Heinz Czechowski: Ich, beispielsweise

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Heinz Czechowski: Ich, beispielsweise

Czechowski-Ich, beispielsweise

AN FREUND UND FEIND

Wie wir das lesen ist unsere Sache:
Jeder gegen jeden, noch immer?
Und der gegen die symmetrische Welt?
Die Wahrheit? Ja! – doch nicht die ganze.
Sicher: hier läutet nicht nur die Galle,
Hier wird die Trommel kaum noch gerührt.
Sandkorn um Sandkorn rieselt die Eisenzeit
Ein in das Unsre und in die Welt
Der Schafe und Sterne.
Wir sagen uns Zaubersprüche,
Wir schreiben uns Briefe mit blauen Siegeln –
Wer aber soll das rezensieren?
Wo wir auch hinsehn:
Die goldenen Stühle
Längst schon besetzt
Von Kopien nach Originalen.

 

 

 

Gespräch mit Heinz Czechowski

Christel und Walfried Hartinger: Wieviel Wirklichkeit brauchst du für dein Gedicht?

Heinz Czechowski: Viel, ja. Die Tatsache, daß meine Gedichte Gelegenheitsgedichte sind, habe ich oft betont, wenn ich nach ihren Entstehungsmomenten gefragt worden bin. Wenn man sie sich ansieht, ist zu bemerken, daß sie immer Reaktionen auf bestimmte Erlebnisse sind – ich sage hier pur „Erlebnisse“, das ist natürlich etwas einschichtig, versimpelt –, auf Dinge, die in meinem Leben, in meiner Biographie eine Rolle gespielt haben.

Hartinger: Gibt es prägende Zusammenstöße, die lange nachwirkten, immer wieder zur Mitteilung drängten?

Czechowski: Sicher, seit ich schreibe, wirkt dies über zwei Komponenten: über die Wirklichkeit, aber auch über die Literatur, die Kunst, und ich würde beides in ihrer Einwirkung nicht trennen. Literatur hat mir das Wahrnehmen von Realität geschärft, mich diese intensiver beachten lassen als in der Zeit, da ich Dichtung eigentlich nicht kannte; das heißt, man kann letztlich selbst nur dann mit Gedichten auf Wirklichkeit reagieren, wenn bestimmte Kunsterfahrungen gegeben sind, mögen sie noch so begrenzt sein am Anfang.

Hartinger: Du unterstreichst allgemein die Bedingtheit des Gedichts durch Wirklichkeit und durch Kunst. Welche von dir erlebte Wirklichkeit bestimmte deine Dichtung langandauernd?

Czechowski: Dresden, natürlich. Aber Dresden natürlich nur stellvertretend. Ich hätte ja ebensogut in einer anderen Stadt geboren werden können, aber ich bin es nun einmal in dieser. Wenn gemeinhin von so etwas wie Schicksal geredet wird: hier überschnitten sich eben, wie an Kreuzungspunkten, Möglichkeiten und Unmöglichkeiten zum Leben. Da war Welt vorhanden. Das Eindringen von Bombenflugzeugen in einen Kindheitsraum – ich war ein zehnjähriger Junge am 13. Februar 1945 –, das, ich möchte es nicht zu oft wiederholen, war natürlich im Maurerschen Sinne eine Welterfahrung, Erfahrung größerer Welt, eine tragische, eine vom Tod betroffene.

Hartinger: Zu sehen so, daß dadurch für das eigene Leben geschichtliche Koordinaten sich setzten, die nicht über historische Fakten, über Theorie gewonnen werden mußten?

Czechowski: Ich glaube, das ist der Punkt. Ein Schock, niemandem von den Jüngeren zu wünschen, aber teuer genug bezahlt, so daß man davon reden kann: das Miterleben jener Katastrophe, jener Zäsur, die weltgeschichtlich war. Daran habe ich keinen aktiven Anteil. Ich habe nicht Geschichte gemacht, Geschichte hat mich gemacht, ich bin Objekt gewesen. Das ist eine Grunderfahrung, auf die ich leider nicht verzichten kann. Dieses Zusammentreffen von geschichtlich determinierten Ereignissen öffnete einem die Augen, wenn man sehen wollte… Von dort aus laufen alle Fäden, öffnen sich alle Perspektiven, in welche Richtung ich immer blicke. Es ist das eigentliche Maß, mit dem ich messe. Wenn ich mich auch bemühe – und ich habe durchaus versucht, mir dieses Sehen von dorther auszureden, neue Anfänge als ein neues Maß zu fassen –, es gelingt nicht, die Reflexion, das Gedicht kehren dorthin zurück. Das heißt also: der geschichtliche Raum war mit Dresden gegeben, aber – er war zerstört. Und da er zerstört war, mußte Zerstörtes wahrgenommen werden, 45, die Jahre danach. Es blieb zu fragen: Was alles schwelte hinter den Ruinen? In dieser Asche? Dieses Hinterfragen – eine Aufgabe, ich habe sie sicher unzulänglich erfüllt – der Ruinen nach dem, was sie vorher waren, bleibt heute noch zu leisten, auch dann also noch, wenn wir Ruinen im vordergründigen Sinn nicht mehr haben. Es ist ja nicht alles schon so einsehbar, wie es uns manchmal scheint.

Hartinger: Erkundungen also nach Geschichte als erlebtem, von Menschen durchlebtem Raum…?

Czechowski: Ich habe das Gefühl, Geschichte als Raum zu erleben, eigentlich immer, auch wenn ich ins Ausland reise. Ich glaube, erst Reisen –

Hartinger: Wir nannten dies einmal für eine bestimmte Lebens- und Schaffensphase eurer ganzen Lyrikergeneration „Ausbluten“ aus mitgebrachten Dispositionen…

Czechowski: Ja, solche Reisen, die ich relativ spät gemacht habe, in den sechziger Jahren und dann im letzten Jahrzehnt, nach Polen, nach Moskau und in die baltischen Länder oder nach Paris und an den Oberrhein, ließen so etwas von Weltbewußtsein, von einer unauflöslichen geschichtlichen und psychischen Einheit eines europäischen Kunstdenkens, nachhaltiger in meine Vorstellung eindringen. je unzugänglicher allerdings Ausland uns noch sein muß, um so ungeheuerlicher, im Sinne von ungeheuer, wird diese Dimension, wenn man sich ihr dann wirklich aussetzen kann. Aber Reisen allein macht natürlich keine Poesie. Und ich möchte damit Bildungsreisen nicht gemeint haben. Reisen als konkretes Wahrnehmenkönnen der ideellen Perspektiven jenes Raumes, in dem wir eingeschränkt leben, der uns vertraut ist.

Hartinger: Dresden zum einen und immer wieder, südosteuropäische Landschaften zum anderen im zweiten Band Wasserfahrt, im dritten Schafe und Sterne der anhaltinische Bereich zunehmend auch – eine gesuchte, systematische Eroberung?

