Helmuth Kiesel: Zu Gottfried Benns Gedicht „Nur zwei Dinge“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

− Zu Gottfried Benns Gedicht „Nur zwei Dinge“ aus dem Gedichtband Gottfried Benn: Sämtliche Gedichte. −

 

 

 

 

GOTTFRIED BENN

Nur zwei Dinge

Durch so viel Formen geschritten,
durch Ich und Wir und Du,
doch alles blieb erlitten
durch die ewige Frage: wozu?

Das ist eine Kinderfrage.
Dir wurde erst spät bewußt,
es gibt nur eines: ertrage
− ob Sinn, ob Sucht, ob Sage −
dein fernbestimmtes: Du mußt.

Ob Rosen, ob Schnee, ob Meere,
was alles erblühte, verblich,
es gibt nur zwei Dinge: die Leere
und das gezeichnete Ich.

 

 

Reim als Botschaft

Das Gedicht „Nur zwei Dinge“ wurde erstmals 1953 in der Neuen Zeitung veröffentlicht. Es gehört also zu Benns späten Gedichten. Aber auch wenn man dies nicht wüßte, sähe man, daß es sich um ein Gedicht eines älteren, erfahrenen, man kann ruhig auch sagen: gereiften Menschen handelt. Dazuhin um das Gedicht eines vollendeten Virtuosen, dem die Kunst so sehr zur zweiten Natur geworden ist, daß die Metrik und die Reime seines Gedichts völlig mühelos und wie selbstverständlich wirken. Dabei schrieb er in einer Zeit, in welcher der Reim durch die unheilvolle geschichtliche Erfahrung gründlich diskreditiert war, und was er zu sagen hatte, hätte vermutlich die meisten seiner Dichterkollegen bewogen, vor allem auf den Reim zu verzichten.
Der da spricht, blickt auf ein Leben zurück, das offensichtlich ein durch viele „Formen“ wie Individualismus, Kollektivismus und Partnerschaftlichkeit führender Versuch war, Erfüllung zu finden und eine Antwort auf die Frage nach dem Sinn dieses Treibens zu erlangen. Doch eben diese unabweisbar scheinende Frage ließ das Leben zu einem andauernden Leiden werden, das im Rückblick auch noch als unnötig oder zumindest als unnötig groß erscheint. Denn es resultiert aus einer Frage, die zwar unabweisbar oder „ewig“ und mithin unbeantwortbar zu sein scheint, nun aber, wenn auch „spät“, als eine „Kinderfrage“ erkannt ist −: als eine Frage, welche die Menschen nur bis zu einem gewissen Alter umtreiben und peinigen darf, danach durch die Einsicht neutralisiert sein sollte, daß die Antwort auf sie darin besteht, daß es eine sichere und befriedigende Antwort nicht gibt. In diesem Sinn hat Benn am 17. Februar 1949 an seinen vertrauten Briefpartner F.W. Oelze geschrieben, es entspreche der Erfahrung und Einsicht eines bewußt modernen Intellekts, daß er „nicht nach den letzten Dingen fragt, er wird schon mit den vorletzten nicht fertig“. Was ihm bleibt, ist die Ungewißheit eines letzten Sinns, diese „Leere“, wie es am Ende des Gedichts heißt, als unaufhebbares Schicksal ohne Jammer „männlich“ zu „ertragen“, wie es vor Benn schon der nüchternste Diagnostiker der modernen Erkenntnissituation, Max Weber, in der berühmten Rede „Wissenschaft als Beruf“ verlangt hat. Benn hat diese Maxime buchstäblich zum Zentrum seines poetischen Lebensberichts gemacht: Das „ertrage“ beschließt sehr pointierend jene siebte Zeile, die in dem insgesamt dreizehnzeiligen Gedicht eine Art Symmetrieachse und Gravitationszentrum bildet.
Für dieses erkenntnismäßig und lebenspraktisch desillusionierende Fazit scheinen Metrik und Reime, die gleichermaßen eingängig wirken, zunächst einmal ein Mittel der Milderung und Bekömmlichmachung zu sein. Als solches hat man den Reim gerade in jenen Jahren vorzugsweise betrachtet und verworfen. Darüber sollte man aber nicht vergessen, was der Reim zuvor ist: Ausdruck des Versuchs, etwas schön zu sagen, um in dem, was gesagt wird, Schönheit zur Erscheinung kommen zu lassen. Schönheit aber ist, wie Stendhal gesagt hat, „une promesse de bonheur“: eine Verheißung von Glück und Erfüllung. So könnte es sein, daß dieses Gedicht neben der desillusionierenden Erkenntnis, die es wörtlich mitteilt, unausgesprochen noch eine zweite, anders lautende und konkurrierende Botschaft hat. Sie läge in der Gereimtheit, die der Nüchternheit und Härte der Worte widerspricht, und wäre vielleicht die eigentliche Botschaft des Künstlers. Gottfried Benn hat dieses Gedicht in der letzten von ihm selbst mitgestalteten Ausgabe seiner Gedichte vor den „Epilog“ an die vorletzte Position gestellt. Es gehört zu seinem poetischen Testament.

Helmuth Kiesel aus: Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): 1400 Deutsche Gedichte und ihre Interpretationen. Von Gottfried Benn bis Nelly Sachs. Insel Verlag, 2002

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