ja verliert im Zuge der Bewunderung häufig vollends die literarische  Situation aus dem Auge, die Artmanns Strategie erst ermöglichen half. Für einen wie Artmann an syntaktischen Formen Interessierten boten die Anfang der fünfziger Jahre praktizierten literarischen Klischees virtuell kaum die Gelegenheit zu autonomer, sich von der leidlich zu ertragenden Wirklichkeit distanzierenden Äußerung. Ein Ausbruch aus jenen wieder einmal der Innigkeit sich immer mehr zuwendenden Sprach- und sonstigen Konventionen konnte nur durch eine innerlich wie äußerlich zur Schau getragene emphatische Exzentrik erfolgen, und diese gestattete wiederum ein Aufleben eines durch Klassik und Klassizistik ins Hintertreffen geratenen Gefühls, Existenz durch Tätigkeit zu begründen und die Poesie zur Essenz von beidem zu deklarieren.
Dieser Auffassung kam entgegen, daß die soziologische Position der Künstler, sofern sie nicht die Absicht hatten, affirmativ eben wieder im Entstehen begriffenen Normen zu dienen – wie es vielfach geschah –, eine bewußtere Trennung von einer Öffentlichkeit zuließ, die Verhalten noch mit Attributen wie „entartet“ u.ä. belegte und wenn auch nicht Anteil, so doch Anstoß nahm. Artmanns Kenntnis fremder Sprachen, vor allem aber sein Sinn für die Wirkungsbereiche des Wortes und der Wendung, trieben den Prozeß im Sinne fiktiver Stellungnahme zu Wirklichkeit an und führten Artmann rasch in Gebiete von Äußerungen und Lebensformen, die die Verbundenheit mit Traditionen erlaubten und ebenso das Welt- und Lebensgefühl zu festigen vermochten. Artmann besetzte in der Inszenierung seiner Fiktionen fortan seine Gedankenspiele mit Rollen, denen er die von ihm aufgespürten syntaktischen Wendungen zuordnen konnte; dies gilt übrigens generell für den Großteil seiner Arbeiten. (Auch die 1953 geschriebene „Acht-Punkte-Proklamation des poetischen Actes“ zielt im wesentlichen darauf ab, dem Verhalten durch Rollen Bedeutung zu verleihen, ohne dabei das Terrain des „poetischen Bewußtseins“ aufgeben zu müssen.)
Artmanns Einflüsse auf einige Literaten – etwa in Berlin – resultierten zum Teil aus dem Einklang zwischen seiner Produktion und seiner Art, sich zu produzieren, und diese Einheit bildete so etwas wie einen Mythos heran, der die gesonderte Analyse seiner Werke scheinbar nicht zuließ. Kurz, Artmann betrieb, wie K. Bayer es formuliert hat, „Poesie als Weltanschauung“. Die enge Vertrautheit mit weniger geläufigen Formen der Poesien früher Jahrhunderte, die Artmanns Elan und Ingeniosität den Versuch, „Wesenszüge der älteren europäischen Literaturen in den Dienst avantgardistischer Bestrebungen zu stellen“, erlaubten, brachten ihn u.a. auch mit Vertretern progressiver Tendenzen in Berührung – vor allem mit der Wiener Gruppe, deren Mitglied er eine Zeitlang war –, wenngleich seine Intentionen anders motiviert und theoretische Erwägungen über Probleme der Sprache für seine Einstellung nicht eben wesentlich waren.
Dennoch wandte er einige der damals gemeinsam erarbeiteten Methoden (z.B. Invention, Montage usw.) – allerdings häufig recht intuitiv – auf seine Arbeit an. In diese Zeit fällt auch die Abfassung von Dialektgedichten, die bei Artmann – im Gegensatz zu denen von Rühm und Achleitner – weniger auf experimentelle Möglichkeiten mit dem Sprachgebrauch zurückgingen, sondern eher seiner Vorliebe für Idiome (teils als metaphorische Verstärkung) entgegenkamen.
Seine Information bezog sich schließlich auch auf literarische Programme und Verhaltensmuster, in denen er einerseits Verwandtschaft vermutete, andererseits Bestätigung wie Anregung des eigenen Auftretens wähnte. In Betracht kommen da vor allem verschiedene Aspekte innerhalb des Surrealismus, Konzeptismus, der Barock- und Troubadourdichtung sowie Facetten der Romantik, der Volkssammlungen und ihren Ausläufern in Europa und Amerika in der Hauptsache; es überschritte den Rahmen, sie sämtlich aufzuzeigen – wiewohl sie, was später gezeigt werden soll, als stillschweigende Voraussetzung für das nähere Verständnis von Artmanns Schriften gelten müssen. Erwähnt muß noch der Einfluß der Trivialliteratur respektive der Literatur aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg werden, deren Modulationen in Artmann Vergleiche mit seiner eigenen Tätigkeit evoziert haben dürften, die er, als gewisse Spielarten der Pop-art Trivialmuster in ihr Reglement aufnahmen, wenn auch naiv, in seine Arbeiten – in der psychologischen Bedeutung des Wortes – assimiliert hat.
