Jan Skácel: Poesiealbum 325

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Jan Skácel: Poesiealbum 325

Skácel/Franta-Poesiealbum 325

REDE

Immer gibt es das irgendwo
mein alter dichter
Zumindest bekennen wir uns noch dazu
Und heute ist es hier
in Kunstát1 auf dem friedhof
den Sie sich auserkoren haben

Und herbst ist’s mit allen trompeten
irgendein jahrestag ist

und nasse aufgeräumte felder gibt’s
und vögel
die hier überwintern
Und auch wir sind hier

Und mit solchen befürchtungen

Aber keine angst
jener deren muse nicht betteln geht von tür zu tür
sind schon einige hier bei uns
die auch den kopf hinhalten
ehe sie für immer verstummen
wenn sie schon das wissen

Und Sie fehlen uns sehr mein herr
Und glauben Sie
wenn Sie wissen wollten
was aus uns geworden ist
wenn es möglich wäre daß Sie’s wissen wollten
würden wir mit Ihren worten sagen
unglücklich glückliche

Es ist schrecklich
wie Sie das alles allein gesagt haben
wie Sie das für uns gesagt haben
So schrecklich und unbarmherzig
enthoben Sie uns des wortes

Sie sagten das gedicht das NIRGENDS heißt
und ich werde Ihnen nur hier widersprechen
in Kunštát auf dem friedhof
Ich werde nicht das wappen tragen des wortes NICHTS

Immer gibt es das irgendwo
mein alter dichter
Und herbst ist’s mit allen trompeten
irgendein jahrestag ist
und nasse aufgeräumte felder gibt’s
und vögel
die hier überwintern
Und auch wir sind hier

Wir sind nicht abgefallen
auch wenn wir fast betteln gingen

 

 

 

Stimmen zum Autor

Die Empfindung beim Lesen von Jan Skácels Gedichten ist wie die von wärmendem Sommergras unter den bloßen Sohlen. So beruhigend, begütigend, erdend wirken seine Gedichte. Die meisten sind, mag das Wort auch fehlen, Liebesgedichte. Sie sind allesamt unterkellert von Musik. Gedichte, die jeweils zugleich Erzählungen sind.
Peter Handke

Skácel ist ein hellsichtiger, bildkräftiger Poet. Er hat die äußerste Verkürzung von abstrakter und konkreter Wirklichkeit erreicht und blickt zufrieden wie ein Kormoran; mehr nicht, mehr gibt es nicht. Mehr muß denn auch nicht sein…
Helmuth de Haas

Sein satirischer Scharfblick ist von verblüffender Frische und nimmt sein jeweiliges Thema, das zwischen den Zeilen gegen die Regierenden schießt, immer auch so ernst, daß ihnen eine gewisse Zeitlosigkeit gewiß ist.
Daniel Bayerstorfer

Skácel ist ein großer Finder, nicht Erfinder, er holt etwas in seine Lyrik hinein, was in der Sprache schon seit Jahrhunderten oder vielleicht Jahrtausenden vorhanden war, etwas, was die Sprache selbst dichtete.
Roman Kopřiva

Die Schilderungen von Skácel und dessen Nekrolog auf František Halas sind berührend und in dieser Form sicher kaum anderswo zu lesen.
Peter Huchel

Seine Art zu gehen und im Gehen den Blick zum Boden gesenkt zu halten, als würde er die Landschaft gleichsam von Grund auf… vom Erdboden her einlesen, um sie später in der Kneipe oder daheim in der Küche in seinem Heft niederzuschreiben. Sein feiner Humor und subtile Melancholie imprägniert unverwechselbar einen Großteil seiner Lyrik.
Felix Philipp Ingold

Wenn ich überhaupt begriffen haben sollte, was Poesie ist, verdanke ich es tatsächlich vor allem den Autoren des tschechischen Poetismus und Jan Skácel.
Reiner Kunze

MärkischerVerlag Wilhelmshorst, Klappentext, 2016

Skácels Gedichte

sind formenreich und voller Bilder. Wie seine Vorbilder Huchel und Trakl läßt er die Natur für die Hoffnungen und Befürchtungen der Menschen sprechen; das macht die Gedichte so leicht und zugleich so geheimnisvoll. Die Lyrik des mährischen Dichters geht vom Einfachsten aus und frönt doch wichtigen Themen: die verfliegende Zeit, eine Urangst vor dem Tod und eine immer weiter umsichgreifende Sprachlosigkeit.

MärkischerVerlag Wilhelmshorst, Klappentext, 2016

Jan Skácel

„Einer der ganz großen europäischen Dichter des 20. Jahrhunderts, kongenial übersetzt und in Deutschland bekannt gemacht durch Reiner Kunze“, lobt das Feuilleton. Kunze hat bei Auswahl und Nachdichtung die Empfindungen des Mähren Skácel, dessen Vorbilder Trakl und Huchel waren, feinfühlig aufgenommen. So ist eine Sammlung berührender Gedichte entstanden.

Aus Andreas Altmann: Poesiealbum 324, MärkischerVerlag Wilhelmshorst, 2016 

 

Zu Hause das Salz

Manchmal scheint es, als kehrten die Dichter nicht mehr zurück. Denn der Lärm hat wahrlich über jenes Wort gesiegt, das manisch erregbaren Seelen entstieg; die Naturgewalt des gesteigerten Tons kommt längst nicht mehr an gegen das Kommunikationsschnurren der Geschäftsviertel. Ja, die Dichter kehren nicht mehr zurück, und doch haben sie, was zu stiften war, auf Dauer gestiftet. Auch jedes Gedicht von Jan Skácel, und sei es noch so traurig, erzählt die Attraktion des gekonnten Glücks – bei dem das Lebenkönnen über das Lebenmüssen hinausgeht. So kommt Spiel in den Lastcharakter der Existenz. Schönes Paradoxon, gerade dort, wo die Warnung vor den schlimmen Wendungen Stimme wird: Poesie hat den tiefen Ernst der großen Erleichterung, denn schon der geformte Ausdruck des Leides, der dunklen Vorahnungen dämpft doch den Schmerz. Ist schwebendes Flüstern von Schönheit. Auch wenn es die Schönheit eines Dämons ist.
Diesem Dichter, einem der großen europäischen Poeten, war Schreiben nie das Instrument, um eine Welt zu überfliegen, nein, die Seele als Weltwaage senkt sich tief, da in diese Waage die unumgänglichen, unüberfliegbaren Dinge hineinverlegt werden. Wir sind zurückversetzt in die Unmittelbarkeit von Wahrnehmung und Anschauung. Das Unheimliche zeigt sich, die Angst ist gegenwärtig, das Böse geht mit dem Guten Hand in Hand.

