Jörg-Werner Kremp: Inmitten gehen wir nebenher

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Jörg-Werner Kremp: Inmitten gehen wir nebenher

Kremp-Inmitten gehen wir nebenher

3. LYRIK UND PROSA BIS 1967 

Wenn vom Debüt Borns in der literarischen Welt die Rede ist, wird zumeist auf ein Klischee rekurriert: jenes von „Born, der aus dem Kreis der Kölner Schule stammte“.1 Rezensenten und in ihrer Folge die Verfasser von Autorenlexika und Literaturgeschichten tradieren hartnäckig diese literarische Herkunft und berufen sich dabei auf kaum mehr als den Publikationsort des ersten Romans im Kölner Verlag Kiepenheuer & Witsch.2
Diese Bestimmung von Borns literarischen Anfängen ist aus zweierlei Gründen nicht richtig. Zum einen illustriert zwar auch Borns Photo samt Romanankündigung neben denen von Günter Seuren, Günter Herburger, Rolf-Dieter Brinkmann, Günter Steffens und Paul Pörtner die knappen Thesen von Dieter Wellershoff auf jener zur Etikettierung führenden Titelseite der Hauszeitschrift des Kölner Verlages.3 Die Beteiligten haben sich jedoch nie als Mitglieder einer Schule begriffen. Diesem Grund wie den Umständen ihrer Entstehung verdankt die Bezeichnung „Kölner Schule“ ihre Anführungszeichen: 

Um Witsch und die Verlagskollegen für die neue Autorengruppe zu interessieren, um den Verleger aufmerksam zu machen auf das, was in unserem Lektorat entstanden war, haben wir dann 1964 ein Treffen in Kronenburg in der Eifel veranstaltet. […] Auch Heinrich Böll nahm an diesem Treffen teil und einige Freunde des Verlages, und vielleicht kam damals, halb ernst, halb scherzhaft, das Wort von der Kölner Schule auf, das dann in die Öffentlichkeit gelangte und überall verbreitet wurde. Aber eine Schule in einem irgendwie verbindlichen Sinn mit Programm und ästhetischem Kanon war das nicht, nur eine Gruppierung, eine Schwerpunktbildung, die vorübergehend der deutschen Gegenwartsliteratur einen neuen Akzent gab.4

In dem Zeitschriftenbeitrag, eigentlich einer kurzen Stellungnahme eines Lektors zu seinem Arbeitsprogramm inmitten von Abbildungen „seiner“ Autoren oder, wie Wellershoff später meinte, einer „Marginalie“,5 skizzierte er ohne ausdrücklichen Bezug auf die Autoren „einige Charakteristika einer modernen realistischen Literatur“. Gleichwohl erzielte er so in Verbindung mit dem Stichwort „neue Arbeitsrichtung“ den Effekt, der Öffentlichkeit die genannten Schriftsteller werbewirksam als Gruppe vorzustellen. Born brachte diese Werbestrategie Aufmerksamkeit ein und den „ungebetenen Ruf, […] ein Mitglied der ,Kölner Schule‘, des ,Rheinischen Realismus‘ zu sein.“6 Wellershoff hat solche Festschreibungen mehrfach zurechtgerückt:

Born hat an dem Konzept „Neuer Realismus“ nicht mitgearbeitet. Es war auch gar nicht als ein verbindliches Programm gedacht. […] Er kam mit einem fertigen Skript. Der Roman wurde im wesentlichen so veröffentlicht, wie er geschrieben war.7

Inwieweit Born sich mit seinem Roman einer solchen Schreibweise überhaupt zuordnen läßt, soll später untersucht werden. Wichtig aber ist, darauf hinzuweisen, daß der Begriff „neuer Realismus“ sich bereits 1964 in einem Aufsatz von Walter Höllerer fand, in dem dieser eine literarische Entwicklung, die er u.a. auf der Tagung der Gruppe 47 in Sigtuna beobacht hat, zu beschreiben sucht.8 Ruft man sich in Erinnerung, daß Born 1963/64 am Literarischen Colloquium Höllerers in Berlin teilnahm und mit einem fertigen Romanskript zu Wellershoff kam, so sprechen schon die äußeren Fakten gegen den Beginn Borns im Umfeld der „Kölner Schule“.
Zum anderen beginnt die Geschichte seiner Publikationen nicht mit Der zweite Tag, sondern hat ihren Anfang in doppelter Hinsicht bei Ernst Meister. Er verhilft Born mit dem Abdruck (und der Kommentierung) des Gedichts „Haltend die Standarte“ in seiner Reihe Übungen mit Versen zu der ersten literarischen Publikation und, wichtiger noch, unter dem Einfluß seiner Dichtung stehen eine ganze Reihe der zuerst veröffentlichten Gedichte im Essener Liederbuch und dem Jahresring 1964/65. 

Born, der einer Neuauflage seines ersten Romans zu Lebzeiten nicht zugestimmt hat,9 würde sich wie viele Schriftsteller wohl nur ungern an die allerersten Versuche des Anfängers erinnern lassen. In einer nicht veröffentlichten Vorform des Interviews, das Volker Hage im September 1970 mit Born führte, geht er selber auf den Beginn folgendermaßen ein: 

H.: „Also ich möchte gerne wissen, wie Sie eigentlich zur Lyrik gekommen sind? Immerhin war Ihre erste Buchveröffentlichung doch ein Roman.“

B.: „Den kenn’ ich gar nicht mehr.“ 

H.: „Haben Sie also vorher auch schon Lyrik gemacht, in der Schulzeit?“ 

B.: „Ja.“ 

H.: „Warum haben Sie dann zuerst einen Roman veröffentlicht? War das einfacher?“ 

B.: „Ja, für mich war es damals einfacher.“10

Born will da schon von einer wesentlich ausgereifteren Form seiner Arbeiten nichts mehr wissen. Einfacher war jedoch, sieht man auf die Publikationsfolge, zuerst die Veröffentlichung einzelner Gedichte und kurzer Prosatexte.

 

3.1 Lyrische Anfänge unter dem Einfluß von Ernst Meister
Von Born erscheint zunächst Lyrik und erst die Kenntnis der frühesten Dichtungsversuche macht Borns außerordentliche Bewunderung für Ernst Meister vollends verständlich. Born hat von ihm nicht nur „etwas über die Genauigkeit und die Unsicherheit der Sprache gelernt, und […] daß die Poesie mit meinem Leben zu tun hat und nicht etwa ein entlegener Bereich für irgendeine scheinhafte Kreativität ist“ (WM, S. 191). Aus Gedichten wie „Abschied fürs Leben und Abschied für den Tod“ (G, S. 182) läßt sich ersehen, daß Born später gleichermaßen seinen eigenen Ton gefunden hat, wie ihn die Poesie Ernst Meisters und „das Denken bis an den Rand des Todes“ (WM, S. 193) von Anfang an begleitet hat. In seiner Petrarca-Preisrede (1976) zitiert er Ernst Meister mit den Zeilen: „so daß / Lebendiges sich sieht / im Gehn“ (WM, S. 193) und in dem angeführten Gedicht, 1972 in Das Auge des Entdeckers veröffentlicht, lautet der Anfang: 

Wie todernst ist dieses Kommen und Gehen
auf Leitern Stiegen
wenn einer sich abwendet und tatsächlich
mit einem Wort geht
[…] (G, S. 182) 

Von der Faszination, die die Poesie Ernst Meisters Anfang der sechziger Jahre ausübte, berichtet auch Hannelies Taschau: 

Zu Ernst Meister fuhren wir oft gemeinsam. Es kam meist zu Monologen von Meisters Seite, weil wir ihn so verehrten. Das Verhältnis normalisierte sich erst viel später. Ich kann nicht feststellen, daß Meister damals direkt Einfluß auf Borns Schreiben gehabt hätte.11

Mit Ton Naaijkens, dem allerdings die frühesten Gedichte, wo dies besonders deutlich wird, noch nicht einmal vorlagen, ist an einem Einfluß von Ernst Meister auf Borns frühe Lyrik festzuhalten.12 Die lyrischen Anfänge zeigen eine enge Anlehnung an Ernst Meister, thematisch und hinsichtlich des verwendeten Wortmaterials. Ohne den qualitativen Unterschied leugnen zu wollen, lassen sich vielfältige Korrespondenzen nachweisen, die Belege einer Orientierungssuche sind.

