Ioan Flora: Die Donau – leicht ansteigend

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Ioan Flora: Die Donau – leicht ansteigend

Flora-Die Donau – leicht ansteigend

DIE HEITERKEIT DER RUMÄNISCHEN SPRACHE

Mit der Hand streiche ich
aaaaaüber die durchfurchte Zimmerdecke
aaaaaund versuche,
die lebendig-rötlichen Planeten
zu lösen,
die zylindrisch da oben schweben und
die wir im Herbst und im Winter Motten nennen,
die nichts wissen von Gravitation und luftleeren Raum
und die nicht den geringsten Knacks hören lassen,
wenn wir sie zwischen den Fingern zerdrücken.

Mit der Hand streiche ich
aaaaaüber meine starre Zunge im Mund,
sie ist rau,
bloß rau, nicht aber feucht und
mir scheint es, dass mein Gemurmel
einfach die Heiterkeit der rumänischen Sprache anruft.
Seit Jahrhunderten ist es so, als ob ich
die gleichen Klöster und Städte aufrichte und
provisorisch auch atme.

Aus dem Rumänischen von Horst Fassel

 

 

 

Nachwort

Rumänien betrachtet sich oft als ein kleines Land, aber es verfügt über eine Fläche, die viele andere europäische Länder nicht aufweisen und ist mit 21 Millionen Einwohnern sicherlich wenigstens ein mittelgroßes Land in Europa. Was nachwirkt, ist eine für die Rumänen selbst lange Zeit über wenig günstige Geschichte. Wohl gab es im Mittelalter drei Fürstentümer mit einer mehrheitlich rumänischen Bevölkerung, aber bloß die Moldau und die Walachei waren rumänische Staaten, die als Schutzschild der Christenheit vor den Türken galten, während Siebenbürgen mal zum Königreich Ungarn gehörte, mal vom 16. bis zum Ende des 17. Jahrhunderts ein selbstständiges Fürstentum war, in welchem aber die mehrheitlichen Rumänen keine politischen Rechte besaßen. Im Ständestaat Siebenbürgen regierten die Stände der Ungarn, Szekler und Siebenbürger Sachsen. 1812 büßte die Moldau ihre östliche Hälfte ein: sie wurde von Russland besetzt und war als Bessarabien Teil des Zarenreichs. Zuvor war ein Teil der nördlichen Moldau von Österreich annektiert worden: als Bukowina hat es seinen festen Platz in der europäischen Erinnerung eingenommen. Das Banat, in dem ebenfalls eine rumänische Mehrheitsbevölkerung lebte, war Teil des Königreichs Ungarn. Erst 1859 wurden die Moldau und Walachei, zuvor Vasallenstaaten des Osmanischen Reichs, vereint, erst 1878 wurde das Fürstentum (ab 1881: Königreich) Rumänien selbstständig. Ein Intermezzo hatte es 1599 gegeben, als Michael der Tapfere durch militärische Erfolge die Fürstentümer Moldau, Walachei und Siebenbürgen – allerdings nur für kurze Zeit – vereinigte. Erst nach dem Ende des Ersten Weltkriegs wurden endlich die meisten Gebiete mit rumänischer Mehrheitsbevölkerung zur konstitutionellen Monarchie Rumänien zusammengeschlossen. In dem Vielvölkertiegel Südosteuropa lebten aber auch außerhalb Rumäniens rumänische Minderheitengruppen, nicht allein südlich der Donau, wo es die Aromunen, die Mazedorumänen, die Megleniten gab, sondern ebenso in den beiden 1920 losgetrennten Teilen des Banats: in Ungarn und in Jugoslawien. Das Banat, der südwestliche Teil Rumäniens war nach dem Weltkrieg in drei Teile zerschnitten worden: zwei Drittel wurden Rumänien zugeschlagen, fast ein Drittel Jugoslawien, ein winziger Zipfel mit wenigen Dörfern Ungarn. Außerhalb Rumäniens leben heute – nach vielleicht zu optimistischen Schützungen – zirka 35 Millionen Rumänen oder ehemalige Einwohner Rumäniens (in Israel waren die Immigranten aus Rumänien nach denjenigen aus Polen die zweitgrößte Gruppe, und in der Bundesrepublik Deutschland leben neben der ethnischen Minderheit der Rumänen zirka 400.000 ehemalige Rumäniendeutsche (Siebenbürger Sachsen, Banater und Sathmarer