Liefre ich euch alle meine teufel aus
verlassen mich mit ihnen meine engel

Aber: Stille, Vogelsang, der Regen, das Kälbchen und die Mitte des Sommers – dies alles ist wie ein Zaudern, das um die Revision handelsüblicher Verhaltensweisen ersucht. Dieses Zaudern, diese schmerzvolle Staunen geht barfuß, und an den Schulwegen liebt es die Umwege.

Nun ist aber die Welt bekanntlich ungemein mannigfaltig, was jederzeit nachzuprüfen ist, indem man eine Handvoll Welt nimmt und sie näher ansieht.
Frank Kafka.

Genau dies tat Jan Skácel: nimmt eine Handvoll Welt und schaut sie näher an. Der Dichter, geboren 1922 in Znorovy, gestorben 1989 in Brno, gehörte zu den Opfern des niedergeworfenen Prager Frühlings durch Moskaus Panzer. Dreizehn Jahre Publikationsverbot. Das Wichtigste beim Dennoch, beim Weiterschreiben also, blieb ihm die Kraft, sich seine Schutzlosigkeit zu bewahren. Dieses Poesiealbum bekräftigt auch jene wunderbare Einfühlung ins Mährische, mit der es Reiner Kunze gelungen ist, Skácel in die deutsche Sprache hinüberzugeleiten. Das hat kristalline Härte und Schmelz, hat robuste Kindlichkeit und unsicherheitsfreudige Weisheit.
Von der „naturkunde der verluste“ schreibt der sanfte Tscheche, das ist in seiner bitteren Unausweichlichkeit aber auch die würdige Einschmelzung der zerrissenen, trostlosen Subjektivität in den Vollzug eines wunderbaren Kunstwerkes. Du spürst im Vers die Einwohnung eines mutig zarten Geistes.

Mit einemmal entsann ich mich,
wo wir zu hause das salz haben.

Hans-Dieter Schütt, neues deutschland, 7.12.2016

Mährische Bilderwelten

Die Lyrikreihe Poesiealbum widmet dem Schriftsteller Jan Skácel eine Ausgabe mit Nachdichtungen von Reiner Kunze. –

Jan Skácel (1922–2989) gehört neben Valdimír Holan, Vítězslav Nezval und Jaroslav Seifert zu den großen Namen der modernen tschechischen Lyrik. In den sechziger Jahren veröffentlichte Skácel in seiner Heimat mehrere Gedichtbände und machte sich mit seinen ironischen wie auch nachdenklichen Feuilletons einen Namen. Als Chefredakteur der tschechoslowakischen Literaturzeitschrift Host do domu (Gast ins Haus) sorgte er dafür, dass sich in Zeiten von Ausgrenzung und ideologischen Mauern wenigstens auf intellektuellem Wege die Türen zur Welt öffneten.
Auf den ersten, oberflächlichen Blick mögen Skácels Gedichte mit ihren Motiven einer ländlichen Welt irritieren. Zugleich geht von den starken Metaphern ein nahezu unmerklicher Sog aus. Skácels Bild und Gedankenwelt ist von der Gewissheit gekennzeichnet, dass die Fähigkeit der menschlichen Wahrnehmung begrenzt sind. Geheimnisse hatte Skácel nicht als intellektuelle Niederlage empfunden, sondern ganz im Gegenteil als notwendigen Bestandteil des menschlichen Lebens schlechthin. Im Gedicht „Trauern“ spricht er über die unausbleibliche Sterblichkeit und kommt zu einem unvermuteten Ergebnis:

haben wir den mut
nach der angst zu fassen wie auch einer klinke und einzutreten.

Neben Melancholie und Nachdenklichkeit beherrschen die Natur sowie ihre Farben und Gerüche Skácels Verse. Zugleich weiß der Dichter von der Unergründlichkeit der Liebe zwischen zwei Menschen, wenn er schreibt

Handbreit voneinander liegen wir im blinden.

Das Rätsel des menschlichen Seins entfaltet sich in einem unspektakulären Spannungsbogen. Es geht dabei um Ahnungen, Begegnungen und Erlebnisse, die das Innerste anrühren, ohne sich auf einen rationalen Nenner reduzieren zu lassen. Im Gedicht „Letzter Sonntag in den Ferien“ finden sich die Verse:

Ein junge springt über das springseil
die hanfschnur schneidet eine kugel aus
und er steht mitten in ihr

In derartigen Zeilen zeigt sich Skácels Meisterschaft, mit Worten neue Dimensionen zu öffnen. Dass in diesem Zusammenhang kindliche Elemente zur Sprache kommen, ist kein Zufall. Die Sensibilität gegenüber der Kinderwelt ist durchaus in der tschechischen Literatur und auch in der Filmkunst verankert. Viele Dichter haben versucht, die Welt mit Kinderaugen zu sehen und Verse für die Kleinen geschrieben.
Es wäre ein großes Missverständnis, würde man Skácels Verswelt einem unpolitischen Raum der Idylle zuordnen. Das hatte bereits der Lebenslauf Skácels widerlegt. Während der Protektoratszeit war Skácel als Fremdarbeiter in den Alpen verpflichtet. In den bleiernen Jahren der sogenannten Normalisierung hatte er seine Funktion als Chefredakteur aufgeben müssen. Seine Texte konnte er über viele Jahre nur im Selbstverlag, im sogenannten Samisdat, oder im Ausland veröffentlichen. Skácel wurde zu einem „Verbotenen Menschen“:

Alles was ich besitze hab ich nach innen gewendet
und es ist von der anderen seite der tür wie die krawatten
an der rückwand innen im kleiderschrank

Auch in den schweren Jahren des verordneten Schweigens hatte der Autor, wie es seine Gewohnheit war, am liebsten Brünn durchstreift und dabei über Gott und die Welt nachgedacht. Während jener Phase verfasste Skácel die beiden Zyklen „Der Fehler der Pfirsiche“ und „Kleine Nüsse für den schwarzen Papagei“ mit je hundert Vierzeilern, von denen ebenfalls eine Auswahl in dem vorliegenden Heft abgedruckt ist.
Die im Poesiealbum veröffentlichte Auswahl hat Reiner Kunze zusammengestellt. Seit Jahrzehnten bemüht sich der deutsche Lyriker, auf das poetische Werk seines Kollegen aus Mähren aufmerksam zu machen. Es war Kunze, der erstmals Gedichte von Skácel ins Deutsche übertrug und auch für die Bände Fährgeld für Charon (1967) und wundklee (1982) verantwortlich war.
Es ist dem Märkischen Verlag in Wilhelmshorst zu verdanken, dass Gedichte von Skácel in die renommierte Reihe Poesiealbum aufgenommen wurden, die einst vom Schriftsteller Bernd Jentzsch in der DDR gegründet wurde. Das vorliegende Heft ermöglicht einen eindrucksvollen Einblick in das faszinierende Werk Jan Skácels.