In den 1964 erschienenen Gedichten „Stunde“, „Wiederholung“ und „In der Erwartung“ versucht Born, eine von Meister ins Zentrum gestellte Frage in eigener Dichtung zu bearbeiten. Es ist die Zeitstruktur des Daseins, bestimmt von der unausweichlichen Endlichkeit des Lebens. Die Hinfälligkeit des Menschen wird erkannt als das Wahre, der Tod ist das, worauf das Leben zuläuft. Diesem Unbegreiflichen hat Meister in seiner lyrischen Sprache eine Wirklichkeit gegeben. Die von Meister in seinen Gedichten vorgestellte Zeitlichkeit ist dabei keine lineare, wie Norbert Gabriel dargelegt hat, vielmehr wird das gängige Zeitverständnis überschritten in einem Versuch, Anfang und Ende zu verknüpfen.

Die spekulative Identität von Anfang und Ende, Sein und Tod ereignet sich in einem besonderen Zeitpunkt.13

Gabriel zieht u.a. das Eingangsgedicht „Der Anfang im Ende“ aus dem 1956 erschienenen Band … und Ararat für seine Ausführungen heran. Mit diesem und den weiteren Gedichten wird Born, der Meister im Gegensatz auch zu Literaturkennern frühzeitig entdeckte und Lesungen von ihm in Essen organisierte,14 vertraut gewesen sein. Die erste Strophe lautet: 

Mit dem Ende maskierte sich tausendfach
Anfang. Zwei Linien, Geschwister
einander in dem Lauf ohne Ziel,
liefen in einem Punkt zusammen,
und du schautest dich an.

Anfang und Ende treffen hier in einem Punkt des Anschauens zusammen, in einem Augenblick. Zeit ereignet sich in der Gespanntheit zwischen Anfang und Ende. Die bildliche Vor-stellung wird paradox, führt (entgegengesetzt, parallel?) laufende und nicht auf ein Ziel gerichtete Linien in einen Punkt über. Ohne der Lyrik Ernst Meisters an dieser Stelle gerecht werden zu wollen, sollte auch diesen kurzen, vorbereitenden Bemerkungen doch offensichtlich gemacht werden können, wie ähnlich Born sich dem Thema Vergänglichkeit nähert und eine solche Stillstellung der linearen Zeitabfolge z.B. in dem folgenden Gedicht umzusetzen sucht. 

IN DER ERWARTUNG

Irden
sind unsere Seelen,
aus einem Ende geboren,
von einer Dauer
gezeichnet.

Morgen,
erzählt nur davon,
das längst verlorene
Morgen, das bleibt uns.
Immer ist es die Ernte,
von Tieren, die Fabel,
von einst, nur
von einst, vom
Winde.

Erzählt nur, es sind
die alten Geschichten,
Staub zu schichten,
zu sterben sind wir,
zu wägen
Wasserkugel und Kreuz

Erzählt nur,
die Tage sind kalt,
ein Himmel ist über
der Schädelstatt.
Brechet das Brot, hebt an
den Gesang.

Kommt näher,
rückt auf, erzählt
meine Brüder der Zukunft
laßt rauschen das Flüßchen
Hoffnung, erzählet
endlich Gezeugte, erzählet
von einer Dauer.

Dieses nach Norbert Brügger möglicherweise schon 1956 (!) entstandene Gedicht15 konstruiert durchgängig die paradox genannte Zeitstruktur. Irdene und damit vergängliche Seelen sind von einer Dauer gezeichnet. Zeile drei verknüpft das Kommende mit dem Vergehenden, im Gedankengang wiederum auffällig Zeilen von Ernst Meister verwandt:

Und denke ich Alpha, so denk ich auch Omega.
Denke das Alpha,

[…]
das zeugen muß.
Denke das Omega, Ende des Samens
.16

Das „längst verlorene Morgen“ (Z. 8 u. 9) zwingt Zukunft, semantisch enthalten in „Morgen“, und Vergangenheit, grammatikalisch realisiert durch das Partizip Perfekt, in eine Nominalphrase, und diese Zeit-Konstellation erkennt das lyrische Ich als das Bleibende, also wohl dauerhafte. Diese Vorstellung bricht jeden linearen Ablauf. Zeit ist demnach vielmehr zu denken als eine Gegenwärtigkeit zwischen Herkunft und Zukunft, in der im Ende der Anfang erinnert wird und im Anfang das Ende präfiguriert ist. So können die „Brüder der Zukunft“ gleichermaßen als „endlich Gezeugte“ angeredet werden. Durch Verwendung der veralteten Flexion („erzählet“) werden sie emphatisch aufgefordert, „Dauer“ zur Sprache zu bringen. Auf diese nicht näher charakterisierte Zeitform, die mit dem unbestimmten Artikel in der ersten und letzten Strophe wiederholt wird, ist die Erwartung bezogen. Erwartung ist nicht auf ein Telos gerichtet, sondern der Titel des Gedichts betont mit der Verwendung des Dativs die Befindlichkeit an einem Ort, nämlich das Verharren in diesem Zustand, ein auch den Tod vergegenwärtigendes In-der-Zeit-Sein.
Die Ablösung der gängigen Zeitauffassung durch eine Dauer, in der Anfang und Ende zusammengedacht werden, gelangt in dem lyrischen Versuch durchaus zur Darstellung, wenngleich andere Darstellungsmittel irritieren.
Mit „Irden“, „Seelen“, „Kreuz“, dem „Himmel“ „über der Schädelstau“ (Str. 4) und der Anspielung auf das Abendmahl in der darauffolgenden Zeile wird ein christlicher Horizont eingeführt, dem die Erwartung einer jenseitigen Ewigkeit eigen ist. In ihm bleiben die Seelen aber nicht allein dem Irdischen verhaftet, das Morgen ist nicht verloren, vielmehr hat die eschatologische Heilserwartung im himmlischen Jerusalem gerade ihr Telos, und die „Fabel, / von einst, / nur von einst“ wie „die alten Geschichten“ behalten in dieser Tradition uneingeschränkt ihre Geltung. In Borns Gedicht läßt sich weder eine eindeutige Distanzierung von der biblischen Überlieferung oder ihre Umdeutung, wie etwa bei Ernst Meister, erkennen, noch möchte man im Anschluß an das vorhin Gesagte an einen ungebrochenen, hymnischen Gesang im Stile mißglückter christlicher Erbauungsliteratur glauben. Nicht entscheiden läßt sich, ob das dreimalig angefügte „nur“ die Aufforderung zu erzählen bestärken oder abwerten soll, da es ja nur die alten Geschichten sind oder ein Trost, der lediglich vorgebracht wird, weil die Tage kalt sind. Zu apodiktisch ist die Feststellung „ein Himmel ist über / der Schädelstatt“ zwischen die Imperative gesetzt. Sie erinnern in dieser Häufung an den Schluß von Ingeborg Bachmanns Die gestundete Zeit (1953),17 haben aber in dieser Verwendung nichts von der schneidenden Notwendigkeit, sondern geraten als lyrische Mittel einer kaum mehr glaubhaften Aufforderungsgeste („Brechet das Brot / hebt an den Gesang“) in eine gefährliche Nähe zum Kitsch.
Möglicherweise versucht Born hier „Lesefrüchte“ aus einer verwandten (Gedankenwelt in Form von Elementen der barocken Literatursprache einzubringen. Die Imperative erinnern auch an die barocke Zeit- und Totenklage, ein Traditionsmuster, aus dem mit der hier herausgearbeiteten Zeitauffassung auch der Vanitas-Gedanke18 vom Gehalt her aufgegriffen erscheint. Borns Gedicht beginnt ähnlich wie viele Sonette von Andreas Gryphius mit einer Aufforderung in der Anrede, hier mit der Anrufung jener, die von der Zukunft künden (erzählen) können. Eine Parallele ergibt sich sowohl zu Gryphius als auch zu dessen Rezeption bei Rolf Dieter Brinkmann hinsichtlich der Aufforderung an die Vorboten des Endgerichts, ihre Pflicht zu tun. „Auff! Jungfern auff! auff Freundin! wacht! erwacht! Auff auff vom Schlaff!“ heißt es in Gryphius Sonett „Auf den Sonntag des Himmlischen Bräutigams / oder XXVII. und letzten nach dem Feste der H. Dreyfaltigkeit“.19 Diesen Beginn wandelt Brinkmann in „Rückt an / rückt an / ihr Himmelsbräute […] so / öffnet uns das Paradies führt / uns das Licht hinab“.20 Bei Born heißt es dann „Kommt näher, / rückt auf / erzählt / meine Brüder der Zukunft“. Die Aufgabe der „endlich Gezeugte[n]“ besteht hier allerdings in der Verkündigung – wenn man vom Inhalt der Botschaft absieht einem weiteren Aufruf bei Gryphius ganz ähnlich: „erzehlet sein Werk“.21 Die Parallele zu Brinkmann ist um so bemerkenswerter, als der Einfluß von Gryphius in dem ersten Gedichtband von Rolf Dieter Brinkmann Ihr nennt es Sprache22 nachgewiesen wurde.23 Sybille Spath kann sich u.a. auf das von Brinkmann dem Andenken des Dichters gewidmete Gedicht „An Gryphius“ stützen. Die als gemeinsam erkannte existentielle Situation mache Gryphius für Brinkmann zum imaginären Zeitgenossen.24 Geht man hier bereits von einer Anregung Borns durch Brinkmann aus, so wäre Borns Gedicht, zumindest seine spätere Bearbeitung, auf die Zeit zwischen 1962 und 1964 zu datieren. Dennoch bleibt irritierend, daß in Borns Gedicht der metaphorische Sprachgebrauch einer christlichen Lebensphilosophie nicht eindeutig ironisch gebrochen ist25 wie in Brinkmanns „Kleines Lied für Unbegrabene“. Verkleidet in den religiösen Topos wünscht Brinkmann dort zynisch das „Ende der Geschichte“ herbei.26 Die Thematisierung einer negativen Geschichtsphilosophie, die aus der Einsicht in das Scheitern der menschlichen Zivilisationsgeschichte resultiert, ist Born allerdings erst später möglich.27 Zu diesem Zeitpunkt ist Born dem eher existentialistisch begründeten Zeitdenken Meisters verbunden. Titel aus dem ersten Gedichtband Brinkmanns wie „Zwischenzeiten“, „Das Sein“, „Im Anfang war das Wort“ und „Das Schweigen“28 lassen bei ihm zwar einen ähnlichen Beginn mit philosophischen Themen vermuten. Brinkmann, durchaus nicht ohne Zugang zur Tradition z.B. über das Vorbild Benn, ist jedoch von Anfang an unabhängiger. Auch da, wo mit „Stille“, „Stein“, „Fäulnis“, „Staub“29 traditioneller Wortschatz gebraucht wird, verwendet Brinkmann ihn schon in der Abkehr von metaphorischem Sprechen, klingt eine Sprachkritik an, deren Gestus später zunehmend radikaler und aggressiver wird.30
Das biblische Wortfeld, ebenso wie die Naturbildlichkeit in den frühesten Born-Gedichten ist der Lektüre von Ernst Meister zuzuschreiben. Für Meister, der u.a. im Zuge seiner Bultmann-Rezeption sein Theologiestudium 1931 abgebrochen hatte,31 weil er die Existenz Gottes bezweifelte, behält der nichtseiende Gott gleichwohl seine Relevanz.

