Hans Christian Kosler: Zu Ror Wolfs Gedicht „Aus dem Norden“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Ror Wolfs Gedicht „Aus dem Norden“ aus Christoph Buchwald & Rolf Haufs (Hrsg.): Luchterhand Jahrbuch der Lyrik 1989/1990. –

 

 

 

 

ROR WOLF

Aus dem Norden

Gestern, mit der Eisenbahn,
gestern oder heute,
kam ein Mann, ich weiß nicht wann,
und der Schnee bestreute

seinen Kopf und sein Gesicht,
Schuhe, Hut und Hände.
Ach, der Schnee fiel dick und dicht
über das Gelände.

Ach, der Schnee fiel auf ihn hin
und bedeckte bald
Fuß und Knie und Hals und Kinn,
weiß und weich und kalt.

Ach, er fiel, der Schnee, er fällt
immer noch, der Schnee;
er bedeckt die ganze Welt,
die ich nicht mehr seh.

Gestern sah ich von dem Mann
schwarz gewölbt den Hut,
hart wie Glas wie Porzellan.
Heute, kurz und gut,

heute liegt der Schnee so schwer;
alles ist verborgen.
Nein, ich sehe gar nichts mehr,
heute oder morgen.

 

Der traurige Spieler

Die Sonne „zerspritzt“, ein Wald stürzt in die Tiefe, eine Stadt „platzt“: Für die bizarren Auswüchse einer blühenden Phantasie, wenn nicht für puren Unsinn hielt man, was Ror Wolf 1976 in seinem Prosaband Die Gefährlichkeit der großen Ebene an „Nachrichten aus der bewohnten Welt“ zu vermelden hatte. Heute, wo Umweltkatastrophen zur Tagesordnung gehören, wo wir vor dem Ozonloch fliehen, Gletscher schmelzen und Berghänge abgehen, könnte man diese Bilder als die düsteren Visionen eines grünen Propheten deuten, der – als seine Kollegen gerade ihren Alltag literarisch zu zelebrieren begannen – bereits das Gespenst einer aus ihrem ökologischen Gleichgewicht geratenen Umwelt an die Wand malte. Doch Ror Wolf ist weder ein Grüner, geschweige denn liegt ihm etwas an der Rolle des Propheten oder selbstgerechten Mahners. Im Gegenteil – kaum einer unserer zeitgenössischen Autoren will so wenig unser Zeitgenosse sein, hat so ingrimmig jedwede Aktualität aus seinem Werk verbannt wie dieser Wortvirtuose, der seinen Lesern zudem kein Quentchen von sich und seinen Emotionen preisgeben zu wollen scheint.
Und dennoch – so unnahbar der Autor Ror Wolf auch zunächst bleiben mag, so erahnbar wird doch mit fortschreitender Lektüre, wer sich hinter dieser hochartifiziellen Prosa verbirgt und was uns dieser vermeintliche Anonymus mit dem nicht weniger artifiziellen Vornamen zu sagen hat. Das Gedicht „Aus dem Norden“, das ihn uns ein ganzes Stück näherbringt, ist ein solitäres Gelegenheitsgedicht: Es artikuliert jene abgrundtiefe Melancholie, die unausgesprochen über diesem so merkwürdig unzugänglichen Werk schwebt.
Denn Ror Wolf, den uns einige Rezensenten als Humoristen und Erzähler anempfehlen wollen, ist in erster Linie ein trauriger Spieler. Und ein Protokollant des Stillstands. Nicht von ungefähr jongliert er mit Versatzstücken, mit Klischees und Archetypen (zu denen der zugeschneite Mann mit dem schwarzen Hut gehört). Ihr gemeinsames Kennzeichen sind die Austauschbarkeiten, die Paradoxie und das ihnen entwichene Leben. Irgendwann muß sich diesem desillusionierten Betrachter, der 1953 aus der DDR in den Westen übersiedelte, unsere Konsumgesellschaft so eindringlich in ihrer Inhaltsleere und Starrheit eingeprägt haben, daß wir sie in seinen Büchern immer wiederfinden: Bücher, in denen wir nie das Glück, meist aber ein Ende antreffen.
Vom Ende, vom Weltenende, handelt auch dieses Gedicht, eine – ähnlich der „geplatzten Stadt“ – ins Banale gekehrte Apokalypse, die hier aber keine bedrohlichen, sondern friedliche Züge trägt. Lautlos wird die Welt eingeschneit, und der Seufzer „Ach, er fiel, der Schnee, er fällt“ klingt eher nach Zustimmung als nach einer Klage. Ja, die unfrohe Botschaft kommt auf äußerst leichtem Versfuß, in griffigen Reimen und lockeren Enjambements einher. Ein Gedicht, das in seinem Tonfall an Robert Walser erinnert, der das Traurige meist heiter und sanft, dem Unglück freundlich ergeben gesagt hat. Robert Walser, Ror Wolfs erklärter „Lieblingsdichter“, starb im Alter von 78 Jahren auf einem Spaziergang in der lautlosen Umgebung des Sanatoriums Herisau. Man fand ihn an einem Weihnachtsfeiertag, hingestreckt im Schnee liegend.

Hans Christian Kosler, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Achtzehnter Band, Insel Verlag, 1995

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00