Volker Strebel, Prager Zeitung, 22.9.2016

 

 

SK

Das Flussbett der Erinnerung muss nichts anschwemmen, das Floß Jan Skácel ist vollständig.

Eines Tages, ich vermute im zeitigen Frühjahr 1947, stand er vor der Tür von BLOK, Revue für Kunst – wollte nicht weiterkommen, murmelte, ihn schicke Oldřích Mikulášek, drückte mir stirnrunzelnd ein paar Gedichte in die Hand, wollte wieder nicht eintreten, und war weg. Eines der Gedichte, das dann in BLOK tatsächlich erschien – in Konfrontation mit der zeitgenössischen Lyrik – heißt „Frühjahrsmotiv“.
Später begann er an Oldříchs Seite in Brünner Kneipen aufzutauchen, besonders wenn František Halas unter uns war, aber im Unterschied zu Oldřích, der schon damals wie ein südmährischer Großfürst herrschte, saß er immer in der allerhintersten Ecke und brachte es fertig, auch drei Stunden zu schweigen. Längst Archäologie….
Dann (das Datum verwischt sich) saß er auf Oldříchs Platz in der Redaktion von Rovnost, hinter diesem berühmten Tisch mit der Balustrade, und schrieb und schrieb – denn damals mußte ein Redakteur noch schreiben können, das war sein Handwerk, nicht jenes pedantische „Organisieren“. Frühzeitig hatte er die erste „Affäre“ am Hals – wie viele folgten darauf? Er schrieb nämlich über das Líšeňer Fest und bemerkte wahrheitsgemäß, der Clou wären nicht die Ansprachen, sondern die schmackhaften Würstchen gewesen und viele wären einzig, und allein deshalb zum Fest gekommen. Der Kreissekretär Sling tobte und schloß Honza Skácel augenblicklich aus der Partei aus, und zwar telefonisch. Das wurde dann irgendwie geschlichtet, aber für einige Zeit wurde „SK“ aus der Redaktion beurlaubt. Jemand berief mich damals in aller Eile als Ersatzmann – BLOK siechte in dieser Zeit auf „höheren Wunsch“ dahin. Diesem Ende ging in Tvorba ein Leitartikel Hendrychs voraus. Eines der Argumente für die Untragbarkeit dieser Revue war just ein Zitat aus Skácels Fünfjahrplan-Gedicht:

und die Dichter
Elefanten ähnlich
die am Strick zu gehen Lernen,
brechen sich zuweilen das Genick

Elefanten am Strick gehend – wahrhaftig der Gipfel von entartetem Formalismus! Meine Güte… Noch glückte es uns, und mit einem Fünfnummernheft(!) beendeten wir den dritten Jahrgang und – „Endgültig Schluß“.
Als František Halas starb, machten wir zu dritt eine Trauerseite in Rovnost: SK, Kainar und ich. Wir hatten viel mehr Satz, als auf die bewilligte Seite ging, und wollten mehr unterbringen. Über die Setzerpulte gebeugt, strichen wir. Wir konnten uns nicht in die Augen sehen. Als ob Halas das letzte Hindernis gewesen wäre. Nach ihm kam die SINTFLUT der fünfziger Jahre über uns.
Ab 1. Januar 1950 war ich schon definitiv bei Rovnost. Definitiv? Nun ja, halt auf zwei, drei Jahre. Der Leiter der Kulturredaktion war SK, ich begann also unter ihm zu „dienen“. Aber nach 14 Tagen drehte SK diese Rolle mit einer außerordentlich eleganten Pirouette um – und war selig. Die Chiffre SK unter Reportagen, Feuilletons, Kolumnen und gereimten Glossen hatte Klang, sie tauchte auch kurz in der Landwirtschaftsrubrik auf, wo Bohmarčák forderte, die Kampagnen für ein viertes Melken zu verstärken. Warum sie in diesem Bemühen bald nachließen, erklärten beide später sehr eigenwillig: Die Kühe taten ihnen leid…
Ich sehe Honza Skácel, wie er an der Schreibmaschine sitzt, das Tischchen bald ganz von ausgedrückten Zigaretten brandlöchrig, und in die Tasten hämmert. Ab und zu riß er die Seite aus der Maschine, zerknüllte sie wütend und warf sie in den Papierkorb. Er traf nicht einmal. Eine Szene wie in dem einen Morgensterngedicht – „wie knisterten die packpapiernen Kugeln“…
Die Zeiten bei Rovnost endeten – wie anders? – schlecht. Der aus Prag (von Rudé právo) uns als Chefredakteur Zugeteilte konnte zwar nicht schreiben, aber unsere Artikel ausschlachten, auch ihren Schluß umschreiben, schreckliche Phrasen vom Erheben der Fahne und so. Das machte er bis tief in die Nacht, und am Morgen lasen wir entsetzt, was wir nicht geschrieben hatten, stritten uns bis aufs Blut. Vollkommen ergebnislos! Schließlich saßen wir irgendwo „oben“, wir an der Wand, mitten um den ovalen Tisch die „Kreisleitung“, die allerbesten Argumente galten nicht, elf von den zwölf mußten gehen, in den Rücken fiel uns nur einer…
Viel später sehe ich Honza Skácel in einer beinah exotischen Rolle als Redner auf einem der Schriftstellerkongresse. Anstelle der Ansprache las er eine kleine Rezension über den Kanarienvogel unseres Sohnes Honza, dessen „Ehrenpate“ er ist. Das waren vielleicht die unkonventionellsten Worte, die von den Rednerpulten dieser Zeiten ertönten – und zugleich eine glänzende Lektion über künstlerische Freiheit.

Die letzte Aktion des sogenannten Seifertschen Schriftstellerverbandes war im Jahre 1969 das Halas-Symposium in Rudka bei Kunštát. Dort konnte noch jeder reden, was er wollte, und wovon er überzeugt war, daß es gut sei. Große Offenheit und Toleranz – auf lange Zeit die letzte! SK sprach am Grab, später faßte er die Ansprache mit leichten Veränderungen in Verse.

Immer ist das irgendwo
Mein alter Dichter,

begann er. Und das Ende prägte sich besonders ein:

Wir sind nicht abgefallen
Auch wenn wir fast betteln gingen.