Czechowski: Na ja, es klingt hier etwas provinziell, wenn ihr im Zusammenhang mit der von uns einbezogenen Dimension das Anhaltinische ins Spiel bringt. Aber es ist wahrscheinlich doch so, daß das Gebiet um Halle ein geschichtlicher Raum von ganz besonderer Art ist. Dort gibt es zum Beispiel fast kein Dorf ohne romanische Kirche, die ihre Ursprünge im 12. oder 13. Jahrhundert hat: der Petersberg, die Tempelherrenkirche in Mücheln bei Wettin, die Doppelkapelle in Landsberg… Und wenn wir bedenken, daß man sich nicht aussuchen kann, wo wir uns, im Wortsinne, umsehen können, dann sucht man überall nach den Wurzeln und strengt sich an, sie zu entdecken. So habe ich immer versucht, etwas vom fortdauernden Atem der Welt, von ihrer Synchronität und Diachronität in solch winzigem Raum, Platz, Ort ahnbar zu machen. Das alles ist sicher weitgehend geschichtsnotorisch, kann nachgeschlagen werden, wichtiger aber schien mir, eine besondere Ahnung zu erhalten von dem, was immer vom Gegenwärtigen aus in die Tiefe der Zeiten hineinreicht, mit dem wir leben. Aber mit faktologischer Brille habe ich nicht nachgeforscht; ich möchte Ahnung mir, uns erhalten und mitteilen als eine Qualität heutiger Weltvorstellung, als Geschichte gleichsam, wie ich sie verstehe, die in den Mythos mündet.

Hartinger: Ja, solches Vorstellen ist uns verwandt, scheint mir wesentlich für uns Heutige. Naiv gefaßt: Es führt vom jetzigen Tag ein Zeitband in alle gewesenen Tage, ein mächtiges Kontinuum des geschichtlichen Seins, in dem wir stehen, das hebt in einer Weise unsere Enge und Endlichkeit auf, dimensioniert unser Selbst- und Eigenbewußtsein zum Gattungsbewußtsein. Und diesen Impuls kann man spüren in deinen Gedichten, er kann bewußter formieren, was man in der eigenen Vorstellung angelegt fühlt.

Czechowski: Das kann sein. Aber dieses Ahnungerhalten ist durchaus auch etwas polemischer Natur. Ich glaube: nicht als Flucht, doch aber als ein Sich-Wehren gegen die durch Ideologeme überwucherte Sicht auf die Geschichte, auch der jüngsten vor allem, ist solche Rückwendung und Suche nach Ursprüngen sehr wichtig. Hartnäckiger merke ich auf in einem Gedicht wie „Im Seekreis“ bei Leuten wie Max Hölz, die sich schon im Dämmer der Geschichte zu verlieren beginnen.

Hartinger: Erinnere ich mich an bestimmte Texte, etwa an „L’execution de Zuckermann“ – ein Gedicht, das mir zunächst nicht sonderlich auffiel, dann aber doch zunehmend merkwürdiger wurde –, so möchte ich fragen, ob in solchen Versen als Verfahren intendiert ist: Aufbewahren von Menschen, von Anstrengungen, von denen zu wissen für uns wichtig wäre, die dadurch der Gestalt- und Wortlosigkeit entrissen werden?

Czechowski: Ich glaube nicht, daß es dies allein ist. Lebendigmachen, -erhalten, so gesehen, scheint mir die Absicht des Gedichts vordergründig zu fassen. Zuckermann, der Name beispielsweise ist nicht verbürgt. Interessiert hat mich an diesem Foto – und es hätte nicht ein Foto sein müssen, es hätte auch der Platz vor jener Café-Terrasse in diesem Ort in den Ardennen selbst sein können, jemand hätte nur sagen brauchen: Dort hat die Guillotine gestanden, und da ist ein gewisser Monsieur Z. hingerichtet worden, auch das schon hätte mir, glaube ich, reichen können; dazu kommt die Stimmung an diesem Nachmittag damals: der Regen und all das Unwägbare, das ein Gedicht ausmacht – interessiert hat mich, nicht im Sinne eines versöhnenden Im-Gedächtnis-Bewahrenwollen der Person, daß ich den Gang der Geschichte um ein winziges tiefer erhellen wollte, ob nun ins gute oder schlechte Licht hinein. – Ja, es ist schwer, im Nachher zu beschreiben, wie ein Gedicht entsteht: Wir könnten den Sachverhalt an sich näher bestimmen, ihn faktisch, dokumentarisch auffüllen, oder ich könnte mich auch anderen Gestalten zuwenden, eindeutigeren; das, glaube ich, gewesene Objektive ist nicht gemeint für dieses und in diesem Gedicht. Was ich, um das große Wort zu Hilfe zu nehmen, als meinen Auftrag oder als poetische Konfession empfinde: die Momente, da die Dinge mich berühren, betreffen, mich angehen – sei es als Foto, als Dokument, als Erlebnis – immer als Schnittpunkte zu begreifen und zu fixieren, an denen die Elemente des gewesenen und des gegebenen Lebens sich kreuzen. Diese Zusammenstöße, das ist das Erlebnis und zugleich die Mitteilung. Da ich jetzt hier zu leben habe, gerne aber an vielen Orten, zu vielen Zeiten leben würde, möchte ich diese Erfahrung immer wieder machen, ich betone: diese Erfahrung, wie sich die Dinge in uns stoßen, nicht im Raum, wie Schiller sagt; in uns. Und hier verläuft jene geheime Trennungslinie zwischen Geschichte als Materie der Wissenschaft und Geschichte als Materie der Poesie.

Hartinger: Bedingtheit und Prägung des Gedichts auch durch Literatur, durch Kunst, haben wir eingangs festgehalten. Deine Kunsterfahrungen und deine Traditionsbeziehungen waren beteiligt daran, diese eben beschriebene Optik auf die Wirklichkeit, auf die geschichtlichen Räume einzustellen?

Czechowski: Sozusagen genetisch, in der Biographie, ist es ja etwas anders verlaufen, als es heute scheinen kann. Wieder ist zunächst über Dresden zu sprechen. Seine kulturelle Aura hat vielerlei Einwirkungen: sie hat frühe Freundschaften gestiftet, und zwar zu Leuten, die in mancher Hinsicht damals weiter waren, mir Lektüre eröffneten. Die Lehrzeit als Graphischer Zeichner spielte eine Rolle, ich lernte ein paar Maler kennen, die mich vor Bilder führten. Musik wurde wichtig, allerdings weniger die Moderne, bedingt durch die fünfziger Jahre. Die Dichtung, die in den späten fünfziger Jahren für mich zugänglich war, mich anzog, ließ Wahlverwandtschaften aufkommen, natürlich übermächtig Brecht als Lyriker – auf die Jugendlichen damals um Zwanzig wirkte besonders die Hauspostille, die frühe Phase, die naturromantische, abenteuernde Vagantenlyrik –, im Zentrum aber Huchel, Peter Huchel, sofort. Ich sandte ihm eines meiner ersten Gedichte, „Picasso: L’etreinte“…

Hartinger: Und welcher Bescheid kam zurück?