Schwaben, Buchenland- und Dobrudschadeutsche). Die Auslandsrumänen sind literarisch sehr aktiv. Allein in und um Stuttgart sind Dutzende rumänischer Schriftsteller in deutscher und rumänischer Sprache nachweisbar, und im serbischen Banat gab und gibt es eine sehr aktive Gruppe, die nach 1953 die besten Beziehungen zu den Schriftstellerkollegen in Rumänien, speziell zu denjenigen im rumänischen Banat unterhielt. Nicht bloß die Poesietage in Struga festigten die gemeinsamen Interessen und Projekte, auch persönliche Beziehungen konnten geknüpft werden, und in Rumänien wurden die Autoren aus der Vojvodina (sie schließt das serbische Banat ein) ebenso publiziert, wie Dichter aus Rumänien in rumänischer und serbischer Sprache im jugoslawischen Bruderland beachtet und veröffentlicht wurden.
Ioan Flora ist einer dieser Dichter, deren Muttersprache Rumänisch ist, der aber gleichzeitig die südslawischen Sprachen und Kulturen, allen voran die serbische bestens kennt und sich auf deren Traditionen ebenso berufen kann wie auf die seiner eigenen, rumänischen Landsleute. Im Unterschied zu den Siebenbürger Rumänen, die vor 1918 die Karpaten überquerten, um in den rumänischen Fürstentümern ihre Sprache sprechen und in ihr schreiben zu dürfen, konnte Flora von Anfang an im serbischen Banat seine rumänische Muttersprache erlernen und in Wort und Schrift pflegen. Er war auch nicht wie Eugen Ionesco oder Emil Cioran gezwungen, sich an die Feinheiten einer anderen Sprache (im Beispielfall: ans Französische) anzupassen, sondern er entwickelte seine poetischen Vorstellungen ungehindert ausschließlich in seiner Muttersprache. Was allerdings für ihn und andere Auslandsrumänen gilt: sie sprechen zwar die Sprache ihrer Vorfahren, meist ist dies jedoch ein rumänischer Dialekt, der nicht deckungsgleich ist mit der Schriftsprache, die in Rumänien selbst gilt und lebt. Um zu vermeiden, dass er ein Regionalautor bleibt, hat Flora von früh auf die rumänische Standardsprache erlernt und benützt. Das hat für ihn den Vorteil gehabt, dass er – von anderen Voraussetzungen ausgehend wie seine Freunde und Kollegen in Rumänien – bei der „Wiederentdeckung“ der rumänischen Literatursprache sehr sensibel auf neue, unentdeckte Möglichkeiten dieser Sprache achtete, neue Ausdrucksvarianten fand, die für andere ungewöhnlich, aber einprägsam und verständlich waren. Es war, als ob er einen Neubeginn versucht hätte, und diese Frische zeichnet auch seine Verse aus. Dies fällt dem rumänischen Leser auf. Der deutsche Leser kann die kleinen Ungereimtheiten des Auslandsrumänischen in der Übersetzung nicht mehr wiederfinden, im Original fallen sie dann auf, wenn man Floras Sprache mit der seiner in Rumänien lebenden Zeitgenossen vergleicht. Dann wird aber auch die individuelle, kreative Komponente seines Sprachdenkens nachvollziehbar, die die Lektüre zum Erlebnis werden lässt. Es fällt auf, dass das Imaginäre und Metaphysische bei Flora oft durch die unmittelbare, greifbare Wirklichkeit, durch sichtbare und ertastbare Konkretheit ersetzt wird, die mitunter an eine epische Bestandsaufnahme erinnert, sich dann aber Metaphern öffnet, die so überraschend wie ungewöhnlich sind. Vergangene Berühmtheiten und Ereignisse werden ebenso wie Vorkommnisse aus dem Jetzt und Heute Quellen der Anregung von Aussagen und Schlussfolgerungen. Das bunte Nebeneinander lässt zunächst den Dichter, dann den Leser staunen, und die abrupten Übergänge, die Kontroversen, die unmissverständlich und unumgänglich erscheinen, zeugen von einer Dynamik und Dramatik, die der Miterlebende in vollen Zügen genießt. Der Zeitgenosse und Kenner der rumänischen Literatur, Gheorghe Craciun hält fest:

… alles wird Geschichte, einschließlich die Gefühlszustände des Ichs, aber gleichzeitig auch Kulturgeographie, mehr noch: historisierte und symbolische Wirklichkeit. Es stimmt nicht, dass die Geschichte eben erst entdeckt wird. Sie wird jetzt nur zur Dominante in einem Prozess der Anamnese, der Gefühlsbezogenheit, die uns nicht bloß an Kavafis denken lässt, sondern ebenso an Danilo Kiš, Kusniewicz und Michel Foucault mit seinem Verzeichnissen der Folterwerkzeuge, mit deren Hilfe Staaten, Gesetze, individuelle Freiheitsrechte in der modernen Welt entstanden sind.

Der Herausgabe dieses Bandes werden weitere Titel folgen, die dem deutschen Leser die Werke rumänischer Autoren bekannt machen sollen. Es handelt sich dabei um Vertreter einer Kultur, die ohne Vorurteile und ohne Zurückhaltung den Dialog mit ihren Zeitgenossen suchen, wie dies zuvor Tristan Tzara, Constantin Brâncusi, Eugen Ionesco, Emil Cioran oder Mircea Eliade getan hatten. Wir eröffnen keine spezielle Rumänien-Reihe, weil wir der Meinung sind, dass die Werke der rumänischen Autoren das fortsetzen, was wir bisher mit deutschen, französischen und anderen Verfassern begonnen haben – einen europäischen Dialog mit gleichberechtigten Partnern.

Kritikerstimmen

(…) Es gibt vier bedeutende rumänische Dichter der Postmoderne (sie sind ironisch, anzüglich und parodieren), Verfasser von „fragmentarischen“ Epen, die für den südosteuropäischen Raum symptomatisch sind: Mircea Cãrtãrescu mit seinem Buch Levante, Emilian Galaicu-Pãun mit seinem Der Geschlagene schleppt den Sieger herum, Ion Muresan mit Buch über den Winter und Ioan Flora mit Eine junge Eule auf dem Sterbebett. Der erste dieser Dichter kann mit dem deformierenden Genie eines Caragiale oder Eugen Ionesco verglichen werden, beides rumänische Autoren aus dem Süden des Landes, Galaicu-Pãun evoziert Bessarabien mit seinem Leiden und Hoffen und seiner Berührung mit dem slawischen Raum, Ion Muresan setzt die Tradition des nördlichen Rumänien fort, und Ioan Flora ist der barocke Banater Dichter und Denker, den der magische Realismus und die Alchemie fasziniere. Man kann ihn am besten in der Nachbarschaft der südamerikanischen Erzähler betrachten, der Vitalisten, der Phantasten, die aus einer trivialen Wirklichkeit eine imaginäre Welt erschaffen. Mit den Künstlern des Ostens hat er weniger Gemeinsamkeiten. Ioan Flora ist ein Inbegriff für die rumänische Lyrik, ebenso für die mehrsprachige ethnische Kontaktzone der Vojvodina.
Cornel Ungureanu

Eine Poesie mit integralem, schwarzem Sarkasmus, einfach unnachahmlich.
Adrian Marino