Als Jan Skácel 60 (oder 65?) wurde, bereiteten wir anstelle des üblichen bibliophilen Sammelbandes einen Koffer vor. Den echten Pappkoffer füllten wir nicht nur mit „zusammengepreßten Papieren“, sondern auch mit kleinen Plastiken und allerlei Scherzartikeln. Ich trug eine mit Goldschleife umwundene Rolle bei: nichts als sieben Blätter schönen handgemachten Papiers, auf das ich die vorher nur schlampig skizzierten Erinnerungen an verschiedene gemeinsame Aktivitäten – bei Rovnost, Host do domu, zu Hause und im Ausland, abgeschrieben hatte. Am Schluß des siebten Blattes war ich erst bis zur Hälfte dieser Erinnerungen. Damals ein ähnliches Luxuspapier zu beschaffen, ging über meine Kräfte. So hörte ich mitten im Satz und ungefähr im Jahr 1969 auf – ein Jubiläumsfragment, übrigens eines meiner Lieblingsgebilde. Dies Fragment trug ich später zweimal vor, und zweimal wurde es irgendwo gedruckt, aber immer häufiger fragten mich Freunde oder Bekannte, warum ich in diesen Erinnerungen volle 20 Jahre verschwiegen hätte, also 1969–1989. Die Antwort ist einfach: Ich versteckte den zweiten Teil der Erinnerungen so gut, daß ich ihn eigentlich verlor. Gelegentlich suche ich die damals spontan hervorgesprudelten bekritzelten Papiere und finde sie nicht. Ich redete mir ein, diese verlorenen Seiten wären so glänzend, so unwiederholbar, es sei am besten, wenn sie das Fragment eines Fragments blieben. Heute entschließe ich mich. Dem Druck ausgesetzt – wie anders? Und weil ich mit „Bravour“ meine einstigen Zeilen lange schon vergessen habe, wird „von etwas anderem“ die Rede sein.

SK war ein Bücherfresser. Ständig trug er Bücher unter dem Arm (die andere Hand mußte für die unvermeidliche Zigarette frei bleiben), in den Manteltaschen (ausnahmsweise auch im Sakko), später, als es mehr wurden, immer öfter im Einkaufsnetz. Bei diesem Heißhunger war es schwierig, ihm ein Buch nicht auszuleihen – der Akt der Rückgabe war dann langwierig und dramatisch. Einmal rief er an, er komme. Geschwind überblickte ich die Bücher auf dem Tisch. Obenauf lag eine Neuerscheinung über Kafka, kostbar und dick, brandneu aus der Schweiz angelangt. Ich wußte, das ist für SK der Magnet Nr. 1 und beging in meiner Habgier eine unglaubliche Dummheit: Ich schob das Buch mit dem Rücken nach hinten in das höchste Regal unter der Decke! So war es anonym. SK trat ein, ließ die Augen über die Regale schweifen, zog einen Stuhl heran, stellte sich auf die Zehenspitzen und hatte die Kostbarkeit im ersten Versuch herausgefischt. „Kann ich das ausborgen?“ brummte er auf seine Art. Nach einer so genialen Leistung konnte man das nicht ablehnen!
Einmal sagten wir uns, sobald er die erste (erster) Zigarette wird anzünden wollen, werde ich ihm eine Bittszene vorspielen – im Niederknien und mit einem Zitat von T.S. Eliot. Die Begründung? Vor allem menschlich – im Interesse seiner Gesundheit. Zweitens aus Egoismus – wegen des Teppichs. Als ob es zu ahnen war – SK kam schon mit brennender Zigarette im Mundwinkel ans Tor. Also ein Fehlschlag.
Die Rezitatoren fürchteten ihn. Trugen sie sein Gedicht vor, und SK saß im Publikum, zitterte auch den abgebrühtesten Profis die Stimme. SK ließ seine Unzufriedenheit spüren, indem er mit halblauten Bemerkungen zu seinen Nachbarn hin „störte“, oder er fing mit seinem Raucherhusten (der ihn übrigens ständig reizte) an. Einmal drehte er sogar – in der ersten Reihe! – dem Podium den Rücken zu! Aber als man in den siebziger Jahren im Theater der Mrštíks seine Übersetzung (unter dem geliehenen Namen Milan Páseks) von König Ödipus aufführte, verfiel SK ganz unerwartet dem Zauber des Theaters, war übellaunig, streitsüchtig, sogar unversöhnlich, sobald irgend jemand an der Regie etwas auszusetzen hatte (farbige Leuchter, Tänze, Verschiebungen der Bedeutungsakzente…) Oft ging SK zu den Reprisen seiner Übersetzung, saß aber lieber irgendwo „hinter der Ecke“ auf dem Gang oder beim Pförtner als im Zuschauerraum.
Mitte der achtziger Jahre kam Alois Hajda auf die Idee, an einem Abend zwei Sophokles-Stücke aufzuführen: Ödipus in der Skácelschen und Antigone (die Brecht/Hölderlin-Fassung) in meiner Übersetzung. Freunde sagten eine Katastrophe voraus: diese zwei Handschriften dürfe man nicht zusammenbringen, SK „läßt keinen Eingriff in seinen Text zu“, es wird damit enden, daß wir uns alle drei streiten… so lauteten die Prognosen. Ich war bei dieser Inszenierung mehr oder weniger der Dramaturg (Hajdas Erfindung: Dramaturg für eine Vorstellung). In der Schlußphase mußte man notwendigerweise kürzen und in beiden Stücken einige Stellen präzisieren, also beide Handschriften konfrontieren. Es ging ein ganzer langer Tag drauf, ich erinnere mich gern daran. Wir zogen durch Brünn, ich weiß nicht mehr warum, schließlich schlugen wir das Zelt bei Skácels auf. Tief in der Nacht trieben wir uns mit Gespritztem, der dünner und dünner wurde, zu Höchstleistungen an. SK, abwechselnd hartnäckig oder unerwartet tolerant und flink beim Entscheiden, verteidigte einige seiner Lösungen. Als dann Hajda und ich auf die nachmitternächtliche Kotlářská hinaustraten, waren unsere Köpfe wie ausgeweidet, aber wir hatten ein gutes Gefühl. Und die Inszenierung war auch gut – sie blieb mir sogar im Gedächtnis. Das Experiment war geglückt, die Katastrophe ausgeblieben.
Von Zeit zu Zeit erfuhr ich, daß SK an mir eine Art Sarkasmus schärfte (besonders in sogenannten Männerrunden). Solche Reden verfehlen mich seit jeher, ich antworte darauf mit einer Brechtschen Anekdote:

Dem Mitarbeiter Herrn Keuners warf man vor, daß er sich wenig freundschaftlich zu ihm verhalte. Ja, aber nur hinter meinem Rücken, verteidigte ihn Herr Keuner.