Czechowski: Er hat dieses Gedicht ziemlich hoch bewertet, etwa: eine starke Talentprobe, aber eines sei zuwenig. Ich habe dann nicht mehr zurückgeschrieben, es gab in dieser Beziehung eine jahrelange Pause, bis ich ihn später kennenlernte. Wesentlich aber – Huchels Gedichte ließen mich eine Wahlverwandtschaft spüren, weil ich durch sie die Landschaft meiner Kindheit, zu der ich mein Verhältnis bis dahin nicht artikulieren konnte, sehen und fassen lernte: Moritzburg, die Teiche, Gräben, Gewässer, das Schilf und die Reusen, damals noch nicht von Touristen heimgesucht. Die aufgeschriebene Wahrnehmung dieser Landschaft ist also nicht durch das traditionelle romantische Naturgedicht gegangen, sie fand sich präzise benannt bei Huchel.

Hartinger: Verse wie „Cleviner Herbst“ zeigen uns dies, bis ins Detail hinein beziehungsweise gerade im Detail: die Früchte, das Licht…

Czechowski: Ja, sicher, in dieser Hinsicht ein epigonales Gedicht, wenn ihr so wollt. Es gibt in meinen Mappen noch andere aus diesen Jahren, die nicht in den Nachmittag-Band aufgenommen, die nicht veröffentlicht sind.

Hartinger: Ist Huchels Dichtung aber in Dresden der erste kräftige Leseeindruck gewesen?

Czechowski: Ich erwähnte schon Brecht. In der Lyrik, vorher, war es zweifellos, weil es kaum etwas anderes in meinem Elternhaus gab, eine zehnbändige Theodor-Storm-Ausgabe. Und Berührungspunkte gibt es nun wiederum zwischen Storm und Huchel, das wird kaum jemand bezweifeln… Für die Zeit dieser Anfänge erinnere ich mich intensiv an Auguste Wieghardt-Lazar. Ich hatte an die Redaktion der NDL Gedichte geschickt, man verwies mich an die Arbeitsgemeinschaft Junger Autoren in Dresden; übrigens war damals Rudolf Leonhard noch da, den ich aber nicht kennenlernen konnte, vielleicht einmal gesehen habe. Als ich dort vorgelesen hatte, kam es zu einem guten, wichtigen Kontakt zu Auguste Wieghardt-Lazar. Wir trafen uns, sie bemühte sich um das Geschriebene, brachte Bücher, so bis zu ihrem Tod…

Hartinger: Eine wichtige Erscheinung dieser Jahre, das persönliche Aufspüren der Jungen, der Probierenden durch die Älteren…

Czechowski: Ja, das trifft zu, das konnte sie, das war ihre Passion, sie betreute viele junge Autoren – da wuchs eine Solidarität weiter, die aus der Zeit der Illegalität und der Emigration kam –, wußte sie einzuschätzen, sagte es offen…

Hartinger: Wenn wir den biographischen Faden der Literatur- und Traditionserfahrungen noch etwas weiter verfolgen dürfen – nach den Dresdner Jahren kamen die Jahre in Leipzig, am Literaturinstitut…

Czechowski: Und sie brachten natürlich Georg Maurer. Als Lehrer und als Tradition. Ich sage es bewußt einmal so, denn eigentlich existierte für uns, die wir damals seine Schüler waren, Maurer als Lehrer und Maurer als Dichter getrennt. Zum Dichter hatten wir ein reserviertes Verhältnis, wenn auch unterschiedlich temperiert: Salomon anders als Bräunig, ich anders als Bräunig und Salomon; aber es war uns gewissermaßen Bildungslyrik, was Maurer schrieb, wir haben sie damals nicht verstanden. Dabei bleibt genau zu sehen: Vieles von dem, was gegenwärtig eigentlich von Maurer wirkt, war noch nicht geschrieben oder noch unveröffentlicht – und mit den „Zweiundvierzig Sonetten“, „Hochzeit der Meere“ und „Poetische Reise“ kann ich auch heute noch nicht viel anfangen. „Dreistrophenkalender“ oder „Bewußtsein“ waren noch nicht präsent, dann aber, als sie kamen, haben sie jenes Verhältnis entschieden aufgebrochen. Da fanden auch Leute, die sonst intellektuell besondere Ansprüche zu stellen sich bemühten und für die Maurer verspätetes 19. Jahrhundert darstellte, Zugang zu ihm, konnten sich ihm nicht entziehen.

Hartinger: Im Seminar aber trug er wohl eigene Verse nicht vor?

Czechowski: Nein, nie. Aber da beeindruckte uns der Lehrer ohnehin und von vornherein.

Hartinger: Durch seine Lehrmethode, oft hört man es angedeutet. Kannst du sie einmal beschreiben?

Czechowski: Ja, diese Methode war, direkt gesagt, natürlich keine Kathedermethode; es entstand eine lebendige Arbeitsatmosphäre: Maurer saß vor uns, links und rechts von sich zwei hohe Bücherstöße, in die viele Lesezeichen, Zettelchen, hineingesteckt waren, die Brille schief, meist nur ein Bügel auf einem Ohr haftend, der andere hing herunter, die Zigarre, die er sich nicht versagte, die er rauchte, im Unterricht, mit Pinzette… Wenn ich jemals Kleists Formulierung „Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“ begriffen habe, dann in diesem Seminar. Maurer nahm die Gedichte der Kursanten zum Anlaß, und seine Methode war eigentlich, wie in der Kunstgeschichte dominierend, eine vergleichende: Er zog heran, was er in der Lyrik der Welt gefunden hatte, und verglich, wie in ihr diese oder jene Wendung oder Metapher im Vergleich zu dem gerade besprochenen Gedicht realisiert worden war.

Hartinger: Er gab euch damit auch Wertung, Selbst-Wertung, die sicher nicht immer leicht zu tragen war?

Czechowski: Er hat uns Fenster geöffnet, er vor allem, aber auch andere, die sich um uns bemühten, wie Trude Richter, das sehe ich heute schärfer als damals. Er hat uns Fenster geöffnet, und man mußte dann natürlich weitersehen, weiterarbeiten…

Hartinger: Durch solches Vergleichen wart ihr hineingestellt in die große, in die prominente Produktion, das stellte Ansprüche.

Czechowski: Es war natürlich zugleich auch ein Sieb, vieles fiel durch, einiges blieb hängen…

Hartinger: Du hattest uns in einem anderen Gespräch schon einmal erwähnt, daß die Anfangsverse aus dem frühen Text „An der Elbe“ – „Sanft wie Tiere gehen die Berge neben dem Fluß“ – in dieser Weise hängenbleiben durften. Die Begegnung und Zusammenarbeit mit Maurer hält aber, weiter gefaßt, bis zum heutigen Tag an.