An Artmanns bisherigem Werk fällt auf, daß es – in grober Näherung – drei verschiedene, jedoch kontinuierlich sich erstreckende Tendenzen aufweist, die, wären sie nicht durch eine allen dreien zugrunde liegende Auffassung – eben jener fiktiven Stellungnahme zur Wirklichkeit – gekoppelt, als voneinander unabhängig angesehen werden könnten. Zunächst wäre da jene Aussageweise zu nennen, die syntaktische Verformungen nicht unbedingt als Reize zitiert, sondern Emotionen in formal leicht abgeänderten Konventionen von Lyrik vermittelt und im traditionellen Sinne stark metaphorische Züge erkennen läßt sowie in erster Linie auf die Demonstration von „Sachverhalten innerhalb eines poetischen Bewußtseins“ ausgerichtet ist. Sie findet sich, mit den frühen Gedichten beginnend, in den lyrischen Sammlungen auf meine klinge geschrieben, Elf vereinzelte Gedichte, hirschgehege & leuchtturm, entwurf zu einer klage. für einen gefallenen und schließlich in den landschaften, in der Prosa in großen Passagen von Das suchen nach dem gestrigen tag, stellenweise in Die Anfangsbuchstaben der Flagge und Von denen Husaren und anderen Seiltänzern, fast gänzlich in den Dialektgedichten; von den Stücken wäre am ehesten Kein Pfeffer für Czermak der ersten Form zuzurechnen.
Fast allen hier angeführten Arbeiten – das letztgenannte Stück vielleicht ausgenommen – ist gemein, daß hier die Sprache vor der Empfindung in ein Bild der Empfindung flieht, und das ist, bedingt durch Artmanns Verwendung gleicher grammatischer Einheiten zur Darstellung eines Komplexes, häufig die einzige Rolle der Metapher in Artmanns Lyrik. (Etwa: „Ich griff mit spitzen Blättern in den lichten Tag / aus meinem blühenden Unkraut sang die frühe Sonne / Ich war (…)“ usw. Oder: „Ein Blitz ist im hohen Haus des Himmels versteckt / die Soldaten ziehen auf Brandwache Fahnen heraus (…)“ Oder: „Wind geht im Schilf / ich fand Lilienfarbiges / ich sehe deinen Mund / Worte und Vögel / ein Mund geht um Rotes / sehr dunkles Guinea (…)“ Oder: „28. September: und wieder ein violetter Freitag [venerdies violacea]. Aber ach, die Tochter Thesauri stieg in Lübeck aus dem Zug.“)
Es hat mitunter den Anschein, als stellte sich bei Artmann erst die Metapher und aus ihrer Entität die weitere Ableitung in Richtung der emotionalen Vermittlung ein, und nicht die Emotion selbst. Dies anzunehmen, wäre deshalb nicht unbegründet, weil die Summierung provozierender, von „Anreiz“ (etwa Wohlklang, Bildhaftigkeit) getragener Vokabeln nur durch ihre grammatische Änderung – vergleichbar mit dem Filmschnitt – die Bedeutungen zu nuancieren vermögen. Und es scheint weiters, daß Artmann hierbei mitunter einer Faszination unterliegt, die er doch eigentlich – durch Setzung – erst hätte bestimmen sollen, indem er ihrem Reiz die Zügel schießen läßt.
Ein Teil der von Artmann verfaßten Arbeiten ist durch die Kommunikation nicht mit Lebens-, sondern mit Sprachformen charakterisiert, um gleichfalls Emotionen hervorzurufen in der Form eines in Symbolik und Syntaktik verfremdeten Archaismus. Artmann hält sich in der Zitierung verschollener Klischees ein Bewußtsein zugute, das ihn als Vermittler von fiktiver Vergangenheit der Gegenwart ausweist und eben durch Artistik verbrämte Geschichtlichkeit zum Gegenstand der Aussage macht. Dieses fiktive Geschichtsbewußtsein als Identifikation mit realem Sprachbewußtsein könnte als fälschlich oder naiv aufgefaßte Implikation einer Stimmung aufgefaßt werden, die als objektive Aussage in einem bestimmten zeitlichen Rahmen stünde bzw. die Gleichzeitigkeit des Gefühls zum Ausdruck brächte. (Etwa: „Weiß im morgen: Banja Luka (…) / rumpelnd fällt der trommler ein, / wie der hahn ich, feldhornist, / schillernd wehn die federbüsche, / flug verkehrter bajonette (…)“ Oder: „Es trägt mein rosen dunkles roß zum Shal-i-mar / als leichten reiter mich durch wälder schwarzes haar: / Die ufer dort! der fluß! der fluß! o trink dich in den grund! / erquicke dich im naß, das nie so fern noch war (…)“ Oder: „Sicilias-Insel Haus / Atlanticks grünem garten / dem vogel Sarg Sibir / Neu Hollands wüstem schoß / wem wend ich mich itzt zu / nachdem es mich verdroß / auf*** jahr umb jahr & sonder sinn zu warten (…)“)
Es ist Teilen von Artmanns Werk eigentümlich, daß sie immer wieder Figuren, Mythen, Legenden und Plätze der Geschichte replizieren; nicht in der Absicht einer Konfrontation mit heute interpretierten Inhalten, sondern als Kulissen einer Sprachbühne, auf der Artmann quasi als der Beherrscher der Sprachen in Erscheinung tritt. Vor allem die Stücke haben auf diese (gleichfalls fiktive) Sprachgeschichte Bezug; aber selbst in leicht parodistischen Phantasmen wie Eine tatsächliche Begegnung mit Dr. Phoo Manchu – parodistisch im Hinblick auf ihr Sujet – wird z.B. auf Trivialmodelle der spätviktorianischen Epoche angespielt:

Ich bin H.C. Artmann, sagte er dann, „H.C. Artmann, den man auch John Adderley Bancroft alias Lord Lister alias David Blennerhasset alias Martimer Grizzleymold de Vere &c. &c. nennt!

Diese artistische Methode geht daneben, wo die Vorlagen bereits geläufiger und deren Inhalte allgemeiner sind wie etwa in die Grünverschlossene Botschaft oder allerleirausch; aber ihrem Entstehen verdankt sich etwa das im ganzen Werk Artmanns singuläre Produkt Fleiß und Industrie; Artmann hat sie weiters auf seine durch außergewöhnliche Einfühlung sich auszeichnenden Übersetzungen angewandt, über die gesondert und ausführlicher zu schreiben hier nicht möglich ist – wiewohl sie für Artmanns gesamtliterarisches Schaffen von einiger Bedeutung sind –, auch im Sinne der Anregung.
Als dritte Tendenz in der Arbeit Artmanns konnte man jene Schreibweise bezeichnen, die auf den ersten Blick experimentell erscheint ihre Intentionen aber weniger auf „Wissenschaftlichkeit“ gründet, sondern die Konventionen – allerdings gleichfalls mit Ziel, Sinnlichkeit auszudrücken – formal zu erweitern trachtet. (Etwa in erweiterte poesie, flaschenposten, den lyrischen verbarien, in den Gemeinschaftsarbeiten [mit Bayer und Rühm], in Reime, Verse, Formeln und in Stücken wie die fahrt zur insel nantucket, nebel und blatt, das los der edlen und gerechten u.a.) In der Hauptsache vollzieht sich diese Erweiterung auf dem Gebiet der Phonetik, und zwar weniger unter der Beachtung des konstruktiven Elements einer lautlichen Folge als einem intuitiven, wiederum einem Gefühl entgegenkommenden Prinzip, einer durch Assoziation via Phonetik fußenden Semantik. (Etwa: „wasserlobelia almegalsdatan / ich wohne lobelia almedals / nummernd auf weiß in weiß (…)“ Oder: „Assegor Thibeta et dü azimout (…) / vendigot ül iblout et ’l ab ab (…)“ Oder: „ Ungummi / Schneebitter / Sanssouci / gekäfigte / Note / Abdusche (…)“) In dieser Art des Schreibens vermögen sich Artmanns Ansprüche am besten zu verdeutlichen; reproduzierte Lautfolgen in Sortierung nach den Gesichtspunkten einer – Gefühle präsentierenden – Stimmung neu zu ordnen und Sprachauffassung zu demonstrieren.
Artmanns Arbeiten sind – zusammengefaßt – Versuche, Sprach- und Lebensgefühl miteinander zu koordinieren. Beides geht in den Bahnen der Fiktion vor sich; Haltung erklärt sich durch Schreiben und umgekehrt. Artistik wird zur Unterlage von Emotion, Präsenz einer Stimmung. Die grammatische Form erst begründet den Inhalt; die Bedeutung erhält ihre Funktion durch das vorgefundene Muster – in Hinblick auf den sie festlegenden Effekt. Insofern sind Artmanns Hervorbringungen nicht Eingriffe eines an Vergleichen geschulten, allmählich immer mehr Ausdrucksformen subsumierenden Intellekts; sie stellen, im Gegenteil, rhetorische Figuren in einen Zeitbewußtsein vorgebenden Rahmen; aber im Grunde bestätigen sie nur ihren Reiz – nicht ihren Sinn. Sie verhalten sich – bei all ihrer Faszination – wie kunstvoll geschnitzte Königinnen, Könige, Bauern oder Türme zum Schachspiel, und wenn sie mitunter imstande wären, zu erfreuen, dann hieße das bereits…