Mitte der finsteren siebziger Jahre kamen zwei deutsche Dichter, die sich in der DDR nicht gerade offizieller Liebe erfreuten, nach Brünn zu SK und zu mir nach Kunštár. Es waren Heinz Czechowski und Wulf Kirsten. Wir blieben alle vier geraume Zeit auf dem Friedhof und dann in Rudka bei den Riesenschuhen, die von Rolineks Masarykstandbild übriggeblieben waren – später übernachteten wir in unserem winzigen Bungalow. Ohne Alkohol, wir tranken nur ungeheuerlich viel Tee oder verschiedenen Tee (wir wechselten die Sorten), über uns die große Reproduktion einer Arp-Graphik, redeten wir gleichgestimmt über alles mögliche, schwiegen aber auch gleichgestimmt. Die ganze Nacht goß es wie aus Eimern, früh war es fast unmöglich, den aufgeweichten Feldweg hinunter nach Kunštát zu fahren, Czechowski fuhr Schrittempo, wir drei übrigen trabten am Feldrain, um das Abrutschen des Autos, das einem Umstürzen gleichgekommen wäre, zu verhindern. Die beiden Deutschen fuhren dann nach Lysice, um einen Blick auf die Schloßanlage zu werfen, wo Marie von Ebner-Eschenbach gelebt hatte.
SK beherrschte es einmalig, eine Abreise zu vernebeln. Beabsichtigte er, meinetwegen nur für drei Tage, zu verschwinden, sagte man in Brünn vier Wochen lang:

Sie erwischen Skácel nicht, er ist irgendwohin Richtung Tišnov gefahren…

Oder nach Südböhmen oder Italien. Der Besucherfluß versiegte dann, und heute denke ich, daß SK in solchen zusammengesparten Wochen die meisten seiner Gedichte schrieb.

Zwei Tage vor Honzas Tod kam Heinz Czechowski mit dem Leipziger Theater nach Brünn und gleich darauf nach Kunštát, um sich mit mir zu beraten. Nach der Vorstellung – seiner Dramatisierung von Bulgakows Roman Der Meister und Margarita – wollte das Ensemble beim Schlußapplaus ein tschechisches Transparent entrollen, das sehr lakonisch sein sollte: ENTSCHULDIGT 1968. Der Regisseur wagte es am Ende nicht, verbot es sogar. Czechowski verabredete noch ein Treffen mit SK. Er war der letzte Ausländer, mit dem SK – einen Tag vor seinem Tod – zusammentraf.

Ludvík Kundera, aus Ludvík Kundera: el do Ra Da(da), Arco Verlag, 2007

Der Gesang des Engels

– Poesie aus der Tschechoslowakei: Jan Skácel und seine wunderbaren Gedichte. –

Ich habe ihn nicht gekannt, und doch stelle ich mir vor, daß Jan Skácel ein guter Mensch gewesen ist. Der Mann, der so herzergreifende und verstandesklare, so zarte und harte Gedichte geschrieben hat, der muß einiges gewußt haben vom Los des Menschen. Vielleicht war Skácel störrisch, unzugänglich, ungerecht, wer weiß, vielleicht war er ein schwacher Mensch und darin uns ähnlich. Aber, so denke ich mir, er muß mit der Welt seiner Gedichte, einer Welt voller Weisheit und Witz, soviel zu tun gehabt haben, daß er selber voller Weisheit und Witz war. Und „Witz“ soll hier nicht das Talk-Show-Amüsement heißen, sondern jener „schmetternde unaufhörliche Witz der Verzweiflung“, von dem Novalis spricht.
Die Frage, ob der Dichter Jan Skácel ein guter Mensch gewesen sei, erscheint unerheblich und befremdlich. Längst haben wir uns angewöhnt, das Wahre und das Gute und das Schöne voneinander zu trennen. Wir wissen, daß gute Menschen meist schlechte Bücher schreiben, und nicht selten kommt es vor, daß wir einem Werk unsere Anerkennung nicht versagen können, obwohl wir seinen Autor unangenehm oder widerwärtig finden.
Der Literaturwissenschaftler George Steiner ist in einem Essay, abgedruckt in dem Band Exterritorial, der Frage nachgegangen, wie es denn sein konnte, daß der Schriftsteller Louis-Ferdinand Céline ein rasender und bösartiger Antisemit gewesen ist und zugleich Bücher von literarischem Rang geschrieben hat. Steiner schließt mit der Bemerkung:

Die Gabe, Bach zu spielen und ihn zu lieben, kann sich im menschlichen Geist mit dem Willen verbinden, ein Getto zu vernichten oder Napalm auf ein Dorf regnen zu lassen. Es ist uns keine Lösung dieses Mysteriums und der von ihm an unsere Zivilisation gerichteten grundlegenden Fragen zur Hand.

Die Lyrik aber ist vielleicht doch ein anderer Fall. Sie ist die subjektivste aller Formen, in ihr drückt sich das Individuum am unmittelbarsten und am erkennbarsten aus. Mögen die Verse noch so kunstvoll sein, der Autor bleibt sichtbar durch sie hindurch. Im Roman kann er Maskenspiele betreiben, Stimmen imitieren, sich in Diskursen distanzieren. Das Werk löst sich in gewisser Weise von ihm ab, kann sich gegen ihn entwickeln. Das Gedicht ist schwieriger. Entweder ist sein Autor ganz anwesend, dann sehen wir ihn, schutzlos vielleicht oder in einer Pose. Oder er ist abwesend. Dann lohnt sich die Lektüre kaum.
Jan Skácel ist immer anwesend in seinen Gedichten; schutzlos oft, in einer Pose nie. Manchmal spricht er von sich selber:

Meine nacht ist am schwärzesten dort,
wo der morgen beginnt
und das kleine vogelentsetzen unter den fenstern
losbricht mit macht.
Dann stehe ich auf,
und ärmer um den gestrigen tag,
gehe ich ins bad.
Unterwegs schäme ich mich zwischen den möbeln.

Der Dichter hat sein Werk des Nachts vollbracht, und er fühlt sich als Tagedieb, nutzlos, verbraucht, um einen Tag seines Lebens ärmer. Am Frühstückstisch jedoch memoriert er die Frucht der Mühsal:

zum kaffee sage ich bereits die verse her,
bedächtig, mühsam, damit sie dauern

Und nun sind wir natürlich gespannt auf das Ergebnis. Es lautet:

Man erwacht, wenn der vogel singt,
und gedämpft sind alle töchter des gesanges

Eingeständnis einer großen Niederlage, die ein kleiner Sieg ist. Was der Dichter zu Papier bringt, sind nur die Töchter des Gesanges. Der ursprüngliche Gesang ist der Gesang der Natur, das Singen der Vögel. Es ist kein großer gottesfürchtiger Choral, es ist das kleine Vogelentsetzen unter den Fenstern. Dieses gilt. Das ist die Melodie, die der Dichter vergebens gesucht hat, sich schämend zwischen den Möbeln. Aber er hat sie gehört.
Der Gesang der Natur: Ihm ist Skácel auf der Spur, mit Ohren, die das Gras wachsen hören.