Czechowski: Am Institut war es nicht Zusammenarbeit, aber es gab vor Maurers Tod – die Krankheit hatte ihn schon gezeichnet – noch einmal einen jener Neun-Monate-Kurse, an dem auch Wulf Kirsten und ich teilnahmen. Und da haben wir die Seminare in der Menckestraße, in seiner Wohnung, absolviert. Das war anders, war gleichsam eine Integration in Maurers Sphäre. Aber außerdem war ich ja Lektor, betreute einiges mit, Gerhard Wolf leistete hier die Hauptarbeit. Und zu einer wiederum andersartigen Zusammenarbeit kam es, als ich Maurers „Kreise“ und „Essay 1“ für Sinn und Form rezensierte. Darüber sprachen wir, wir sprachen es durch. Dies hätte sich wohl auch fortgesetzt…

Hartinger: Schülerschaft in dem von dir skizzierten Seminarverständnis, dies ist das eine Wesentliche. Wie steht es mit einer Schülerschaft im Sinne einer Maurerschen Tradition?

Czechowski: Solche Schülerschaft, wie etwa in der bildenden Kunst, in der Handschrift, der Technik – das halte ich in der Literatur für problematisch. Wäre es nicht das Ende der Dichtung? Ob ich Gedichte im Maurer-Stil schrieb? Das müßten andere, zum Beispiel ihr, beurteilen. Am ehesten scheint mir dafür vielleicht jenes Gedenk-Gedicht für Georg Maurer zu stehen, mit den Schlußzeilen: „Wenige Malven / Im Garten des Gohliser Schlößchens. / Gottes vergängliche Güte. Keine Versöhnung.“ Das zitiert Tonfall, Haltung, auch ein paar Realien des Maurerschen Lebens.

Hartinger: Geschrieben aus dem Gestus des ehrenden Gedenkens heraus, wollen diese Verse also mehr Maurersche Denk- und Empfindungsweise „nachempfinden“ als die eigene Mitteilungshaltung ausstellen, sie komplettieren, fundieren, motivieren diese gewissermaßen nur. Auch eine andere Affinität sollte ins Gespräch gebracht werden: Woraus erklärt sich die Anziehungskraft Hölderlins für dich? Kontinuierlich in jedem deiner bisherigen Gedichtbände kann man Hölderlin-Gedichten begegnen, immer aber wird anderes über ihn bewegt. Zunächst: Hölderlin – früher Leseeindruck oder erst durch die von Maurer geöffneten Fenster erblickt?

Czechowski: Es mag merkwürdig anmuten, aber den Einstieg zu Hölderlin möchte ich über ein ganz anderes, abwegig erscheinendes Gedicht vollziehen, über Brechts großen Text „An die Nachgeborenen“. Er hat für mich den „modernen“ Hölderlin-Ton. Ich nenne diese Dichtung Brechts, weil sich in ihr mir etwas erschloß von dem, was ich für Hölderlin kenntlich machen möchte: Es gab ja auch eine Faszination, die von Klopstocks Oden rührte, und die für Braun und mich und auch für andere gegeben war. Aber Klopstock, zu dem sich ja Hölderlin eindeutig bekannte, hat einen hohen, einen abstrakten Ton; seine Oden sind, wenn man verkürzt sagen sollte, moralisierend, während Hölderlin die Form seines Ausdrucks auf sein Maß gebracht hat, auf das Individuum Hölderlin, und damit den lyrischen Ausdruck individualisierte. Und hier liegt wohl die Quelle dessen, warum uns Hölderlin heute näher ist. Hinzu kommt das, was wir heute „Engagement“ nennen, das Klopstock sicher auch hat, aber bei ihm bleibt es so hoch getrieben, daß es fast unglaublich für die subjektive, die lyrische Mitteilung wird. Hölderlin dagegen hat sich, und ich will jetzt nicht auf seine Biographie eingehen, über den von ihm entwickelten Sprach- und Sprechmodus die Möglichkeit geschaffen, das Gedicht mit all den von ihm gleich weit gespannten überpersönlichen Belangen und Dimensionen in die individuell wahrhaftige, bei aller Repräsentanz wahrhaftig bleibende Äußerung hinauszuführen.

Hartinger: Produktiv an dieser Traditionslinie deutscher Lyrik ist für dich vor allem die charakteristische Sprechhaltung der Ode, der odenartigen Ausdrucksform?

Czechowski: Ja, denn Anschauung und Abstraktion in ständigem Wechsel charakterisieren seit Klopstock die Ode.

Hartinger: Genau diese Feststellung kann man nachlesen schon in deinem Essay von 1968 für Erich Arendt. Und wenige Zeilen zuvor heißt es:

Der hohe Stil des Gedichts bringt zeitlich und räumlich Entlegenes, subjektive Empfindung und Anschauung zusammen. Damit hat sich Arendt eine poetische Ebene geschaffen, die es ihm ermöglicht, seiner Dichtung eine Diktion zu geben, in der sich die Problemhaftigkeit des Weltanschauungsgedichts mit der Unmittelbarkeit des Erlebnisgedichtes zusammenfindet.

Und einen letzten Satz daraus, er besonders wies mich, in der Formulierung für die erreichte Bild- und Vorstellungsqualität der Arendtschen Flug-Oden, auf ein solches Resultat hin:

Geistige und physische Räume werden in einem strukturellen Zusammengehen von Geschehen durch die Zeit hindurch durchmessen.

Czechowski: Dies ist für Arendt gesagt, aber ich glaube, daß es für das odische Sprechen überhaupt gilt und damit teilweise auch für mein eigenes Sprechen.

Hartinger: Diese wechselseitige Durchdringung von Anschauung und Abstraktion, von konkreter Kennzeichnung der Phänomene und deren Deutung – das also ist ein Arbeitsakt, daran wird gearbeitet?

Czechowski: Ich sage dies jetzt ganz selbst-überzeugt: Meine Chance gegenüber anderen, Freunden und Zeitgenossen, besteht darin, mich vom Gelegenheitsmoment ergreifen zu lassen und dieses Gelegenheitsmoment im Gedicht erhalten und vermitteln zu wollen, auch wenn ich vielleicht, das gebe ich zu, in der „Anstrengung“ hinter anderen zurückbleibe. Nur ich sehe mir diese technisch brillanteren Gebilde durch eine andere Brille an: Schön, aber… Mir sind die schreibtischgemachten Perfektionen nicht sehr sympathisch, und ich sage mir: Nimm die eigenen Mängel weg, mach es besser.

Hartinger: Wichtige Stichworte für diesen Problemkreis sind gefallen. Verfolgt man deine Bände, so kehrt auffällig eine Formulierung, ja fast eine Formel immer wieder. Früh schon, im „Vers ohne Lösung“ heißt es:

Es sitzt mein Freund am Rande eines kleinen Weihers,
Betrachter still die Wolke, die darinnen schwimmt,
Die Möglichkeit erwägend eines kleinen Verses,
Der überein mit dieser Wolke, diesem Weiher,
Und mit dem großen Aufbruch vieler Völker stimmt.