Sein Schatten war freilich noch gegenwärtig bei dem Versuch, ein reines, deutliches Bild des Wirklichen zu gewinnen.32

Bei Meister führt dies zu einer ästhetischen Transformation des biblischen Materials, die gegenüber den vorgegebenen zu gegenläufigen Ergebnissen kommt.33 Genau das ist in dem besprochenen, frühen Gedicht Borns eben nicht zu erkennen, wird dann aber versucht, wie man an dem Gedicht „Auferstehung“ zeigen könnte.34 Die „Schädelstätte“ führte Meister z.B. in seinem 1953 zuerst erschienenen Gedicht „Gründonnerstag“35 an, in dem die Vorstellung von einem Jenseits, einem Paradies eine unmögliche Hoffnung geworden ist. Eine Absage an das christliche Weltbild, mit dem Meister aufgewachsen ist, stellt das Gedicht „Abkunft“ aus dem Band … und Ararat dar.36 Dessen erste Zeile: „Aufgestoßen ist die Pforte zu jener Stunde“ klingt bei Born in dem Gedicht „Wiederholung“ (1964) an, das in Wortgebrauch und Zeitreflexion eindeutiger und enger bei Meister anknüpft. 

WIEDERHOLUNG

Vordem und nachher
von damals zu reden,
einem Abend
auf den Kieselflächen,
vom Lachen der Brandung
das Meer stäubte auf,
eine Blume. 

Damals. Der Wind
mit geteiltem Atem –
er ging in die Schatten,
er ging in die Boote.
Der Mond ließ sich sehen,
noch einmal, so wirklich
wie morgen.

Einmal
werden die Male gezählt,
einmal die Pforten geöffnet
dem Zug der Tage zurück –

bis damals vielleicht.

Fanden sich in „In der Erwartung“ die Zeitbestimmungen „Morgen“, „Immer“ „einst“ „Zukunft“, „Dauer“ so wird die Zeitdimension hier mittels der temporalen Adverbien „vordem“, „nachher“, „damals“, „morgen“, „(noch) einmal“ erschlossen. Die Zusammenführung entgegengesetzter zeitlicher Pole steht weniger unter dem Eindruck der Vergänglichkeit, der existentiellen Schnitte vom Anfang in der Geburt und dem Todesende, denn von Ereignissen, die sich wiederholen können, wie das gewählte Genrebild eines Abends am Meer zeigt. Unaufhörlich sind dort Brandung und Wind, regelmäßig beobachtbar die Mondaufgänge. Diese Gegebenheiten liefern keinen Anlaß, „vordem“ und „nachher“ zu unterscheiden, die Rede von einem damals wird versucht, abgebrochen, dann, in der zweiten Strophe, wird ein Moment herausgegriffen und arretiert: durch die sprachliche Benennung als „damals“. Wie die Linien aus Meisters Gedicht „Der Anfang im Ende“ in einem Punkt zusammenlaufen, rührt hier der Moment des Mondaufgangs im Präteritum als Ereignis der Vergangenheit beschrieben, mit „noch einmal“ der Singularität enthoben, schließlich im Vergleich („so wirklich / wie morgen“) zu einer auch zukünftig vorgestellten Möglichkeit. Der herausgehobene Augenblick verbindet Vergangenheit und Zukunft. Pointiert erscheint diese Verknüpfung gegenläufiger Zeitbewegungen in der Wendung der Schlußzeile:

bis damals vielleicht.

Sie bezieht sich auf die Öffnung der Pforten, die keine Zukunft eröffnet, sondern rückwärts gerichtet ist. Umfunktionalisiert werden so das „einmal“, an dem das Jüngste Gericht die Taten zählt, und die Öffnung der (Himmels-)„Pforten“. Sie bedeuten nicht das Ende aller Zeiten, sondern die Male reihen sich in unablässiger Wiederholung zu einer solchermaßen etablierten Dauer.
Das biblische Vokabular findet ab dem Band Marktlage keine Verwendung mehr. Der christliche Horizont, den Ernst Meister in seinem lyrischen Werk wenn auch in Negation immer wieder einbezieht,37 spielt bei Born später keine Rolle mehr. Die Ausnahme sei erwähnt: In „Dick vermummtes Winterbild“ (G., S. 200f.), 1975 zuerst erschienen, sind Elemente der Weihnachtsgeschichte wie das Kind Jesus, die Herberge, der Kindermord, die Heiligen drei Könige mit dem Alltagsgeschehen montiert. „Die Könige müssen in der Nähe sein – es klingelt,“ heißt es beispielsweise. Die Person Jesus wird dabei zur Figur einer Gegengeschichte („mein Kind, ich sehe es an, es ist Jesus“, „Jesus greift nach meiner Brille, aber vielleicht / will er mich nur segnen“, „Jesus, von mir zu meinem Ebenbild gemacht / damit kommst du nicht weit“) in einem Gedicht, das zwar eindeutig im Stil von Nicolas Born gefertigt ist, aber seine Anregung möglicherweise doch Ernst Meister verdankt, der so ein Verfahren benutzt hat und dem Born in einem Schritt folgt: Jesus wird zur rein weltimmanenten Gestalt, jede Ausrichtung auf eine Transzendenz wird aufgegeben.38 Die Gedichttitel „Advent“ (G, S. 65) und „Tag in Osternähe“ (G, S. 93) haben keinen tieferen Bezug auf den christlichen Kontext, sie dienen nur noch der Angabe der Jahreszeit.39
Langsamer als die biblischen Reminiszenzen verliert sich die bei Meister entlehnte Naturbildlichkeit, während die Hineinnahme des Todes in das Leben ein Thema seit den ersten Gedichten bleiben wird.
Born hat in „Stunde“, neben „Wiederholung“ im Jahresring (1964/65) abgedruckt, ein weiteres Mal das Verstreichen der Zeit und das In-der-Zeit-Sein im lyrischen Sprechen zu fassen gesucht. In der Verschlüsselung der Sprechweise und der Darstellung existenzphilosophischer Problematik qua Naturmotivik kommt Born hier Meister am nächsten.40 Stellvertretend für den Wortgebrauch auch in den sieben Gedichten, die im Essener Liederbuch erschienen, sei dieses Gedicht hier wiedergegeben.41