Am himbeerhimmel
zergeht der tag.
Hinter der ziegelmauer
duftet betäubend der holunder.
Jedes blatt ist zu hören.
Reglos wächst
die kastanie in die nacht.
In den steinen plätschert die finsternis

Hören kann man, was Skácel hört, nur dann, wenn man die Stille hört, wenn man zum „Zeitgenossen der Stille wird“. Die meisten Sterblichen jedoch hören den Gesang des Engels nur im Schlaf – so erzählt es das Gedicht „Was vom engel übrigblieb“:

Frühmorgens
alle bäume sind noch eingebunden
und die dinge unberührt,
erhebt sich zwischen zwei pappeln der engel,
schläft im fluge aus.
In den rissen des schlafes singt er.

Wer als erster die gasse betritt,
verwundet wird von diesem gesang,
vielleicht ahnt er etwas,
aber er sieht es nicht
Es ist grün,
und das ist alles, was vom engel übrigblieb

Der Gesang der Natur ist nicht nur tröstlich, er verwundet auch. Er ist nicht nur idyllisch, er erzählt auch von Leid und Tod und Schmerz. Vom Schmerz beim Anblick der „kleinen bärtigen kaninchen / wenn sie mit dem kopf nach unten / am haken hängen und der faden / hellen und frohen bluts / die mäulchen annäht an die erde“. Vom Schmerz des gefangenen Fisches, den die Kinder nach Hause tragen:

Gott erlaubte es und gab aus den tiefen den kindern den fisch als geheimnis.

Die Stille, die wir hören sollen, birgt nicht nur den Gesang des Engels. Sie ist auch voller Schrecken.

Und lausch dem Wasser
wenn es spricht
vom Schmerz
und doch nicht klagt

Denn es handelt sich nicht bloß um die Stille der Natur.
Einst, sagt Skácel, werden wir des Nachts erwachen, und jemand wandert durch die Diele:

Die Schritte sind wie Flausch von Mäusen
und jemand Fremdes wacht für uns.
– Wir horchen hin gewöhnen uns daran
die Schritte richten eine Mauer auf aus lauter Stille

Solche Verse erinnern uns daran, daß der mährische Dichter Jan Skácel, geboren 1922 in Znorovy, gestorben 1989 in Brno (Brünn), zu den Opfern des niedergeworfenen Prager Frühlings gehörte und dreizehn Jahre mit Publikationsverbot belegt wurde. Die Stille, von der er spricht, ist auch die Totenstille der Repression. Vielleicht deshalb schrieb er so viele Frühlingsgedichte, Gedichte vom Wind, der die Menschen aufwühlt und vorantreibt. Die Stille ist bedrohlich, weil sie den Dichter lähmt:

wir sind wieder stumm die abgewetzte
wiege der sprache ist leer
wer jetzt die stille berührt gibt der wiege
vergebens schwung sie hat keinen Boden mehr

Stummheit droht, das verquälte Schweigen, „die verstockte abwesenheit an der neige des tages“. Und gerade deshalb gilt es, genau und sorgfältig hinzuhören. Skácel sagt:

Auf dem grund jedes liedes,
des traurigsten auch,
auf dem grund jedes gläschens
klingt etwas leis.
Manchmal nur kurz,
ein andermal lang.
Ich will es hören.
Gott weiß, was mich zwingt,
doch ich muß warten, bis es klingt,
sonst würde meinem herzen bang.

Auch Eichendorff wußte es:

Schläft ein Lied in allen Dingen

Doch bei ihm ist alles leicht und luftig, die Strahlen der Sonne schießen durch die Zweige, der Blick geht übers Tal, der Mond zieht über den Himmel, der Wandersmann tritt aus dem Wald hervor. Es ist eine Choreographie vielfältiger Bewegungen, eine Kulisse aus farbenfrohen Miniaturen, vor der ein festes Ensemble ruheloser und rastloser Gesellen dem „Zauberwort“ nachjagt. Es bleibt eine Verheißung, die atemlos macht. Die Augenlust, der Eichendorff, darin ganz modern, leidenschaftlich frönt, ist nimmersatt, und ihre Begierde ist vergeblich.
Jan Skácel (er spricht sich Skaazel) hat nicht diese erleuchtete Beweglichkeit. Aber auch bei ihm, wie bei Eichendorff, gibt es die literarischen Topoi, die wiederkehrenden Orte, Szenerien, Begriffe, die nicht etwas Wirkliches abbilden, sondern Landschaften des Gemüts bezeichnen: das Wasser, der Holunder, die Vögel, die Brücke, der Wind, der Regen und immer wieder der Regen. Aber die Bewegungen sind langsamer, manchmal ersterben sie, und Stilleben verlangsamen den Ablauf der Bilder bis zum Stillstand des panischen Hier und Jetzt. Höchste Aufmerksamkeit, gleichbedeutend oft mit Erschrecken, setzt ein. Es ist, als würde man plötzlich zum Innehalten gezwungen und müßte, da der Film reißt, endlich anfangen zu hören: das Gekreisch der Wildgänse, das Singen des Windes in den Scheunen, den Herbst mit allen Trompeten; zu hören, wie das Laub vor sich hin spricht, wie das Kind vom eigenen Weinen geweckt wird, wie die Tiere der Nacht sich bekreuzigen, wie der Regen geht im feinsten Gleichmaß. Aus solchen Tönen webt Skácel hartnäckig und in heiterer Mühsal die Melodie seiner Lieder. Es ist, wie Ota Filip einmal im Gespräch sagte, eine mährische Melodie. Ich war nie in Mähren, aber Dank Skácel wäre es mir vielleicht nicht ganz fremd.
Ganz dazusein, anwesend zu sein mit weit geöffneten Augen und Ohren ist Skácels Los. Gott weiß, was ihn zwingt. Keine Philosophie, keine Ideologie taugt als Polster gegen den Anprall der Wahrnehmungen, und in uns Lesern gibt die kleine Maschine der Reflexion ihren Geist auf. Wir werden zurückgeworfen auf das hellsichtige Zusammenzucken im Augenblick der plötzlichen Erkenntnis. „Wir suchen überall das Unbedingte, und finden immer nur Dinge“, sagt Novalis. Mit Skácel erkennen wir die Dinge.
Wir werden zurückversetzt in die Unmittelbarkeit kindlicher Erfahrung und Anschauung. Das Unheimliche zeigt sich, die Angst ist gegenwärtig,