Und im Text „Weltbefragung“, enthalten im Band Schafe und Sterne, fragt das lyrische Subjekt wiederum direkt:

Wie
Soll ich zusammenbringen
Die Landschaft des Dörfchens Rieda
Mit der Fahrt auf den Mond
Und dem lässigen Schuß
Auf den wehrlos gefangnen Vietcong
Allabendlich auf dem Bildschirm?…

Poetologische Probleme, gestalterische Arbeit selbst als Gegenstand des Gedichts – du reflektierst dies anhaltend, weil du, wie vorhin deutlich, die Lotung in der Gelegenheit und nicht, grob gesagt, Dimension, Deutung für sich geben willst?

Czechowski: Die Gelegenheit ist zweifellos die wichtige Sache. Aber unabhängig von ihr arbeitet in uns das Wahrgenommene unentwegt weiter und nach vorn. Die Frage nach dem Zusammenfall von Gelegenheit, gelegentlichem Lebensmoment und übergreifenden, durchgreifenden Zusammenhängen und Prozessen müßte jeden beschäftigen. Inwiefern aber muß sie die Poesie besonders betreffen, den Poeten? Für ihn ist diese Frage insofern von Wichtigkeit, als er nicht Geschichte, sondern Gedichte schreibt, und das Konkrete vorerst gibt ihnen Farbe, Form, Stoff. Man könnte ja auch fortwährend ideell schreiben…

Hartinger: Aber man versagt sich dies…

Czechowski: Ja, indem man es sich versagt – es wäre ja Unsinn, solche rein ideellen Wurmfortsätze zu schaffen, Deutung aus Deutung des Gedeuteten –, zwingt man sich, den konkret-historischen Punkt immer wieder neu anzuschauen, der Anforderung und Aufforderung des Realen, Gelegentlichen sich immer wieder neu zu stellen und so eine Dimensionierung aus der besonderen Betroffenheit zu spannen.

Hartinger: Sie muß zu sehen sein…

Czechowski: Man muß es im Konkreten sehen, es liegt im Konkreten, nur im Konkreten und nur eingeschlossen darin ist es der Poesie zugehörig.

Hartinger: Aber, gesehen und so mitgeteilt, wird ja zugleich auch eingesteuert, wie und was damit gefühlt und verstanden werden soll: Zuständigkeit, Verantwortlichkeit…

Czechowski: Ich glaube, so direkt ist diese Steuerung nicht anzunehmen. Ich versuche, die Fragen, die ich mir selbst für das Wahrgenommene stellen muß, aber nicht selbst beantworten kann, weiterzugeben, zum Weiterdenken, damit der Leser mit diesen Wahrnehmungen und Empfindungen umgehen kann, sie in ihm wiederum Fragen auslösen.

Hartinger: Auch wenn wir damit vielleicht in eine sehr allgemeine, verschwommene Wirkungs-, Funktionsbestimmung künstlerischer Mitteilung geraten – der von dir angedeutete Reflex des Gedichts auf den Leser zielt darauf, daß der einzelne sich in seiner Zuständigkeit dafür, was gelebt werden muß, in seinem Vermögen, was als Mensch lebbar ist, gefühlt, bedacht, bewirkt werden kann und soll und muß, erweitert, daß er gewissermaßen potentiell realisiert, was Menschen zugehörig und bedürftig ist, nicht nur in politischer, sozialer Hinsicht…

Czechowski: Nein, das würde ich auch sofort angreifen…

Hartinger: Sondern in seinem generellen, existentiellen Verständnis von sich selbst. All das könnte ja auch zum Gefühl der Ohnmacht, der Bezugslosigkeit, Deplaziertheit führen. Potenzierung, verstanden als Aufnehmen von mehr Lebensinhalten, -Fragwürdigkeiten und -bedingtheiten, als den einzelnen im engeren persönlichen Umkreis betrifft, wie zugleich als Annehmen der Gegebenheit, daß man da ist, daß man leben, tun, sich beziehen kann. Potenzierung, so gesehen auch als Bescheidung, die aber Ankunft beim eigentlich Menschlichen sein kann.

Czechowski: Ja, das ist natürlich eine sehr wichtige Frage, weil ja der Glaube, der religiöse, welcher auch immer, für diese von uns gemeinte Vermenschlichung nichts mehr tun kann. Es gibt daher eigentlich nur eine Rückwendung zu uns selber, dazu, daß wir also dort und damit etwas für uns selber tun müssen, wo die Dinge in uns noch ein Gefühl von uns auslösen können – ein Staubsauger kann mir keine Empfindung abnötigen, ein Auto auch nicht, sondern jene Dinge, die noch herüberreichen aus den geschichtlichen Räumen und so beitragen zur Haltung der Zuständigkeit, des Betroffenseins –, das ist es ja, was ich unter Vermenschlichung verstehen will. Das scheint mir ein Überwindungsprozeß, und deswegen vielleicht auch das sicher von euch als heikel empfundene, neulich am Telefon gefundene Wort von der „rückwärtsgewandten Hoffnungslosigkeit“, die dann auch wieder (die nicht illusionäre Hoffnung aus Jenseitigkeiten, aus Versprochenem) zur irdischen Hoffnung werden kann, weil diese nur in uns und in den Dingen – die uns betreffen und bewegen – wohnen und von daher kommen kann.

Hartinger: Ja, und auch wenn wir jetzt in Rätseln sprechen: minus mal minus ergibt dann plus. Unmittelbarer auf unsere gegenwärtige Situation in dieser Problematik bezogen: Ist es zu direkt gesehen, wenn wir meinen, daß künstlerische Mitteilung, die sich gleichsam so beauftragt fühlt, in Leerstellen trifft, die sich bei uns im individuellen wie gesellschaftlichen Selbstverständnis durch ausgebliebene Anstrengungen gebildet haben?

Czechowski: In solche Leerstellen zu treffen, das ist ihr Amt auch, Poesie hat dies zu allen Zeiten als das ihre angesehen und wahrgenommen. Es ist auch wichtig insofern, als unsere heutige Existenz einen Kern in sich trägt, den aber die meisten meiden, während andere sich ihm direkt nähern.

Hartinger: Welchen Kern?

Czechowski: Der Kern ist wahrscheinlich die Sinnfrage, diese immerwährende Frage nach dem Sinn unserer Existenz. Und jetzt wird es schwierig: Ich glaube, daß sich die Menschen immer in allen Ungünsten der vorherigen Zeiten und auch deren Dichtung an einem Vanitas-, an einem Eitelkeitsgefühl nährten angesichts der, wie auch immer religiös tabuisierten, Endlichkeit des Todes; daher geht jede Dichtung, die eine Angst mit sich führt, automatisch auf die Todesproblematik zu…

Hartinger: Aber bleibt nicht gerade hierin jener Unterschied zu beachten, daß sie in den uns vorausgegangenen Zeiten noch Trost- und Trugmöglichkeiten hatten, die uns aber in unserer Weltanschauung nicht mehr geboten sind?

Czechowski: Auch die Wissenschaft gibt uns keinen Trost.