STUNDE

Kam ich. Ein Schatten
schlug mich zu Staub.
Ein Halbschlaf träumte
Gestein, dem unaufhörlichen
Wandern ein Haus
der Stirn
diese kühle Stunde.

Ich könnte sagen
von dir, geringe
Endlichkeit, von Gebirg,
Getäl in deinen Armen,
vom leisen Tropfen, ich folgte
immer den Wassern
deines Geschmeides.

In dir ist die Stille
ein weißer Vogel,
der fliegt seine Kreise,
der baut sein Nest
in dein Tor.

Der Motivbestand von „Schatten“, „Staub“, „Gestein“, „Stirn“, „Wasser[n]“ ist dem bekannt, der einmal die Lyrikbände Ernst Meisters aufgeschlagen hat.42 Born konnte ihn beispielsweise in den Bänden Zahlen und Figuren (1958) und Die Formel und die Stätte (1960) kennenlernen. Der „Schatten“ taucht in den Gedichten „Das Gegenüber“ und „Bei Mondenschein“ (im Essener Lesebuch) wiederum auf, „Wind“ und „Mond“ kommen hinzu, auch „Kiesel“, „Kieselflächen“. Auffällig weiter die „Asche“ in „Auferstehung“ und „Ich weiß ein Haus“, da in Verbindung mit „Pforte“ und „Haus“. Die Zeilen dort „Im Haus ist Asche, / die Betten und Bänke / Asche wie von Liebe“ erscheinen als Widerhall, liest man zuvor „Asche liegt / auf der Schwelle, du weißt, / welcher Hochzeit…“ in Meisters Gedicht „Asche“.43 „Ich weiß ein Haus“ und „Stunde“ führen ein anderes, klassisches Motiv aus, das des Wanderers, dem Haus und Rastplatz fehlen.
Ein weiteres Mal werden Lektüreerinnerungen beschworen, wenn in „Das Gegenüber“ die Schatten der „Flößer“ und „Fahrenden“, die auf der Wasseroberfläche widerscheinen, beobachtet werden. Aufgerufen wird das Bild des Schiffers aus Meisters Gedicht „Zeigen“,44 der „vom Wassertod gefangen“ von unten an die Wasseroberfläche stößt und „uns fahrenden Schiffern /“ „eine Handvoll / Graues vom Grunde“ zeigt. Die selten gebrauchte Vokabel das „Ried“ am Flußufer ist ebenfalls diesem Band Meisters zu entnehmen.45 Interessant, weil charakteristisch für Born, ist in dieser Gegenüberstellung die Veränderung der Position des lyrischen Ichs. Befindet es sich in „Zeigen“ gemeinsam mit den Schiffern auf dem Fluß, so heißt es, in Borns Schlußstrophe:

Ich also abseits.
Mein Schatten
auf Trocknem
vertäut.

Typisch ist die Beobachterposition, die Abgrenzung von den Flößern, deren Schatten tauchen, „nicht so meiner“, wie betont wird. Das lyrische Ich ist nicht nur auf dem Trockenen lokalisiert, sondern auch aus dem Fluß des Geschehens herausgenommen, an dem es nicht teil hat.
Der Hinweis auf die Vogel-Metaphorik mag die Analyse des Motivbestandes abschließen. Bei Ernst Meister durchgängig eingesetzt, verwendet Born sie nur in dreien der Anfangsgedichte. Nicht nur, daß der „Reiher“ in Auferstehung „Heimkehr“ symbolisiert, läßt aufmerken oder die sinnbildliche Gleichsetzung von „Vogel“ und „Stille“ in Stunde. Schlagend ist die Ähnlichkeit, mit der im Bildaufbau Vogel und Baum verbunden werden. „Gefieder weiß ich, / stilles, / in der Buche“ lautet eine Zeile bei Ernst Meister,46 „Wurzelnacht / klebt im Gefieder“ heißt es in Borns „Blaulaub“. Die merkwürdige „Übernachtungsstätte“ an der Wurzel, zusammen mit der Bewegung des niederfallenden Laubes und der Federn sowie der Schlußzeile „letzte Federn“ evoziert Vergänglichkeit, für die bei Meister z.B. in „Fall“ und „Skorpion“ das Motiv der fallenden Federn symbolhaft steht.47 Die Zeilen aus letzterem Gedicht: „Des Vogels ausgerißne Feder / tunkt hin ins feucht / Verwesende“, die auf symbolhafter Ebene auch Dichter und Schreibutensil einbeziehen, können hier allerdings auch einen Unterschied, die größere Komplexität von Meisters Gedicht vor Augen führen.

Neben den deutlichen Anklängen an Ernst Meister erstaunt gegenüber der Lyrik, mit der Born bekannt wurde, in den ersten veröffentlichten Gedichten das Bestreben nach einem bedeutungsvollen, von der Alltagssprache geschiedenem Ton. Es äußert sich in gewählten Ausdrücken wie „spleißen“ („Auferstehung“), „von Wasserstaub genetzt“ („Das Gegenüber“), „Nachen“ („Haltend die Standarte), „Wassern“ („Stunde“), „Zenit“ und „himmelan“ („Jahrmarkt“). Born benutzt veraltete Formen wie „Gebirg“, „Getäl“ („Stunde“), „erzählet“ („In der Erwartung“) und ausgestellte Genitiv-Konstruktionen „der Flößer Laternen“ („Das Gegenüber“), „der Körper eines Schattens“ („Bei Mondenschein“). Metaphern wie „die stillen Seen / Deiner Augen“ („Haltend die Standarte“), „Vom Lachen der Brandung“ („Wiederholung“), „ich folgte / immer den Wassern / deines Geschmeides“ („Stunde“) und gesuchte Bilder „Den bunten Waldwind / im Nachen entführend“ („Haltend die Standarte“) sind dem Autor (noch) nicht verpönt. Im Bereich des Rhythmischen ist bemerkenswert der hymnische Tonfall in dem ersten der hier besprochenen Gedichte, der in acht aneinandergereihten Imperativen gipfelte. Und sogar ein Gedicht im trochäischen Versmaß findet sich am lyrischen Beginn Borns:

Blaulaub fällt
in kalte Böen…

(„Blaulaub“). 

Borns lyrische Anfangsversuche erweisen sich in Wort- und Motivwahl, in gelungeneren Gedichten wie „Stunde“ auch rhythmisch auf die Gedichte Ernst Meisters rückführbar, ohne daß man im Einzelnen von Vorlagen reden könnte. Born nutzt Meisters Kanon der Naturmetaphorik und ist in dieser Vermittlung von der hermetischen Sprechweise, von der Metaphern- und Symbolsprache der 50er Jahre Lyrik beeinflußt. Kennt man nur den Born des unprätentiösen Ausdrucks, den Tonfall der Beiläufigkeit in einer Lyrik, die geheimnislos sein will, die Absage an Metapher und Symbol, so erstaunt die lyrische Sprache dieses Beginns. Es scheint Vorsicht geboten, die frühesten Schriften unter den Vorzeichen der späteren zu interpretieren. Sie dokumentieren die Anfänge eines noch ganz jugendlichen, Orientierungen und sich selbst suchenden Autors – nicht mehr und nicht weniger.
Zum Schluß dieser Phase sei das zweitälteste der wiederentdeckten Gedichte zitiert. Mit dem traditionellen Instrumentarium evoziert Born hier die Atmosphäre der Fremdheit zwischen einem Liebespaar. Als einer der thematischen Stränge, an denen Born die Entfernung des Ichs aufzeigt, ist dies in der Lyrik bis zur qualvollen Trennung von Mann und Frau in Die erdabgewandte Seite der Geschichte oder den Liebesbemühungen von Laschen in Die Fälschung immer wieder zu verfolgen.
Die Metapher des herabsinkenden Herbstes deutet das Ende der Beziehung voraus, während die uneingelösten Erwartungen (die nie begangene Spur) sich auch nicht mehr erfüllen werden. Forsch wird der locus amoenus als beschädigtes Idyll ausgewiesen: der Mond als Gefährte der Liebenden bleibt zurück. Die Forderung („da sollte doch“) klingt eher frech als klagend. Sie nimmt so schon etwas auf von dem respektlosen Umgang Peter Rühmkorfs mit dem Mondmotiv auf. 