Reinhard Prießnitz, 1970, Neues Forum, Heft 198/199, Juni/Juli 1970

Masken, Mystifikationen, Mödling 

I
Für einen Leser, der heute ein Buch von H.C. Artmann zur Hand nimmt, ist es gewiß nützlich, etwas über seine Anfänge zu erfahren… die kleine Kammer in der Breitenseer Kienmayergasse zu kennen, auf der über dem Bett die Karte mit den Reiserouten des Don Quijote hing, ein Druck des 18. Jahrhunderts, vergilbt und abgegriffen, Wege, die Artmann oft gegangen ist. Die Anfänge eines Mannes, der es unternahm, als Dichter zu leben, ohne Kompromisse, waren damals so ärmlich, die Isolierung so vollkommen, jede öffentliche Wirkungsmöglichkeit so verschlossen, daß Leben nur als „Leben im Kopf“ gelebt werden konnte. Die nicht nur physische Enge der Verhältnisse zwang Artmann zu einer ständigen Erweiterung seiner Biographie, seiner Herkunft, seines Stammbaums ins Imaginäre, erfundenes Leben wuchs dem wirklichen Leben zu und überwuchs es, überwucherte es… und half ihm eine Haltung stoischen Selbstverständnisses zu gewinnen, die nicht der Bestätigung durch andere bedurfte.
Es war damals sehr schwer, etwas zu publizieren, wenn man 1. ein „junger Autor“ war, 2. avantgardistisch gesinnt und 3. in Wien lebte; es war fast ganz unmöglich. Es gab nur ein Organ, das Neue Wege hieß und eigentlich eine reine Theaterzeitschrift für die Jugend war, in der „junge Autoren“ zu Wort kommen konnten, soweit sie das Getto der ihnen zugemessenen Spalten nicht überschritten, Chotjewitz und Okopenko haben die Geschichte dieser Zeitschrift beschrieben. Die Erinnerung hat vieles verklärt. Enge und Borniertheit waren tatsächlich grenzenlos. Im November 1950 schrieb Artmann an die Neuen Wege, auf empörte Leserbriefe reagierend:

(Wir) schreiben natürlich surrealistische gedichte; doch ist bis heute noch keines davon in den Neuen Wegen veröffentlicht worden und deshalb erübrigen sich von vornherein sämtliche originalaufsätze, von Eisenreich bis Wawerda (…) Und es besagt schließlich genug, wenn herr Wawerda mit unvergleichlicher spitzfindigkeit merkt, daß mein „vorsommerliches rondo“ nicht surreal, sondern ausgesprochen zahm sei und nur der großbuchstaben entbehre (…) Nichtsdestotrotz wäre ich, auch ohne jemals ein gedicht geschrieben zu haben, schon allein in meiner lebenshaltung und -anschauung ein surrealist. Quod erat demonstrandum.