Hartinger: Wir haben doch nicht mehr wie im Lebens- und Zeitgefühl des Barock jene Möglichkeit, unsere Ängste und unser Trostbedürfnis ans Jenseits zu delegieren…

Czechowski: Spätbürgerliche Dichter in relativ friedhaltigen Zeiten, etwa vor dem ersten Weltkrieg, in denen es kleinere, begrenzte Konflikte auch massenhaft gab, in denen der Tod aber nicht von Angesicht zu Angesicht gesehen werden mußte, haben es damit wohl auch noch anders gehabt als wir, die wir den Tod, das Sterben ganzer Völker täglich mit Zeitung und Fernsehen ins Haus gebracht kriegen. Rilke konnte den Krieg noch als vaterländisches Ereignis sehen, wenn auch tragisch umwittert. In unserer Kindheit war er unausweichlich, unmittelbar wahrzunehmen, für viele. Heute könnte es sein, daß er angesichts seiner gewohnheitsmäßigen Tatsächlichkeit gleichgültig macht…

Hartinger: Das Problem fächert sich auf. Es kommt doch zu Versäumnissen in der Auseinandersetzung eines jeden auch dadurch, daß der Tod vor allem als Folge politisch und sozial regressiver Kräfte – als Kriegstod, als Foltertod, Hungertod – begriffen wird, zu wenig aber als existentielles, jeden Menschen betreffendes Problem. Und dadurch vielleicht zu sehr nur für die gesellschaftlich-historische Ebene in Betracht gezogen wird…

Czechowski: Ich muß jetzt einwerfen, sonst vergesse ich es: Ich glaube, unser Verhältnis zum Tod ist anders geworden insofern, als wir ihn als planetarisches Problem begriffen haben, und man kann sagen hören, alte Menschen, er würde uns vieles ersparen.

Hartinger: Also, in solchem Verständnis oder Gefühl, daß Zukunft uns durch den Planeten, die Menschheit umgreifende Gefährdungen, wir wissen das Betreffende, abhanden kommen kann…

Czechowski: Das ist genau markiert, und das ist eben unser aller, aller Menschheit gegebenes Problem. Wir kommen ins Uferlose… Die Organisierung des humanen gesellschaftlichen Verkehrs ist aus diesem Grunde dringend geboten, aber sie realisiert sich in vielen, erschreckend andersläufigen Wirkungen. Verliert sich der Zweck im Mittel, baut sich das Mittel als jener selbst auf, verschlingt ihn?

Hartinger: Das scheint uns, viele Einzelprozesse einschließend, das eigentlich zu Bewältigende zu sein, hier, jetzt, an der geschichtlichen Station, an der wir halten, die gesellschaftliche Gesamtaktion muß die Sinnfrage der Existenz betreffen.

Czechowski: Oh, ihr zieht schnell zusammen…

Hartinger: Uns scheint, daß sich die Gedichte der letzten Jahre unaufhörlich ins Prisma dieser Fragen stellen…

Czechowski: Illusionslos…

Hartinger: Ja, illusionslos, sie wissen es von sich, kaschieren oder drapieren nicht, sie setzen nicht die Mittel an die Stelle des Zwecks, des Ziels, wobei allerdings genau gehört und gesehen werden sollte, ob diese Fragen in ihrer geschichtlichen Dialektik im Visier bleiben.

Czechowski: Hier gibt es sicher einen Prozeß innerhalb der Bände zu erkennen – ein Abstreifen von Illusion, von Wunschdenken, von ideologisch flächig überlagerter Vorstellung, ein Annehmen der Existenz, wie sie eben nicht anders ist. Ich glaube, je mehr mir das gelingt, jene von uns angerissene spezifische Situation in das begriffene Bild zu heben, um so deutlicher müßte das Gedicht an Sprache, Haltung, an Form gewinnen, ich sage bewußt: müßte…

Nach einer Tonbandaufzeichnung, März 1981

 

Beiträge zu diesem Buch:

Hannes, Würtz: Die Welt um Halle
Junge Welt, 20.7.1982

Eberhard Haufe: Illusionslos und konsequent. Zu Gedichten von Heinz Czechowski
Thüringer Tageblatt, 12.8.1982

Günter Kunert: Goethe und Hölderlin
Die Zeit, 13.8.1982

Ulrich Schacht: Poetische Für – Sprache
Deutschland Archiv, Heft 7, 1983

 