In einem imaginären Lehrbuch der modernen Zeit würde auch eine erstaunlich große Zahl von Rumänen ihren Platz finden. Unabhängig davon, um welches Sachgebiet es sich handelt – um Philosophie, Anthropologie, Theater, Bildhauerei Literatur oder Musik –, wir werden ihre Namen im Zusammenhang mit einer neuen Richtung, mit neuen Forschungsgebieten, neuen Strömungen und Manifesten antreffen, und zwar immer an entscheidenden Wendepunkten, die Aufbrüche einleiten.
(…) Sie lebten in der Diaspora, und manche von ihnen wurden von der französischen Kultur unter ihre Fittiche genommen: Tristan Tzara, Panait Istrati, Eugen Ionescu, Emil Cioran, Mircea Eliade und Constantin Brâncusi. Andere hatten die schwierige Aufgabe zu lösen, in ihrer kleinen Sprache zu schreiben, sich als große Namen auszuweisen und ihrem eigenen Volk Anerkennung zu verschaffen. Dies gelang beispielsweise Mihai Eminescu, Lucian Blaga, Tudor Arghezi, Nichita Stanescu, die heute kein Europäer mehr oberflächlich als Schriftsteller aus einem vergessenen Land zu rezipieren vermag. Sie gehören nämlich zur Plejade der schreibenden Virtuosen, die berufen und auserwähle sind und in deren Licht man schon neue, selbstständige Sternbilder zu entdecken vermag.
Einer von ihnen hat seine eigene Poetik in den Versen zusammengefasst:

Ein Dichter hat seinem Körper Verse abgerungen.
Ein Dichter hat Rumänisch geschrieben.

Es handele sich um Ioan Flora, geboren 1950 im Banat. Als Vierzigjähriger hat er seine Verse in einem Sammelband veröffentlicht: Der Verrat der Metapher.
(…) Floras Werk ist letztendlich ein Bekenntnis dafür, dass die dichterische Freiheit errungen wurde, eine Neubewertung von Ciorans Behauptung:

Es gibt keine Rechtfertigung für den schöpferischen Instinkt, für die vernichtende Aggressivität, welche die Welt verschlingt.

Der schöpferische Instinkt von Ioan Flora schärft sich auf der Suche nach Details, der nützlichen Fragmente, die seine kaleidoskopischen, objektivierten Konstrukte verkörpern.
(…) Seine Dichtung zielt gleichermaßen auf kosmogonische wie auf politische Zusammenhänge ab und baut sowohl Zitate aus dem Dekalog als auch von Plakatwänden ein.
Sein Vermögen zur Metaphernbildung ist erstaunlich, vor allem dann, wenn er die Trennlinie zwischen magischer und pragmatischer Sicht auf Mensch, Natur, Leben und Tod überschreitet.
Bozica Jelusic

Unabhängig davon, welche Richtung der Dichter später einschlagen wird – wir dürfen nicht vergessen, auf seine schöpferischen Kräfte hinzuweisen, auf seine Leidenschaft als Entdecker, seine Neigung zu Überraschungen, seine Lust am Wechsel seiner Physionomie und auch nicht auf sein Alter: er nähert sich immer mehr der Reifezeit –: Ioan Flora ist heute schon eine unübersehbare poetische Größe ersten Ranges in unserem literarischen Raum, im rumänischen und balkanischen Kulturraum.
Srba Igniatovic

Ioan Floras Dichtung bewegt sich mit Nonchalance mitten durch alle europäischen Räume, durch balkanische, mitteleuropäische, rumänische, französische oder schwedische. Sein Elan beabsichtigt, alles zu umfassen und die universellen Wiederholungen zu berühren, und das alles hat nichts mit einer Blutarmut des Diskurses zu tun, die auf zu große Eitelkeit oder auf übersteigerte Reformabsichten zurückgeht, wie bei einigen Autoren in einen bestimmten Alter, die bemüht sind, neue Worte und Bedeutungen hervorzubringen (die Resemantisierung wird zu ihrem zweiten Ich). Flora beobachtet seinen eigenen Körper und dessen Erschütterungen aufmerksam, er ist taub gegenüber jeglicher spektakulärer Sentimentalität des lyrischen Bezeichnens, besetzt immer zielstrebiger die Leerräume der Bedeutungen und erlebt immer häufiger das bittere Fazit seiner Erkundungen im Unterbewussten und in der Geschichte. Ioan Flora ist einer der bedeutendsten lebenden rumänischen Dichter.
Gheorghe Crãciun

 

Fakten und Vermutungen zum Autor

 

Ioan Flora liest in der Reihe Rumänische Dichter 2001.

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