Und wir fürchteten uns vor dem bösen
die tage waren aus johannisbeeren
und die nächte zerkräht
… und in den erkalteten Öfen wohnte die angst
Und sie
sie ist immer zu finden
Schau dich nicht um
der plumpsack geht rum…

So erinnert sich Skácel an seine Kindheit. Dem Erwachsenen geht es nicht anders:

Irgendwo in der nähe treibt sich der regen herum
und im hollerdickicht
wachsen der angst hörner
Lautlos fliegen die eulen die beute an

Wer sich so öffnet und hingibt, der erfährt die Dinge vor ihrer Sinngebung, und er erlebt jenen höchsten Schmerz, in dem „zuweilen eine Paralysis der Empfindsamkeit“ (Novalis) eintritt. Fatalismus, Melancholie sind die falschen Worte dafür. Es ist Weisheit ohne Bescheidwissen:

alles schmerzt sich einmal durch bis auf den eignen grund
und die angst vergeht
schön die scheune

die nach längst vergangnen ernten
leer am Wegrand steht

Alles schmerzt sich einmal durch. Man muß keine Angst davor haben. Man muß nach der Angst fassen wie nach einer Klinke und eintreten, wie es einmal heißt. Und man kann sich gegenseitig helfen. Die Liebe ist keine Himmelsmacht, aber auch kein leeres Wort. So lernen wir es aus dem „Zweiten gedicht auf den mond und den menschen“:

Hab keine angst,
und streiche aus dem schoß die kleine trauer,

daß wir keine kinder sind.
Und dennoch, meine zarte,
schlief ich gern im schatten des holunders ein,
bis ein tag aus meiner kindheit
mich gewahrte.
Hab keine angst,
und streiche aus dem schoß die kleine trauer,

daß wir schon erwachsen sind und mann und
frau.
Nacht und tag sind wir, durch unsre nächte fällt
der mond
wie eine abgerissne rose voller tau.
Hab keine angst, wenn mich der schlaf umfängt
an deiner seite,

zurückholt in den schatten des holunders,
damit ein tag aus meiner kindheit mich umwehe,
damit ich wiederkehre,
in der hand die rose,
und von neuem traumverloren vor dir stehe.
Hab keine angst, denn nächste füllen diese welt
auf menschlichen befehl, auf eine beethovensche

geste,
in denen die Soldaten geigen an die wangen legen
und vom himmel die getroffne rose fällt.
Und auf die angerußten menschenherzen
fällt regen rein wie tau
und du sei nicht betrübt,
daß wir keine kinder sind,
daß wir erwachsen sind und mann und frau.

Es klingt wie ein Lied, ein Schlaflied, ein Trostlied. Der Trost, den Skácel uns spendet, besteht in der schwierigen Weisheit, die Welt ganz anzuschauen, urteilslos mit ihr einverstanden zu sein – und dennoch das Leid, dem die Menschen nicht entkommen, zu bezeichnen. Es sind nicht nur die Nächte, „tief wie der Sturzgrund der Sterne“, nicht nur „das Land gegenüber“, also der Tod. Es ist das Leid, das die Menschen einander antun.
„Ein guter Mensch sein? Ja, wer wär’s nicht gern? (…) Doch die Verhältnisse, sie sind nicht so“, singt Peachum in der Dreigroschenoper. Das haben wir nicht erst von Brecht gelernt. Die schäbige Alternative, ein guter Mensch zu sein und blind und blöde alles hinzunehmen oder aber aggressiv für sich selbst und gegen die Verhältnisse zu kämpfen, hat in der Welt des Jan Skácel keinen Ort. Hinter die Dinge zu kommen, heißt für ihn nicht, Schlauheit zu erwerben, sondern den Grund des Daseins zu erreichen. Das ist nicht umsonst:

der dichter setzt
zur wehr sich wie die biene
und schenkt das eigne sterben
dem den er verletzt

In seiner Heimat war Skácel ein bekannter und geachteter Schriftsteller. Manche sagen, er hätte den Nobelpreis verdient. In den sechziger Jahren leitete er die Literaturzeitschrift Host do domu, die als beste des Landes galt. Er verstand sich als Sozialist, aber das half ihm nichts. 1968 wurde er aus der kommunistischen Partei ausgeschlossen. Erst 1981 durfte er wieder publizieren.
Wir verdanken es dem Dichter Reiner Kunze, daß wir Skácel auf deutsch lesen können. Peter Handke hat in seiner Laudatio, als Skácel 1989 den Petrarca-Preis erhielt, von der „märchenhaft glücklichen deutschen Übersetzung Reiner Kunzes“ gesprochen (ZEIT vom 16. Juni 1989). Offenbar hat Kunze die mährische Melodie getroffen. Kenner der tschechischen Sprache bestätigen es. Ich kann das nicht überprüfen, kann leider auch meinen Verdacht nicht belegen, die eben erschienene deutsche Auswahl „Ein Wind mit Namen Jaromir“ sei nicht ganz so glücklich übersetzt. Sie enthält übrigens einige Gedichte, die in den beiden früheren, von Kunze übersetzten Bänden schon enthalten waren und dort schöner klingen. Wer Skácel kennenlernen will, sollte alle drei Sammlungen lesen. Die erste, Fährgeld für Charon, erschienen 1967, ist in einer neuen Ausgabe lieferbar. Die zweite, wundklee, gibt es als Taschenbuch.
Ärgerlich aber bei allen drei Bänden ist, daß die Übersetzer lustvoll Skácels Lyrikbände plündern, ohne auch nur den Hauch einer Andeutung darüber zu verlieren, wann und wo die Gedichte entstanden sind. Skácel publizierte seit 1957. Bei einigen seiner Texte kann man erraten, daß sie auf politische Dinge anspielen. Da müßte man Genaueres wissen, mindestens das Entstehungsjahr. Die Übersetzer tun Skácel keinen Gefallen und uns erst recht nicht, wenn sie ihn zum zeit- und ortlosen Poeten stilisieren. Seine Lyrik, entstanden in einer der finstersten Epochen des Jahrhunderts, ist ein Zeugnis für die immerwährende Chance der Humanität. Er war ein guter Mensch und dennoch einer der größten Dichter unserer Zeit.