Heinz Czechowski

Wahrlich ich lebe in sinistren Zeiten, da die Dichter wenig gelten. Vorbei die gute alte schlechte Zeit, während welcher man noch einander Gedichte vorlas, von ihren Worten bewegt oder erregt, zumindest im Einklang, in seelischer Übereinstimmung mit den Sprachgebilden. Und ganz unauffällig fand bei derlei gemeinsamen Unterhaltsamkeiten auch etwas statt, das man mit einem trockenen Begriff „Belehrung“ nennen könnte. Nämlich Belehrung über das wundersame Wesen der Sprache. Zeilen prägten sich einem ein, Verse blieben im Gedächtnis, Intonation und Rhythmus, und weckten damit die Aufmerksamkeit für Genauigkeit, für die Differenziertheit des Ausgesagten. In einem weitaus umfassenderen und auch strengerem Maße forderte die Dichtung, die Lyrik, etwas vom Leser oder Zuhörer, was ihm oftmals die Prosa nicht abverlangte. Nämlich sich um Verständnis für verbale Bilder zu bemühen und ihre Hintergründigkeit, manchmal auch ihr Rätsel zu ergründen. Ich weiß, der heutige, auf Hurtigkeit getrimmte Leser besitzt nicht mehr, was früher kostenlos vorhanden war, und zwar die Muße, um sich mit einem sprachlichen Kunstwerk zu befassen. Alles soll sofort kapiert werden, leicht verstanden, flüchtig aufgenommen, rasch vergessen.
Es sind aber gerade die Gedichte, die uns herausfordern, und wenn wir diese Herausforderung nicht mehr anzunehmen vermögen, erweisen wir uns als geistige Deserteure. Wir weichen angeblichen Schwierigkeiten aus, ohne ihre wahre und wertvolle Bedeutung für unseren Intellekt, für unser Bewußtsein zu erkennen. Gerade die Poesie Heinz Czechowskis gehört zu dem Textkorpus, der mehr verlangt als die Rezeption zwischen zwei Bushaltestellen. Eines seiner kürzeren Gedichte enthält exemplarisch, was ich unter der Essenz solchen Werkes verstehe. Da heißt es: „Jetzt aber bin ich, / Wer du auch willst.“ Und schon diese knappen zwei Zeilen verführen zu beunruhigenden Spekulationen. Meint das, ich wäre nun einer, wie du ihn wünschst? Oder ich bin einer, der du auch sein willst? Die nächste Zeile verweist auf Heidegger: „Ich bin geworfen, / Mensch, der du stillst / deinen Hunger nach Brot und nach Liebe.“ Hört man da nicht den alten Brecht mitschwingen: Erst kommt das Fressen, dann die Moral, denn Liebe und Moral bilden die beiden Seiten einer längst inflationierten Münze. Und weiter: „Stern und Gehirn – Alternative?“ Knapper läßt sich die Frage nach einer möglichen menschlichen Ganzheit kaum stellen. Czechowski fragt ja nicht: Stern oder Gehirn, also Traum oder Intellekt, sondern deutet in dem Zusammenklang beider Eigenschaften durch die Frage eine existentielle Lösung an. Danach jedoch, nach diesen beiden ersten Strophen, verkehrt das Gedicht seine Zielrichtung und endet in erlittener, aber keineswegs weinerlicher Resignation. „Es gäbe vielleicht einen Ausweg, / Der aber hat kein Wort“ was soviel besagt wie: Uns ist nicht zu raten und nicht zu helfen in dem über uns verhängten Schicksal. Und weiter: „Brücke, Fluß oder Steg. / Kein Ort“. Auch hier die Assoziation an Christa Wolfs Günderrode-Roman Kein Ort. Nirgends, und zugleich die Metapher des Überganges, dem wir alle ausgeliefert sind. Die nächsten zwei Zeilen bestätigen und potenzieren diesen Aspekt: „Wir sind gekommen. / Und gehen.“ Das ist eine klare, keineswegs larmoyante Feststellung, nur die Benennung eines Faktums. Doch die zwei letzten Zeilen bilden die Basis, das Resümee des Gedichts: „Wenn wir uns wiedersehen, / Bin ich schon fort.“ Eine nur scheinbar widersprüchliche Formulierung, die im Grunde nichts anderes meint, als daß ich bei erneuter Begegnung nicht mehr derselbe bin.
Nicht ständig derselbe zu sein gehört zu den wesentlichen Erfahrungen Czechowskis, und nicht allein Czechowskis.
Alle jene, die, wie es einst hieß, von Deutschland nach Deutschland gingen, haben solche oder ähnliche Erfahrungen gemacht, und manche sind daran krank geworden, sind gescheitert oder haben im besten Falle, also wie in dem unseres Autors, diese Veränderung, fast eine Umstülpung des eigenen Ichs, literarisch verarbeitet. Und ein weiteres wesentliches Moment bestimmt die Atmosphäre von Czechowskis Werk: die frühe Kenntnisnahme des gewaltsam verursachten Todes. Obwohl erst, und ich muß es hier als der Ältere sagen, obwohl erst 1935 geboren, hat er die Zerstörung Dresdens erlebt, die Leichenberge, die Trümmer, das Grauen einer sterbenden, gestorbenen Stadt. Mit solchen Erlebnissen wird man kaum zum fröhlichen Romantiker. Ich weiß das nur zu genau, denn auch ich habe in Berlin den Bombenkrieg erlebt, die Eroberung der Stadt durch die Rote Armee, und insofern besteht hiermit eine Nähe zu Czechowski und seinen Gedichten, daß ich anfangs wie er mit Euphorie und Schwung mich einer Welt verschrieb, von der ich und er annahmen, sie werde eine friedlichere und humanere sein. Und beiden sind uns im Laufe der Jahre die Illusionen abhanden gekommen. Aus dem „Ersten deutschen Friedensstaat“ wurde ein Gefängnis zweiter Güte, das einem hin und wieder einen Freigang zugestand, jedoch im Prinzip alle seine propagandistisch vorgetragenen Prinzipien verriet. Und es dauerte lange, vielleicht zu lange, bis wir uns dieser Tatsache bewußt wurden.
Der Tod ist ein Meister aus Deutschland, steht in Paul Celans „Todesfuge“, aber er hat auch in Deutschland meisterhaft gewirkt. Unsere Generation, und ich beziehe Czechowski geiselnehmerisch in die meine mit ein, hat sich durch Massen von Wörtern dieses tödlichen Erbes entledigen wollen. Doch das ist uns nicht gelungen. Es gehört zu den grandiosen Irrtümern der Psychologie, daß man durch Erinnern – und alles Schreiben ist ja ein Erinnern – der seelischen Last ledig werde. Genau das Gegenteil ist der Fall. Gerade das in der Kindheit und Jugend Erlebte klebt nicht nur wie eine widerwärtige Substanz an der Psyche, es hat sogar die Tendenz, mit der Zeit zu wachsen, zuzunehmen und den Betroffenen gar zu überwältigen. Ich bin mir sicher, daß Heinz Czechowski keinen einzigen Tag von seiner persönlichen Vergangenheit frei sein konnte. In dem Gedicht „Beobachtungen an einem Sonntagnachmittag“ steht das erschreckende Bekenntnis: „Erinnerungen die wie Messer durch die Brust gehen…“
Durch seine autobiographisch getönten „Gedächtnisübungen“ kommt mir Czechowski wie einer der Poeten aus dem Dreißigjährigen Krieg vor; ein moderner Andreas Gryphius, der nicht anders kann, als auf den gewesenen Horror hinzuweisen. Aber dadurch ist Czechowski auch zum Chronisten seiner Heimat geworden, er hat ihren Untergang erlebt, später in der DDR ihr Dahinsiechen, ihren substantiellen Schwund. Aus der Klage darüber klingt Liebe zum Dahingegangenen, eine Sehnsucht, die unerfüllt bleiben muß und unerfüllt bleiben wird. Die Verluste, die wir hinnehmen mußten, als wir uns noch für jung hielten, sind durch nichts zu kompensieren. Man hat uns, metaphorisch gesprochen, die Haut abgezogen, und nun sind wir etwas überempfindlich geworden gegen die Geister der Zeit, gegen die knallbunten Banalitäten einer Literaturszene, von der nichts bleiben wird als der Wind, den sie gemacht hat.
Czechowski war und ist – und ich halte das für einen Ehrentitel – ein Außenseiter, ein Abweichler, sowohl in seinen, keinem schlechten Zeitgeschmack entsprechenden, Gedichten, Reiseberichten wie auch in seinen Essays und Kritiken. Ich nenne ihn einen mutigen Mann, denn es gehört in dieser etwas sacht verrotteten Republik bereits wieder Mut dazu, nicht im Strom des Konformismus mitzuschwimmen. Ein Aufsatz über einen recht mittelmäßigen Büchner-Preisträger kostet zwar nicht den Kopf, aber die Sympathien sogenannter „Gutmenschen“ und die Förderung durch die kulturelle Filzokratie. Keinesfalls zufällig ist es um die Gesundheit Czechowskis schlecht bestellt; es bedarf eines Übermaßes an innerer Kraft, die eigenen Befürchtungen zu überwinden und dem zu dienen, was man für die Wahrheit hält. Das bringt unangenehme Folgen mit sich. Kein Wunder, daß Czechowski kaum Freunde hat, weil er dem Diktum eines fast vergessenen Dichters gefolgt ist, in dessen Tagebuch der Satz zu finden ist: Freundschaft bedeutet, dem anderen zu sagen, daß er aus dem Munde riecht. Dieser Sentenz ist ihr Erfinder, nämlich Johannes R. Becher, selber nie gefolgt. Czechowski hat sich durch persönliche Beziehungen nie korrumpieren lassen und die berüchtigten Gefälligkeitsrezensionen geschrieben. Wer seine Kritiken liest, wird weder auf Lobeshymnen noch auf solche faktisch leeren Anbiederungen stoßen, wie sie in unserer Gesellschaft des „Do ut des“, des „Gibst du mir, geb’ ich dir“ zum alltäglichen Geschäftsgang gehören. Er ist einer, der das Spiel nicht mitspielt, wohl nicht mitzuspielen vermag. Er gehört zu jenen merkwürdigen Gestalten in der deutschen Literatur, denen der Fürstendienst nicht lag, auch nicht der Dienst für die Fürsten kleinerer literarischer Reiche.
Kennzeichnend für Czechowskis Lyrik ist eine beeindruckende Genauigkeit der Schauplätze, der Interieurs, in denen sich die Dichtung bewegt. Geographie und Gegenständlichkeit verbinden sich zu Bildern, die an Gemälde des 19. Jahrhunderts gemahnen. So liest man in seinem derzeit letzten Band gesammelter Gedichte: „In den schmalen Seitentälern der Saale nahe Wettin / Opfern die Paare hinter verschwiegenen Hecken der Liebe. Vogelmiere, Hasel, wilde Kirsche – Alles steht in Flor. Weißbehäuste Schnecken / Säumen den Pfad, wo an lehmigen Hängen / Muschelkalkstein zu Tage tritt…“ Doch entgegen diesem harmonischen Anfang steht das Bekenntnis:

Etwas Zerschneidendes, Quälendes
Läßt mich nicht los: Auch hier
Ist mein Bewußtsein
Tief in der Geschichte…

Und gleich danach:

Ungeschminkt / Ist die Wahrheit kaum zu ertragen:
Eine perspektivlose Welt,
In der der Tod auf und ab geht…

In unserer wissenschaftsgläubigen und von oberflächlichen Gesinnungen dominierten Gegenwart macht man mit dem Tod literarisch nur gute Geschäfte, wenn man ihn als Reizmittel unter kriminalistischem Aspekt zitiert: Dorthin hat ihn die Gesellschaft abgeschoben, um sich des Bewußtseins der eigenen Sterblichkeit zu entledigen. Wenn dann einer wie Czechowski kommt und mit bitterem Ernst, uns etwas Selbstverständliches zu verkünden, dann reagieren wir allergisch auf solchen Störenfried, weil wir die Wahrheit nicht wahrhaben wollen. Selbst noch im Augenblick des besänftigenden Eingebundenseins in die Natur ist bei diesem Dichter die trostlose Apotheose präsent. Insofern befindet er sich in guter Gesellschaft, nämlich in jener der antiken Autoren, auch der Spätromantiker, wie etwa Lenau, denen der Tod die Voraussetzung für das Dasein gewesen ist. Heute leugnen wir diesen Spannungsbogen: Geboren werden, um zu sterben. Wir wollen vom Tod nichts wissen, sondern das Neueste von der lebensverlängernden Klonerie, von der uns Unsterblichkeit versprochen wird.
Solch Empfinden, solch Denken, in dem sich die permanente Reparaturfähigkeit des Individuums, ausgehend von den zweifelhaften Wundern der Technologie, ausdrückt, ist unzeitgemäß. Ja, Heinz Czechowskis Werk ist wahrlich unzeitgemäß, denn es enthüllt die „Brave New World“, die schöne neue Welt als ein danteskes Inferno. Obgleich wir, er und ich, an unserem schriftstellerischen Beginn unter dem Einfluß einer vorgeblich menschheitsbefreienden Ideologie angetreten sind, mußten wir späterhin, vielleicht gar zu spät, die Schminke als solche wahrnehmen.
So schutzlos, so aller bramabarsierenden Unbill ausgeliefert wie Czechowski war schon lange kein Dichter. Die meisten haben in ihrer sogenannten „Altersweisheit“ Frieden mit ihrer Umwelt gemacht, sind zu Ruhm, Ehrungen und vor allem zu Geld gekommen. Das ist Czechowski mißlungen. Ihm fehlte das Talent zur Anpassung. Aber, und das ist so etwas wie ein miserabler Trost, daß es immer wieder einen solchen Autor auf Erden gibt, einen, der die Bitternis nicht scheut, der die Verzweiflung als Gabe und Gnade annimmt, der kühn genug ist, nirgendwo daheim und behaust zu sein, das beweist, daß wir als Gattung noch nicht zur Gänze normiert sind. Nur wenn man bereit ist, sein christlich gesagt – Kreuz auf sich zu nehmen, wird man etwas schaffen können, das Bestand hat. Wie eben Heinz Czechowski, der mit Selbstironie zu uns spricht:

Was hinter uns liegt,
Wissen wir. Was vor uns liegt,
Wird uns unbekannt bleiben,
Bis wir es
Hinter uns haben.

Soweit das Resümee des Homo sapiens, der sich seiner Zukunftsblindheit bewußt geworden ist.
Daß Czechowski eine ihm seit langem gebührende Ehrung erfährt, läßt hoffen, daß seinem Werk die notwendige Verbreitung zuteil wird. Deutschland hat zwar viele Dichter und Dichterlinge, aber kaum einen so lauteren wie diesen.

Günter Kunert, aus: Günter Kunert: Das letzte Wort hat keiner, Wallstein Verlag, 2009

 

CZECHOWSKI

Du hast den Sommer nicht getrunken
Als Sommer war
Warst du zu alt
Und kalt (Schnee in der Retorte)
Soviel Worte
Schlaf mal auf dem Asphalt.

Inge Müller

 

SPAZIERGANG
Für Heinz Czechowski

An einem Abend im Herbst
geh ich mit Czecho, der nicht zu den Siegern, der
zu den Überlebenden zählt, durch die dunklen Ränder
von Leipzig, durch die Sümpfe, in denen
berittene Helden versinken, vertieft
ins Selbstgespräch der Geschichte.

Zwei Schatten am goldenen Vorhang
mitten durch Deutschland, wir sind
ein Fußvolk, Avantgarde
am Ölberg, darin noch Wörter
sich umdrehn, Mauern, geborsten
im Krieg, im Frieden
geschleift.

Überall ist
was wir meinen, wir haben
auf Vorrat getrauert.

Werner Söllner

 

 

Zum 70. Geburtstag des Autors:

Jens Bisky: Vom Nichts begleitet
Süddeutsche Zeitung, 7.2.2005

Beatrix Langner: Schreiben im eigenen Schatten
Neue Zürcher Zeitung, 7.2.2005

Hans-Dieter Schütt: Rückwende
Neues Deutschland, 7.2.2005

Fakten und Vermutungen zum AutorIMDbKLG + Archiv +
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Nachrufe auf Heinz Czechowski: Die Welt ✝ poetenladen ✝
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Bild von Juliane Duda mit den Übermalungen von C.M.P. Schleime und den Texten von Andreas Koziol aus seinem Bestiarium Literaricum. Hier „Der Czechowski“.

 

Beitragsbild von Juliane Duda zu Richard Pietraß: Dichterleben – Heinz Czechowski

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