In dieser knappen spontanen Äußerung, ihm von der Redaktion zur „Klärung seines Standpunktes“ abgerungen, (man spürt ihr den Unmut des Schreibers an), ist die „Acht-PunkteProklamation des poetischen Actes“ von 1953 vorweggenommen, in der Artmann sein dichterisches Glaubensbekenntnis deutlich formuliert hat:

Es gibt einen satz, der unangreifbar ist, nämlich der, daß man dichter sein kann, ohne auch irgendjemals ein wort geschrieben oder gesprochen zu haben (…) Der poetische act ist jene dichtung, die jede wiedergabe aus zweiter Hand ablehnt, das heißt, jede vermittlung durch sprache, musik oder schrift (…) Der poetische act ist dichtung um der reinen dichtung willen. Er ist reine dichtung und frei von aller ambition nach anerkennung, lob oder kritik… Ein poetischer act wird vielleicht nur durch zufall der öffentlichkeit überliefert werden (…) Der poetische act ist vollkommen wertlos und birgt deshalb von vorneherein nie den bazillus der prostitution (…) 

In der Idee des „poetischen Actes“, wie Artmann sie postuliert, ist Gedankengut des Surrealismus virulent. Damals, 1953, von vielen als Attitüde des Außenseiters belächelt, sehen wir sie heute in vielfachem aktuellem Zusammenhang, hat die Attitüde Form gewonnen: man spricht von der Notwendigkeit, die Grenzen zwischen Kunst und Wirklichkeit zu überwinden, Kunst und Leben zu integrieren, Kunst „kunstlos“ zu machen, um ihren Realitätscharakter zu erhöhen. Die Idee einer Sache erscheint wichtiger als ihre Ausführung, der schöpferische Akt wichtiger als das fertige Werk, der Prozeß wesentlicher als das Produkt, in der bildenden Kunst diskutiert man die Bedeutung von „conceptual art“ und wertet die Originalität und Schlagkraft einer Konzeption höher als die herkömmliche Übung handwerklicher Techniken. Artmann aber war damals nicht nur das Publikum, das er noch nicht hatte, egal, oft ging es ihm darum, um überhaupt Wirkung zu spüren, ein falsches Publikum zu erreichen, es aufzustören, zu schockieren, zu verschrecken, und der Entrüstungsschrei, der ihm von diesem entgegenhallte, war ihm reicher Ersatz für den entbehrten Beifall wahrer Leser. Und in Wien war, nur damals?, an „falschem Publikum“ wahrlich kein Mangel.
In diesem Zusammenhang muß man auch die Mystifikationen um die – und in den – Mödlinger Nachrichten sehen, deren Geschichte ich für den Band das im walde verlorene totem skizziert habe. 