LIEBESGEDICHT, UNFERTIG

Da sollte doch
der Mond
mit uns wandern,
den Hang hinauf,
wo die Linden
sich wenden
beim Vorübergehn.

Das ist ein Himmel
zum Erinnern:
Herbst sank herab,
uns auf den Weg.

Weit voraus
zieht die Spur,
von uns nie begangen,
und fremde Gräser
sehen wir nahen,
Du und ich,
so fremde Augen,
Du und ich.

 

3.2 Vom Tonfall des Existentiellen zur lakonischen Bestandsaufnahme
Zur Rekonstruktion der Werkgenese, einem der hier angestrebten Ziele, ist es aufschlußreich, den sich verlaufenden Spuren der Meister-Lektüre im Übergang zu den Gedichten des Bandes Marktlage nachzugehen.
Das existentielle Pathos ist in Marktlage abgelöst von der nüchternen Stimmung einfach nur dahingestellter Situationen und Details. Die Entwicklung ist an dem Gedicht „Das Weiterkommen“ (G, S. 39) gut zu beobachten. Der Titel stellt einen konstitutiven Faktor menschlicher Existenz vor, das Gedicht beginnt dann aber im sachlichen Bericht-Stil: 

Wer geht kommt weiter.
Ich habe dagegen gesagt: es ist
das Gehen –
kein Vorankommen.
aaaaaaaWir haben Vögel geortet
essenden Schwarm, Luft und Wasser
nahmen von ihm, es war
kein Vorankommen     Fallen.

Unsentimental, objektiv konstatierend vorgebracht finden sich hier Reminiszenzen an die Gedankenwelt Meisters.48 Der hatte einen Gedichteingang mit ganz ähnlicher Aussage begonnen: 

Es ist das Gehn, der Weg
und weiter nichts
.
49

Zwei Seiten darauf folgt das Gedicht „Fallen“ mit den Zeilen:

Fallen.
Nicht Flügel breiten sich
jenseits der Welt.
[…]
Fallen,
durch das vielmehr Ende dem Anfang gleicht
.50

Beziehen sich die Flügel in der Strophe bei Meister auch auf Engel, während Borns lyrisches Ich auf die Vögel rekurriert, so stimmt die Gestaltung der Unerreichbarkeit von Zielen in der Denkfigur des Unterwegsseins doch überein. Erteilt wird die Absage an ein in der Zeit erreichbares Ziel der Bewegung zugunsten der Dauer des Gehens. Borns Zeile „kein Vorankommen“ mit dem typographisch abgesetzten „Fallen“ setzt dem Weiterkommen sogar stattdessen das Ende im Tod entgegen. Wider Erwarten bringen die Lebenselemente Luft und Wasser dem essenden Vogelschwarm Verluste bei („nahmen von ihm“). Die Leerstelle im Druckbild birgt elliptisch (!) das Bild niederfallender Federn, deren Bedeutung als Zeichen von Vergänglichkeit und Tod so ganz unpathetisch zur Geltung gebracht werden kann. Nach dem Bild der fahrenden Züge in den folgenden Zeilen wird die existentielle Situation in „Das Weiterkommen“ schließlich trivialisiert: 

[…]
essen wir am Wannsee Spiegeleier
von der holländischen Klasse A.
aaaaaOder wir kommen nicht weiter
und kehren um (da steht ein Warnschild)
mein Freund, 5 Gehminuten entfernt
von Kleist, liegt im Bet
t […] 

Der Fortgang scheitert nun ganz banal an einer Art Sperrschild. Die Verbindung mit Alltagssituationen ist hergestellt, die Warenwelt („Spiegeleier von der holländischen Klasse A“) hält Einzug ins Gedicht und bietet anstelle der Natur ein Reservoir von Gegenständen, die nicht mit Bedeutungen aufgeladen sind, wie dies sich innerhalb der Konventionen lyrischen Sprechens herausgebildet hat. Es zeigt sich eine Befreiung von der Symbolik, der Tiefendimension abendländischer Lyriktradition. Auch der „Freund“ als Teil des wirklichen Autor-Lebens findet nun Platz in einem Gedicht, seine Aufnahme in das poetische Konstrukt verkörpert den Einfluß amerikanischer Gedichte auf Born, der noch zu besprechen sein wird. Im Interview mit Volker Hage (September 1979) hat der Autor sich dazu bekannt:

H.: „Wer hat eigentlich hier eingeführt, daß Freunde in Gedichten namentlich vorkommen?“

B.: „Das weiß ich nicht genau. Ich habe das gemacht, weil ich es von amerikanischen Beispielen her kenne. Also vielleicht bin ich hier der Urheber der Literarisierung von Freunden, ich nenne die Dinge und Menschen beim Namen.“ (lacht)

H.: „Was bedeutet das?“

B.: Das bedeutet nicht mehr oder weniger, als daß man seine Freunde mal an den Platz bringt, wo man sie gern sieht. Solange die Freunde in der Wirklichkeit da sind, gibt es keinen Grund, daß sie in den Gedichten plötzlich nicht da sein sollen. Das ist doch sehr schön: man macht die Freunde auch ein bißchen bekannt dadurch.51

An dem Gedicht lassen sich verschiedene, deutlich erkennbare Traditionen aufweisen und dies zeugt entgegen seiner Aussage, bezieht man sie auf die lyrische Entwicklung des Autors, für die Möglichkeit weiterzukommen. Ein Entwicklungsschritt ist ebenfalls an der Verwendung des Mond-Motivs ablesbar. Dieses zentrale Motiv deutscher Lyrik schien Born in „Bei Mondenschein“ und in „Wiederholung“ wie Meister ungebrochen nutzbar. In „Fall“ (G, S. 50) ist es ihm jedoch nur noch auf ironisch-distanzierende Weise verfügbar:

Nach einer üppigen Zeche in diesem hinlänglich bekannten Lokal
traten sie hinaus in die Nacht
es lief alles glatt für den Angeklagten
der Vollmond (!) schien und auch sonst

Das Ausrufezeichen weist mit Nachdruck auf die Wahl der Szenerie hin. Der literarische Topos wird denunziert. Die Beschreibung des Environments endet abrupt im Satzanakoluth. Die Evokation des klassischen Bildes, in dem die Zwiesprache des Ich ihren Ort findet, wird somit bewußt vermieden. Der Mond kann nicht mehr wie im Naturgedicht als Projektionsfläche des eigenen Selbst fungieren, der Vollmond ist nun bloße Dekoration, Element der Umgebung ohne weitreichende Bedeutung, zum Vorweis einer sogenannten „romantischen“ Stimmung auf dem gemeinsamen Fußweg von Freier und Prostituierten allenfalls ironisch anführbar. Möglicherweise ist Born durch Peter Rühmkorf auf die Historizität des Mond-Motivs aufmerksam geworden. Born schätzte bereits dessen Band irdisches Vergnügen in g sehr,52 und Rühmkorf war einer der Lehrer beim Literarischen Colloquium in Berlin. 1962 hatte er sich in seinen „Abendliche[n] Gedanken über das Schreiben von Mondgedichten53 mit dem inhaltsleeren Formalismus eines Großteils der deutschen Nachkriegslyrik auseinandergesetzt und seine Gedichte, in denen er die Techniken von Ironie, Groteske, Parodie, Verfremdung zum respektlosen Umgang mit den Standards der Tradition nutzt, als „Gegengesänge“54 aufgeboten. Rühmkorf nimmt die Eroberung des Weltraums durch die sowjetischen Kosmonauten zum Anlaß, das Ende der langen Traditionslinie der Mondmetapher als literarische Projektionsfläche auszurufen. Unmöglich wird es dem „Poet“ von nun an, „zwischen sich und dem Monde metaphorisch zu vermitteln“.55 Rolf Dieter Brinkmann, der seinen ersten Gedichtband von 1962 „dem roten Rühmkorf“56 gewidmet hatte, problematisierte dort gleichfalls diese Tradition: „der Mond / den Eichendorff besang / ging längst hinüber ins Unbekannt“,57 und er formulierte in dem Gedicht „Bild“ eine Absage an den literarischen Topos, zu dem sich die Wahrnehmung des Mondes in der Vorstellung verdichtet.58 Die lapidare Feststellung im Gedichteingang: „Nun geht / der Mond / wieder auf. / Das alte / Mißverständnis…“ reduziert das Phänomen auf einen alltäglichen Naturvorgang und befreit die Perzeption vom literarischen Muster, das die Realität verstellte. Born hat diese Entwicklung in der Lyrik mitvollzogen.
Auch das zweite Gedicht in der Erstausgabe von Marktlage ermöglicht einen Einblick in die Genese des lyrischen Werks von Born.