Ulrich Greiner, Die Zeit, 22.3.1991

 

Daniel Bayerstorfer: Der Dichter Jan Skácel und sein Echo in Deutschland

 

Jiří Pavlica & Hradišťan vertonen Jan Skácels „Mrtví“

 

LXXXVIII

du solltest die schwingungen hören des tisches,
du solltest die ankunft der flüsse betrachten,
die mährischen dichter sind unbekannt dafür,
und freilich die landschaften,
auf die nur wenige schmal,
viel zu schmal oft gefaßt sind,
und landschaften gilt es zu nennen,

christos des weges und sieh deine leute,
sie werden den heiligen schweißen nicht folgen,
der hinweis auf ihre
umschlossenheit tilgt die gelesene schrift,
das sind auch obodriten,

(Jan Skácel gewidmet)

Ulrich Zieger

 

 

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Nachrufe auf Jan Skácel: NZZ ✝︎ Gedicht

Zum 100. Geburtstag des Autors:

Matthias Buth: Alles kann Poesie sein
faustkultur.de, 2.5.2022

 

 

Jan Skácel und Petr Oslzlý bei Theater in Bewegung III am 22.9.1987 in Brünn.

 

Zum 60. Geburtstag des Übersetzers:

Harald Hartung: Auf eigene Hoffnung
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.8.1993

Zum 70. Geburtstag des Übersetzers:

Katrin Hillgruber: Im Herzen barfuß
Der Tagesspiegel, Berlin, 16.8.2003

Lothar Schmidt-Mühlisch: Eine Stille, die den Kopf oben trägt
Die Welt, 16.8.2003

Beatrix Langner: Verbrüderung mit den Fischen
Neue Zürcher Zeitung, 16./17.8.2003

Sabine Rohlf: Am Rande des Schweigens
Berliner Zeitung, 16./17.8.2003

Hans-Dieter Schütt: So leis so stark
Neues Deutschland, 16./17.8.2003

Cornelius Hell: Risse des Glaubens
Die Furche, 14.8.2003

Zum 75. Geburtstag des Übersetzers:

Michael Braun: Poesie mit großen Kinderaugen
Badische Zeitung, 16.8.2008

Christian Eger: Der Dichter errichtet ein Haus der Politik und Poesie
Mitteldeutsche Zeitung, 16.8.2008

Jörg Magenau: Deckname Lyrik
Der Tagesspiegel, 16.8.2008

Hans-Dieter Schütt: Blühen, abseits jedes Blicks
Neues Deutschland, 16./17.8.2008

Zum 80. Geburtstag des Übersetzers:

Jörg Bernhard Bilke: Der Mann mit dem klaren Blick: Begegnungen mit Reiner Kunze: Zum 80. Geburtstag am 16. August
Tabularasa, 18.7.2013

artour: Reiner Kunze wird 80
MDR Fernsehen, 8.8.2013

André Jahnke: Reiner Kunze wird 80 – Bespitzelter Lyriker sieht sich als Weltbürger
Osterländer Volkszeitung, 10.8.2013

Josef Bichler: Nachmittag am Sonnenhang
der standart, 9.8.2013

Thomas Bickelhaupt: Auf sensiblen Wegen
Sonntagsblatt, 11.8.2013

Günter Kunert: Dichter lesen hören ein Erlebnis
Nordwest Zeitung, 13.8.2013

Marko Martin: In Zimmerlautstärke
Die Welt, 15.8.2013

Peter Mohr: Die Aura der Wörter
lokalkompass.de, 15.8.2013

Arnold Vaatz: Der Einzelne und das Kartell
Der Tagesspiegel, 15.8.2013

Cornelia Geissler: Das Gedicht ist der Blindenstock des Dichters
Berliner Zeitung, 15.8.2013

Johannes Loy und André Jahnke: Eine Lebensader führt nach Münster
Westfälische Nachrichten, 15.8.2013

Michael Braun: Süchtig nach Schönem
Badische Zeitung, 16.8.2013

Jochen Kürten: Ein mutiger Dichter: Reiner Kunze
Deutsche Welle, 15.8.2013

Marcel Hilbert: Greiz: Ehrenbürger Reiner Kunze feiert heute 80. Geburtstag
Ostthüringer Zeitung, 16.8.13

Hans-Dieter Schütt: Rot in Weiß, Weiß in Rot
neues deutschland, 16.8.2013

Jörg Magenau:  Der Blindenstock als Wünschelrute
Süddeutsche Zeitung, 16.8.2013

Friedrich Schorlemmer: Zimmerlautstärke
europäische ideen, Heft 155, 2013

Zum 85. Geburtstag des Übersetzers:

LN: Sensible Zeitzeugenschaft
Lübecker Nachrichten, 15.8.2018

Barbara Stühlmeyer: Die Aura der Worte wahrnehmen
Die Tagespost, 14.8.2018

Peter Mohr: Die Erlösung des Planeten
titel-kulturmagazin.de, 16.8.2018

Udo Scheer: Reiner Kunze wird 85
Thüringer Allgemeine, 16.8.2018

Jochen Kürten: Sich mit Worten wehren: Der Dichter Reiner Kunze wird 85
dw.com, 16.8.2018

 

Zum 90. Geburtstag des Übersetzers:

Lothar Müller: Widerstand in Jeans
Süddeutsche Zeitung, 15.8.2023

Cornelia Geißler: Dichterfreund und Sprachverteidiger
Berliner Zeitung, 15.8.2023

Antje-Gesine Marsch: Greizer Ehrenbürger Reiner Kunze feiert 90. Geburtstag
Ostthüringische Zeitung, 16.8.2023

Ines Geipel: Nachwort. Zum 90. Geburtstag von Reiner Kunze
S. Fischer Verlag

Ines Geipel: Mit dem Wort am Leben hängen
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.8.2023

Gregor Dotzauer: Mit den Lippen Wörter schälen
Der Tagesspiegel, 15.8.2023

Hans-Dieter Schütt: Das feingesponnene Silber
nd, 15.8.2023

Stefan Stirnemann: Ausgerechnet eine Sendung über Liebesgedichte brachte Reiner Kunze in der DDR in Nöte – und mit seiner späteren Frau zusammen
Neue Zürcher Zeitung, 15.8.2023

Christian Eger: Herz und Gedächtnis
Mitteldeutsche Zeitung, 15.8.2023

Matthias Zwarg: Im Herzen barfuß
Freie Presse, 15.8.2023

Marko Martin: Nie mehr der Lüge den Ring küssen
Die Welt, 16.8.2023

Josef Kraus: Mutiger Lyriker, Essayist, Sprachschützer, DDR-Dissident, Patriot – Reiner Kunze zum 90. Geburtstag
tichyseinblick.de, 16.8.2023

Erich Garhammer: Das Gedicht hat einen Wohnort: entlang dem Staunen
feinschwarz.net, 16.8.2023

Volker Strebel: Ein deutsch-deutscher Dichter
faustkultur.de, 29.8.2023

 

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shi 詩 yan 言 kou 口

 

Beitragsbild von Juliane Duda zu Richard Pietraß: Dichterleben – Reiner Kunze

 

Reiner Kunze – Befragt von Peter Voss am 15.7.2013.

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