II
Ich war von etwa September 1951 bis Mai 1952 „Redakteur“ der Mödlinger Nachrichten. Die Mödlinger Nachrichten waren damals – und sind es noch heute – ein kleines lokales Blättchen, das wöchentlich einmal im Umfang von vier Seiten, inklusive Inserate (die Hauptspalte hieß „Ausg’steckt is’“ sowie die Spielpläne der „Lichtspielhäuser“…) erschien. Vor mir war Peter Weiser Redakteur, nach mir Humbert Fink, aber nur für wenige Wochen, da er in seiner Zeit die „Besatzungsmacht“ „verunglimpft“ hatte. Ich verdiente als „Redakteur“ 150 Schilling pro Woche, hatte allerdings nur drei Tage zu tun, Montag–Mittwoch mittag. Ich schrieb fast das ganze Blatt allein, von den Gerichtssaalberichten bis zu kommunalen Kommentaren, nur die Arzt- und Apothekenbereitschaften sowie die Liste der Todesfälle und Eheschließungen stammten nicht von mir.
Es war mein Ehrgeiz, jede Woche wenigstens eine total erfundne Meldung zu bringen. Hinter vielen dieser Meldungen stand Artmann als „spiritus rector“ – so etwa hinter der Geschichte von den keltischen Funden auf der Römerwand – einer künstlichen Ruine, die aus der Zeit der Romantik stammt –, die der Keltologe Peter Rhidian Williams, ein gemeinsamer Freund, der aus Wales stammte, dort getan hätte. Natürlich war Williams kein Keltologe, und natürlich hatte er nichts gefunden. Oder ich brachte die angebliche TASS-Meldung aus Kiew, daß dort Professor Stowasser eine neue Weizensorte gezüchtet hätte, von der 1 Kilo einen Menschen 1 Jahr lang ernähren könnte – dahinter stand Hundertwassers „Weizentheorie“, die er mir einmal im Art-Club erzählte. Ich druckte auch einzelne Texte von Artmann ab, auf die sich bald viele wütende Leserbriefe einstellten – Mödling fühlte sich zum Narren gehalten. Einzelne dieser Briefe erschienen dann auch. Ich druckte von Ambrose Bierce die Geschichte „Mein schönster Mord“ ab (oder „Mein Lieblingsmord“), die ich dem Lot entnahm, die Geschichte erschien in mehreren Fortsetzungen. Man hielt das, fälschlich, für eine Mystifikation – und Artmann oder Riemerschmid für den Verfasser, an die Existenz von Bierce glaubte niemand! Die letzte Folge mußte ich unter vielen Drohungen umschreiben – ich erfand einen Schluß dazu, in dem der Held der Geschichte ins Kloster geht und über sein verpfuschtes Leben nachsinnt und seinen „schönsten Mord“ kräftig bereut usw. – Es erschienen auch einzelne Glossen, die sich auf Interna unseres Kreises bei den Neuen Wegen bezogen und die so verschlüsselt waren, daß sie kein Mensch verstand. Sie hatten auch wirklich in den Mödlinger Nachrichten nichts zu suchen. Das Merkwürdige aber war, daß das Blättchen trotzdem florierte und gelesen wurde – schließlich hat man mich aber doch hinausgeworfen, weil ich zuviel Unfug gemacht hatte.
Ein besonderes Kapitel sind die „Geistererscheinungen in der Hinterbrühl“, über die laufend berichtet wurde. In der Hinterbrühl gab es damals ein „Spukhaus“, dem man nachsagte, daß sich dort „okkulte Phänomene“ abspielen sollten. Wir versuchten der Sache auf den Grund zu gehen, hörten allerhand Gerüchte, die aufgebauscht in den Mödlinger Nachrichten erschienen, halfen auch, in seltsamer Geisterverkleidung, diesen Phänomenen kräftig nach – Artmann war natürlich dabei, einmal mußten wir Hals über Kopf vor der von dem „Geisterseher“ herbeigerufenen Polizei flüchten. Viele entkamen, einige kriegten sie zu fassen… Unser Glück war, daß der „Geisterseher“ in seiner Wut maßlos übertrieb, behauptete, wir hätten ihn ermorden oder nach Sibirien entführen oder ihn als rituelles Opfer auf der Römerwand schlachten wollen, worauf die Polizei ihm noch weniger glaubte als uns, die wir von freundschaftlichem Schabernack und Studentenulk sprachen, wir kamen mit einer Geldstrafe wegen „nächtlicher Ruhestörung“ und „öffentlichem Ärgernis“ davon.
Ich brachte die jeweils neueste Nummer der Mödlinger Nachrichten nach Wien mit, wo sie von Artmann, Altmann und anderen Freunden immer mit Hallo begrüßt wurde. Einige Jahre hindurch war Mödling – auch als es die Mödlinger Nachrichten unter unserer Regie nicht mehr gab – ein Stützpunkt für vielfache Unternehmungen und Mystifikationen im Sinne des „poetischen Actes“. 