DIE FOLGEN, DIE NEUIGKEITEN

Verrott von Tagen und Taten (langsam
entsteht ein hügeliger Landstrich)
teils Trödel – man findet die Griffe
aus Porzellan und Blech
die Schichtungen aus Hergebrachtem.
aaaaaAlles spricht
aaaaavon den Folgen.
aaaaaAlles spricht
aaaaavon Neuanschaffungen
Verrott
der durch die Häute wächst.

Der Progreß wird sichtbar, entsinnt man sich des bei Meister dominierenden Themas, der Vergegenwärtigung der Endlichkeit und des Todes. „Verrott und Dunkel“ liegen der Welt zu-grunde (wörtlich!). „Der Grund kann nicht reden / Der schreibt kein Tagebuch, / Grund der aus Totem und Toten steht […] Er, behäuft mit Verrott und Dunkel,“ heißt es bei Meister.59 Immer wieder hat er Untergang und faulende Verwesung, darin an Benns Gedichte anknüpfend, in seiner Bildwelt geradezu beschworen:

Licht
der Kamille, falben

vergor
zwischen Aschen.
So rasen wie grünes
Verderbens quoll,
überwälzend Nesseln
60

Das lyrische Ich spricht vom „Brachfeld voll Unkraut“61 und hält fest: 

Verbrieft ist Moder.62

Born hatte diese Motivik aufgenommen etwa in Auferstehung:

Verweht sei die Asche,
sagte das Flüstern,
längst sei sie vermischt
mit dem Müll am Grund
.63

Das vom Ende durchdrungene Leben faßt Born in „Die Folgen, die Neuigkeiten“, das später den Sammelband eröffnet, in eindrucksvolle, über Meister hinaus auf Benn verweisende Zeilen:

Verrott
der durch die Häute wächst.

Bei genauerem Hinsehen aber zeigt sich, daß Born das in der Herkunft belegte Wortmaterial nun in neuem Zusammenhang gebraucht. Denn in dem Gedicht ist die Ebene der Reflexion von elementaren Daseinsbedingungen geöffnet für historisch-gesellschaftliche Gegebenheiten und die „Existentialien“ des Wirtschaftswunderlandes. Was verrottet, sind „Tage und Taten“, außerdem „teils Trödel“. In der Schrittfolge a) gewichtige Vergangenheit und b) banales Alltagsdetail werden die „Schichtungen aus Hergebrachtem“ bestimmt, die hier den Grund bilden. In der zweifachen Nutzung des suggerierten Bildes weiter Müllhalden, metaphorisch für die Entsorgung der Vergangenheit und ,realistisch‘ für verbrauchte Waren, werden die historisch-moralische und die alltagsfunktionale Ebene verschränkt. Es gelingt ein Schlaglicht auf die Grundlagen der Gesellschaft, die sich auf die restlose Beseitigung aller Kriegsfolgen in einem Wieder-Aufbau, wie Heinrich Böll betonte, verständigt hat. Dafür steht in dem abgesetzten Mittelblock anaphorisch das „Alles spricht“. Schon das Gedicht „Reste“, im Sammelband nicht enthalten, aber in der Erstausgabe von Marktlage dem hier besprochenen Gedicht vorangestellt, hatte diesen Kontext aufgebaut und das notorische Weitermachen der Westdeutschen kritisiert. Die Herausbildung einer eigenen Gedichtsprache läßt sich schließlich daran beobachten, daß die bekannte Figur des Endes im Anfang gewandelt wiederkehrt. „Neuanschaffungen“ stößt in der nächsten Zeile an „Verrott“, kombiniert wird das bis dahin als unlyrisch geltende Wirtschaftsvokabular mit dem tradierten Begriff, der in diesem Kontext dem großen Bedeutungston enthoben ist. Das Gedicht vermag auf diese Weise gleichermaßen grundsätzlich wie ungezwungen alltagsnah zu sprechen. Im Neuen bleibt das Alte „aufgehoben“: Verrott erscheint als Grundlage einer hier mehr gesellschaftspolitisch erfaßten Wirklichkeit.
Ein weniger gelungener Versuch kann verdeutlichen, was das Gedicht „Die Folgen, die Neuigkeiten“ leistet.

Aussicht

Es ist die Wut
auf Mutter Seel’ und Knochen:
ich werde aufgefunden krank
den Kassenschein im Mund zum Überleben –
schon hat die Erd’ mich wieder eingesackt.

Die Gestaltung des Vergänglichkeitsbewußtseins dieses Gedichts aus Marktlage (M, S. 24) bleibt dem Stil von „In der Erwartung“ verhaftet. Die im Auslaut verkürzten Wendungen „Seel’“ und „Erd’“ wirken obsolet, genauer: der barocken Literatursprache entnommen,64 der Übergang zur modernen Sozialversicherungswelt gelingt nicht. Ihr Symbol, der „Kassenschein“ bleibt isoliert im Wortfeld des Gedichts, daran kann auch der versuchte locker-flapsige Ton („eingesackt“) nichts ändern. In den Sammelband hat Born das Gedicht nicht aufgenommen. 

In Marktlage lassen sich neben jenen von Ernst Meister auch noch andere Lektüre-Spuren ausmachen. Das folgende Beispiel ist singulär, zudem von Born aus dem Sammelband ausgeschlossen und gehört damit wohl zu Recht in die Rubrik Übergänge. Hans Christoph Buch hat zuerst darauf hingewiesen, daB Brechts „Vom armen B. B.“ die Vorlage für das Gedicht „Zyklus“ (M, S. 49f.) abgegeben hat.65 Übereinstimmend im Wechsel zwischen der Kundgabe des einzelnen Lebenslaufs und den Lebensumständen einer Allgemeinheit werden die Koordinaten eines Lebens vorgestellt. Läßt sich der Sprecher im Falle Brechts als Stilisierung des Autors identifizieren. „Ich, Bertolt Brecht, bin aus den schwarzen Wäldern […] Ich, Bertolt Brecht, in die Asphaltstädte verschlagen“,66 so bleibt das lyrische Ich in Borns Gedicht namenlos, erfährt seine Identität vornehmlich über die Herkunft aus der Region:

Meine Kleider sind Fetzen von Jahren, absolut
bin ich ein zages Gewächs aus dem Westen
der niederrheinischen Tiefebene
[…]
67

Dieser Menschenschlag ist es, der in der ersten Person Plural auftritt, während bei Brecht mit dem „wir“ sowohl ein persönlicher Freundeskreis (Str. 5) wie das Kollektivsubjekt Menschheit (Str. 7 u. 8) spricht. In Zyklus wird ein Lebenslauf vorgestellt, der vor allem die Bedingungen und Eigenheiten des Landes „zwischen Rhein und Ruhr“ zur Darstellung gelangen läßt: chronologisch, in drei unterschiedlich langen Strophen und einem Absatz, von der Kindheit („Badende / in den toten Armen des Rheins“) über die Berufsausbildung („wir hielten / in allen Berufsschulen Augen und Ohren offen“) bis zum Arbeiter und Frühinvaliden. Born orientiert sich nicht an den vierzeiligen Strophen und dem Reimschema, aber er überträgt das deklamatorische Pathos, mit dem Brecht seine Bohemien-Existenz „in der Stadt“ stilisiert, auf eine Landschaft und ihre Menschen, denen er mittels der literarischen Vergegenwärtigung ein Denkmal setzt. Möglicherweise haben diese „Verwandtschaft im Ton“ sowie die Vielzahl rhetorischer Figuren im Satzbau wie im Bildbereich Born bewogen, dies Gedicht nicht der Auswahl zuzuschlagen, mit der er sich als Lyriker vorstellen wollte.