III
Die Mystifikation erschien Artmann als eine der Möglichkeiten, banales Leben zu verwandeln, das heißt durchsichtig, transparent, geschichtlich, poetisch, dichter, substantieller zu machen, es mit Sinn aufzuladen, auch wenn dieser dem Uneingeweihten als Unsinn erscheinen mußte. Eine Reise, im Herbst 1951 mit Artmann unternommen, nach Venedig, Verona, in die Lombardei, führte uns durch viele Jahrhunderte, in shakespearesche Zeiten. In Brescia, wo wir mangels Fahrkarten den Zug verlassen mußten, sandten wir, ordnungsgemäß frankiert mit Inlandporto, Kartengrüße an alle heidnischen Gottheiten, deren Namen uns einfielen. Ich weiß nicht, wo sie jemals angekommen sind. Eine Reihe solcher, später immer weiter ausgreifender „poetischer Acte“, von den Freunden der Wiener Gruppe unternommen, sind von Konrad Bayer und Gerhard Rühm aufgezeichnet worden.
Mystifikationen, Masken, Personae… Wenn, sehr gelegentlich, Artmann einmal etwas außerhalb der Neuen Wege, außerhalb Wiens veröffentlichen konnte, wie etwa in der Kultur, erfand er für die einzelne Publikation eine eigene Biographie, erfand Titel nicht geschriebener Romane („der oktober ist die deichsel“), imaginäre Editionen, nicht existierende Kritiker (ein Prof. Tirschenreuther, dzt. Lissabon, geisterte durch einige Viten), wechselte den Geburtsort (eine Lesung in Mödling kündigt einen H.C. Artmann, geboren „im Württembergischen“ an), vertauschte Dichtung und Wahrheit bis sie ununterscheidbar verschmolzen…
Oft erwuchs aus dem Erfinden der Masken, skurriler Lebensumstände, seltsamer Zitate, kompletter Biographien der Text selbst – und Doderers Wort, Dichtung sei, wenn man in ein erfundenes Gewand hineinfahre und bei wirklichen Ärmeln herauskomme, gewann bei Artmann buchstäbliche Realität. Die einem Text vorangestellte biographische Note oder der ihm angefügte Kommentar Tirschenreuthers waren für Artmann genauso Dichtung wie der eigentliche Text, gleichen Charakters und gleichen Ranges. Klaus Reicherts kongeniale Apotheose sämtlicher Metamorphosen Artmanns im Lauf der Jahrhunderte („Biographische Stationen des Hrothgar Culhwoh Artmann … “)1 erscheint mir die einzige wirklich authentische Biographie unseres Autors, der sich immer auch als Autor seines Lebens verstand.
Philologen, die einmal an einer historisch-kritischen Ausgabe der Schriften Artmanns arbeiten werden, werden sich noch so manchen Zahn ausbeißen… Es machte Artmann Spaß, Texte mit einem dritten, einem siebenten, einem dreizehnten Kapitel zu beginnen und mit irgendeinem dreißigsten enden zu lassen, auf eine dritte Strophe sogleich die neunte folgen zu lassen… wenn einige nie geschrieben wurden, nun gut… unsere arithmetischen Zwänge kümmerten ihn wenig. So mag es manchen nicht geschriebenen Text geben, der heute von Herausgebern verzweifelt gesucht wird, wie umgekehrt einige verschollen bleiben mögen, liegen gelassen in irgendwelchen aufgegebenen Quartieren, von denen wir nicht einmal die Titel wissen. Der größte Verlust, von dem wir bisher Kenntnis haben, betrifft den Roman Der aeronautische Sindtbart, aus dem ich Artmann in der Zeit seines frischen schwoazze dintn-Ruhms, zu Ende der fünfziger Jahre also, viele Kapitel habe vortragen hören, ein Roman, der nie vollendet wurde, dessen geschriebene zwanzig oder fünfundzwanzig Kapitel in alle Winde verstreut sind.
Schließlich bleibt anzumerken – und auch das gehört zum Kapitel der Masken und Mystifikationen Artmanns –, daß H.C. Artmann nicht nur für eigene Texte Gestalten erfand, denen er sie in den Mund legte (wie den Husaren am Münster zu Toledo),sondern daß er sehr reale Personen wie etwa Sigmund Freud Sätze sagen ließ, die diese zu allerhand tiefenpsychologischen Überlegungen angeregt hätten. Wie er oft, um schreiben zu können, in die Sprachmaske einer fernen Epoche, eines vergangenen Stils, eines fremden Idioms schlüpfen mußte, so schmuggelte er umgekehrt in offizielle Übersetzungsarbeiten – wie „der schlüssel des hl. patrick“ – eigene Gedichte mit ein, die dann zum besten des ganzen Bandes gehören. Vielleicht sind, recht verstanden, alle seine Dichtungen Übersetzungen niemals existenter Originale, Palimpseste über imaginären Handschriften. 

Wieland Schmid, aus Über H.C. Artmann, herausgegeben von Gerald Bisinger, Suhrkamp Verlag, 1972

 

 

Der Mond isst Äpfel… sagt H.C. Artmann. Die H.C. Artmann-Sammlung Knupfer

Clemens Dirmhirn: H.C. Artmann und die Romantik. Diplomarbeit 2013

 

 

Adi Hirschal, Klaus Reichert, Raoul Schrott und Rosa Pock-Artmann würdigen H.C. Artmann und sein Werk am 6.7.2001 im Lyrik Kabinett München

 

„Spielt Artmann! Spielt Lyrik!“ (Teil 1)

„Spielt Artmann! Spielt Lyrik!“ (Teil 2)

 

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Nachrufe auf H.C. Artmann: FAZ ✝︎ Standart ✝︎ KSA
70. Geburtstag10. Todestag

Zum 100. Geburtstag des Autors:

Michael Horowitz: H.C. Artmann: Bürgerschreck aus Breitensee
Kurier, 31.5.2021

Christian Thanhäuser: Mein Freund H.C. Artmann
OÖNachrichten, 2.6.2021

Christian Schacherreiter: Der Grenzüberschreiter
OÖNachrichten, 12.6.2021

Wolfgang Paterno: Lyriker H. C. Artmann: Nua ka Schmoez
Profil, 5.6.2021

Hedwig Kainberger / Sepp Dreissinger: „H.C. Artmann ist unterschätzt“
Salzburger Nachrichten, 6.6.2021

Peter Pisa: H.C. Artmann, 100: „kauf dir ein tintenfass“
Kurier, 6.6.2021

Michael Stavarič: „Immer verneige ich mich, Herr Artmann“
Die Furche, 9.6.2021

Edwin Baumgartner: Die Reisen des H.C. Artmann
Wiener Zeitung, 9.6.2021

Edwin Baumgartner: H.C. Artmann: Tänzer auf allen Maskenfesten
Wiener Zeitung, 12.6.2021

Cathrin Kahlweit: Ein Hauch von Party
Süddeutsche Zeitung, 10.6.2021

Elmar Locher: H.C. Artmann. Dichter (1921–2000)
Tageszeitung, 12.6.2021

Bernd Melichar: H.C. Artmann: Ein Herr mit Grandezza, ein Sprachspieler, ein Abenteurer
Kleine Zeitung, 12.6.2021

Peter Rosei: H.C. Artmann: Ich pfeife auf eure Regeln
Die Presse, 12.6.2021

Fabio Staubli: H.C. Artmann wäre heute 100 Jahre alt geworden
Nau, 12.6.2021

Ulf Heise: Hans Carl Artmann: Proteus der Weltliteratur
Freie Presse, 12.6.2021

Thomas Schmid: Zuhause keine drei Bücher, trotzdem Dichter geworden
Die Welt, 12.6.2021

Joachim Leitner: Zum 100. Geburtstag von H. C. Artmann: „nua ka schmoezz ned“
Tiroler Tageszeitung, 11.6.2021

Linda Stift: Pst, der H.C. war da!
Die Presse, 11.6.2021

Florian Baranyi: H.C. Artmanns Lyrik für die Stiefel
ORF, 12.6.2021

Ronald Pohl: Dichter H. C. Artmann: Sprachgenie, Druide und Ethiker
Der Standart, 12.6.2021

Maximilian Mengeringhaus: „a gesagt, b gemacht, c gedacht, d geworden“
Der Tagesspiegel, 14.6.2021

„Recht herzliche Grüße vom Ende der Welt“
wienbibliothek im rathaus, 10.6.2021–10.12.2021

 

 

Ausstellungseröffnung „Recht herzliche Grüße vom Ende der Welt!“ in der Wienbibliothek am Rathaus

 

Lovecraft, save the world! 100 Jahre H.C. Artmann. Ann Cotten, Erwin Einzinger, Monika Rinck, Ferdinand Schmatz und  Gerhild Steinbuch Lesungen und Gespräch in der alten schmiede wien am 28.10.2021

 

Sprachspiele nach H.C. Artmann. Live aus der Alten Schmiede am 29.10.2022. Oskar Aichinger Klavier, Stimme Susanna Heilmayr Barockoboe, Viola, Stimme Burkhard Stangl E-Gitarre, Stimme

 

Bild von Juliane Duda mit den Texten von Fritz Schönborn aus seiner Deutschen Dichterflora. Hier „Uferartmann“.

 

Ausschnitte aus dem Dokumentarfilm Die Jagd nach H.C. Artmann von Bernhard Koch, gedreht 1995.

 

H.C. Artmann 1980 in dem berühmten HUMANIC Werbespot „Papierene Stiefel“.

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