Indes ist hier bereits an eine andere Vor-Gabe Brechts zu erinnern. Dessen formale Struktur einer „reimlosen Lyrik mit unregelmäßigen Rhythmen“ ist nicht nur dem gesamten lyrischen Œuvre Borns eigen, sondern auch demjenigen Brinkmanns und der „Alltagslyrik“ der siebziger Jahre.

Für die Anfänge in der Lyrik, Einzelveröffentlichungen, die auch nicht überbewertet werden sollen, war die Herkunft von Ernst Meister zu belegen. Die späteren Beispiele aus dem ersten eigenständigen Lyrikband konnten immerhin verdeutlichen, daß Born kein dilletierender Bewunderer dieser Lyrik war, sondern ein genuines Interesse an den genannten Themen hatte und sie in seinem Stil weitergeführt hat. Der hohe Ton und die ausgestellte Bedeutsamkeit der Wörter verlieren sich. Born gewinnt damit Anschluß an die Entwicklung deutscher Lyrik wie man sie etwa bei Brinkmann forciert vorfindet. Der hatte sich auf poetologischer Ebene dezidiert und radikaler mit der Traditionslinie und den Positionen der deutschen Nachkriegslyrik auseinandergesetzt. In seinem Gedicht „Schreiben, realistisch gesehen“68 wird der Blick noch nüchterner als in „Die Folgen, die Neuigkeiten“ auf die Abfallprodukte und Errungenschaften der Zivilisationswelt gelenkt:

Worüber
kann ich noch schreiben
vielleicht ein Gedicht
über zerschlagene Waschmaschinen
über Straßenbau oder
junge Ehen

[…]
das Meer, das Meer
das zerstört
werden wird
in einem anderen Gedicht

Der scheinbar geheimnisvolle, über sich selbst hinausweisende Charakter der Natur wird gekappt. Die Natur als Reservoir von Metaphern hat ausgedient, ihre Elemente können nicht mehr mit symbolischem Gehalt befrachtet, mit der Bedeutung aus der Tiefe abendländischer Tradition beladen werden. Den neuen Gegenständen des Gedichts haftet nichts Geheimnisvolles mehr an.

Für Brinkmann bietet die Natur keinen Raum der Selbstvergewisserung mehr. […] Er [verwirft] die Gültigkeit des metaphorischen Sprechens durch die Konfrontation mit der konkreten Realität.69

Das Gedicht „Zwischen den Zeilen“, ebenfalls zwischen 1963 und 1964 entstanden, zeigt, wie früh Brinkmann dies in poetologischer Weise reflektiert hat: 

ZWISCHEN DEN ZEILEN

Zwischen
den Zeilen
steht nichts
geschrieben.

Jedes Wort
ist schwarz
auf weiß
nachprüfbar.

Die bereits mehrfach angeführte Arbeit von Sybille Späth zeichnet die Entwicklung Brinkmanns anhand seiner Auseinandersetzung mit den Positionen der Nachkriegslyrik, die auf diese Weise zur Darstellung gelangen, nach. Bei Born ist das in der frühen Lyrik, vor dem Erscheinen von Marktlage mit den ersten poetologischen Äußerungen, so nicht möglich. Sein Blickfeld ist im Bereich der Lyrik den publizierten Texten zufolge im wesentlichen auf Ernst Meister konzentriert, wohingegen Brinkmann „in den ersten fünf Jahren seines lyrischen Schaffens […] an der Destruktion des traditionellen Kunstbegriffs [arbeitet], indem er das herrschende Lyrikverständnis in seinen Texten immer wieder angreift und radikal in Frage stellt.“70

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1. Einführung

Das Werk von Nicolas Born ist erst noch wiederzuentdecken. Born führte mit seinen beiden letzten Romanen die Bestenliste des Südwestfunk-Literaturmagazins an.71 In dem Roman Die erdabgewandte Seite der Geschichte fand Heinrich Vormweg „exemplarisch die Geschichte einer bestimmten Generation in einer bestimmten Phase interpretiert“.72 Marcel Reich-Ranicki eröffnete gar die Buchmessen-Ausgabe seines Blattes mit der Besprechung dieser Neuerscheinung, in der er das von ihm oft vergebens gesuchte „Aroma dieser Jahre [fand], ein Stück Lebens unserer Zeit“ n- wenn der Roman auch „kein Meisterwerk“ sei.73 Auch Die Fälschung galt Vormweg als ein „exemplarischer Roman dieser Jahre“.74 Vor allem aber als Lyriker, insbesondere mit dem Band Das Auge des Entdeckers, bewegte Born die Rezensenten zu teilweise enthusiastischen Kritiken.
Es scheint, als sei mit „diesen Jahren“ auch die Wertschätzung des früh verstorbenen Autors vergangen, als sei die zunächst beachtliche Rezeption seines Werkes abgebrochen. In der Tat sind die Unterschiede etwa zu Rolf Dieter Brinkmann, dessen Werk zeitlebens Unverständnis wie vernichtende Ablehnung erfuhr und für den nun eine Aktualität reklamiert wird,75 die sich in editorischen Anstrengungen wie literaturwissenschaftlichen Bemühungen um sein Werk zeigt, bemerkenswert. Die geradezu gegenläufigen Popularitätskurven der zeitgleich schreibenden und „unversöhnlich befreundeten“76 Autoren kann mit dem Hinweis auf ihre recht unterschiedlichen Persönlichkeiten nicht angemessen erklärt werden. Der eine, 1979 verstorben, galt als gesellig, beliebt77 und im Literaturbetrieb etabliert, während man den anderen, Brinkman, 1975 ebenfalls sehr früh ums Leben gekommen, für schwierig hielt und seine aggressiven Äußerungen als provozierend empfand. Nicht auf die Persönlichkeiten ist der Blick zu lenken, stattdessen auf Themen, Verfahrensweisen und Strukturen ihrer Werke. 

Den Ansprüchen einer Monographie folgend soll hier die fehlende literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Werk Nicolas Borns eingeleitet werden. Dazu waren verschiedene Voraussetzungen erstmals herzustellen:
– die Sicherung von biographischen Angaben
– ein vollständiger Nachweis des Textbestandes
– und die Rekonstruktion des bisherigen Forschungsstandes. 

Die Lebensdaten von Nicolas Born, mit denen bisher verbreitete Angaben auch korrigiert werden, sind im Anhang zusammengestellt. Auf diese Weise wird der Trennung von interpretatorischer Arbeit am Werk und biographischen Bemühungen um den Autor in der Anordnung der verschiedenen Bereiche, in denen diese Untersuchung das Werk von Nicolas Born erschließen will, Rechnung getragen. Wo ein Verweis auf biographische Fakten aus entstehungsgeschichtlichen Gründen und zur Explikation verwendeter Motive wichtig erscheint, erfolgt er an Ort und Stelle. Auf die Problematik, Texte der siebziger Jahre als autobiographische zu lesen, – einer Lesart, der auch die Autoren mit dem Anspruch auf Authentizität Vorschub geleistet haben –, wird mit Bezug auf einige Beispiele von Born in einem Exkurs nach dieser Einführung eingegangen.

 

1.1 Zu Werkumfang und Textbestand
Die Bemühungen von Rolf Haufs, die theoretisch-essayistischen Texte in dem Band Die Welt der Maschine zu versammeln, und jene von Ralf Junkereit, die frühen Erzählungen in dem Band Täterskizzen zusammenzutragen, haben sicherlich die wesentlichen Texte von Nicolas Born dem Publikum zugänglich gemacht. Die bisher gedruckten Texte sind in der Folge aber auch mit der Bibliographie, die Martin Grzimek für das Kritische Lexikon der deutschen Gegenwartsliteratur erstellt hat, noch keineswegs vollständig nachgewiesen.78 In den oben genannten Sammelbänden stimmen zudem die Daten der Erstveröffentlichung nicht immer, so daß bisher für eine Darstellung der Entwicklung des Autors, wie sie hier angestrebt wird, wichtige Voraussetzungen fehlten.79

Nachforschungen förderten eine Reihe von Texten zu Tage, die das Bild der Genese der Werkreihe vervollständigen. So zeigen einige Zeitungsbeiträge, Rezensionen in Zeitschriften und Hörfunk, daß Born von Anfang an und durchgehend zeitgenössische Literatur bzw. jene, die er für wichtig hielt, besprochen und vermittelt hat.80 Die 28 Gedichte, die in (heute) entlegenen Publikationen gedruckt und im Zuge dieser Arbeit wiederentdeckt wurden, sowie zwei Gedichte, die nur als Hörfunkaufnahme vorliegen, erweitern die Sicht auf das Spektrum seiner lyrischen Produktion um ihren Anfang im Stil einer hermetischen, sichtbar an Ernst Meister angelehnten Lyrik. Das posthum veröffentlichte „Frühlingsgedicht“81 steht nun an ihrem Schluß. Diese lyrischen Produkte zeigen auch einen Gedichteschreiber, der zu entsprechenden Anlässen launig Gelegenheitsgedichte beizusteuern wußte.82 Die in Rezensionen häufig gelobten Nachrufe des Bandes Marktlage werden um einen weiteren ergänzt und auch der Autor dezidiert politischer Gedichte, der im Sammelband Gedichte 1967–1978 schon ein wenig in den Hintergrund geriet, kann mit mehreren Beispielen nochmals in Erinnerung gerufen werden.83
In dem Gedicht „Gruß aus Amerika“ (1970)84 und der einzigen bisher bekannten Tagebuchskizze „New York als Stadt. Tagebuch.“85 wirkt der eigene Amerikaaufenthalt nach. Bekannt sein dürften die „Amerikagedichte“ „Bilanz mit Zwischenfall“, „Gedicht“, „Dasselbe“ und „Landschaft mit großem Auto“ (in Gedichte 1967–1978, Rowohlt, 1978 [Sigel G] S. 154–159) und die sich auf amerikanische Autoren beziehenden Rezensionen und poetologischen Bemerkungen in Die Welt der Maschine. Hier werden eigene Anschauungen formuliert, die sich Born während dieses Aufenthalts und einer anschließenden Reise verschafft hat. Sie ergänzen das ausschließlich aus der Leseerfahrung gewonnene Bild, das die Gedichte der für Born wichtigen amerikanischen Lyriker vermittelten.86
Darüberhinaus zeugt nicht nur die Übersetzung der Gedichte Kenneth Kochs von der Auseinandersetzung mit einem freilich eingegrenzten Spektrum amerikanischer Literatur. Born übersetzte 1970 für Luchterhands Loseblatt Lyrik87 sieben Gedichte von John Batki, Ted Berrigan, Frank O’Hara, Anselm Hallo, David Ray, Wallace Stevens und Eric Torgersen, und 1975 übertrug er im Rahmen des Literarischen Colloquiums Berlin 25 Gedichte von Wang May aus dem Amerikanischen ins Deutsche. Wie sich im Zuge der Nachforschungen herausstellte, übersetzte Born in Zusammenarbeit mit Peter Schultze-Kraft und anderen aber auch aus dem Spanischen (Nicanor Parra und Nicolás Suescún). Eine Ungarnreise nutzte er, um ein Gedicht von Attila József nachzudichten.
Die Lyrik Borns hat mit den Gedichten 1967–78 so etwas wie eine „Ausgabe letzter Hand“ erfahren. Abgesehen von den oben erwähnten weiteren Gedichten sind dort acht Gedichte aus dem Band Marktlage,88 acht aus Wo mir der Kopf steht und zwei aus Das Auge des Entdeckers nicht aufgenommen. Neu hinzugekommen sind zwanzig Gedichte in der Abteilung Keiner weiß mehr. Das ist eine vergleichsweise schmale lyrische Produktion in den Jahren zwischen 1972 und 1978, in denen Born als Mitherausgeber des Literaturmagazins fungiert und hauptsächlich an seinen Romanen arbeitet. Nachdem die Erstausgaben vergriffen waren, hat erst Rolf Haufs die als „Nachwort“ deklarierten poetologischen Äußerungen Borns des zweiten Lyrikbandes wieder zugänglich gemacht.89 Leider blieb der wichtige Klappentext des ersten Bandes, in dem Born sich auf Charles Olson beruft und die Absage an Symbol und Metapher zugunsten jener damals vielzitierten „rohe[n], unartifizielle[n] Formulierung“ programmatisch vorlegt, vom Wiederabdruck ausgeschlossen. Der Sammelband ist identisch mit der Jubiläumsausgabe, die allerdings dem Leser keinerlei Informationen über den Autor bietet, lediglich die weiteren Bände Borns im Verlagsprogramm anzeigt. Im Druck unterscheiden sich beide aber erheblich von den Erstausgaben. Schlußverse und Absätze sind gekürzt. Weggefallen sind auch die Zeichnungen von Dieter Masuhr, die den Band Das Auge des Entdeckers illustrieren und die Collage aus alltäglichen Illustrierten-Bildern in Wo mir der Kopf steht. Auf vier rot eingefärbten Seiten in der Mitte des Buches finden sich die Abbildungen, die an Brinkmanns Photo-Collagen erinnern. Dieses Experimentieren mit einer Text-Bild-Kombination, das Brinkmann in seinen letzten Werken kultivierte, findet sich allerdings bei Born später nicht wieder.
Einen ähnlich drastischen Eingriff – der zweifelsohne nicht ohne rezeptionssteuernde Konsequenzen blieb – wurde aus verkaufsstrategischen Motiven bei der Gestaltung der Taschenbuchausgaben vorgenommen: Sinnfälliger als die Porträts von Born und des Schauspielers Bruno Ganz waren das Eisblumen-Motiv auf der Umschlagseite der Erstausgabe von Die erdabgewandte Seite der Geschichte und der labyrinthartige Stadtplan von Beirut auf jener der Fälschung.
Abgesehen von diesen Abweichungen weist die Bibliographie zahlreiche Erst-, Wiederabdrucke und Rundfunklesungen der Gedichte nach, die eine hier nicht aufführbare Zahl von Varianten ergeben. Die Analyse einzelner Gedichte sollte solche abweichenden (Vor-) Formen in die Interpretation einbeziehen. Keinesfalls bedeutet der Verzicht auf traditionelle lyrische Formen und eine oftmals weithin der Prosa entgegenkommende Gedichtsprache, daß der Wegfall von Zeilen oder ganzen Absätzen, die Umfunktionalisierung der ersten Zeile als „Überschrift“, eine Veränderung des Zeilenumbruchs oder von Satzzeichen, die sich hier feststellen lassen, un-bedeutend seien.90 Born hat sich im Sammelband meist zugunsten einer Reduktion entschieden. Im Sinne einer „Ausgabe letzter Hand“ können diese Gedichte auch gegenüber den Erstausgaben als die maßgeblichen gelten.
Die Liste vergessener Texte ist jedoch mit der Lyrik noch nicht erschöpft. In die Phase, in der Born utopische Gehalte und Phantasie in die Literatur einbringen wollte, um Gegenbilder zum Bestehenden aufzurufen, gehören nicht nur der Lyrikband Das Auge des Entdeckers und das Kinderbuch Oton und Iton, sondern auch noch zwei weitere, 1974 erschienene, kurze „Texte für Kinder“ mit den Titeln „Im Breiberg“ und „Der König ist einer von den wenigen“, die in zeittypische Anthologien aufgenommen wurden und sich durchaus nicht nur an Kinder wenden.
Ein Nachtrag ist ebenfalls für die diskursiven Texte anzuzeigen. Nach kurzen Bemerkungen in Interviews veröffentlicht Born mit In eigener Sache (1967) den ersten eigenständigen Text zu poetischen Fragestellungen. Im Januar 1968 hielt Born einen Vortrag mit dem Titel „Schlechte Avantgarde? Bewegungen und Veränderungen in der deutschen Lyrik nach dem Krieg“,91 in dem er bezeichnenderweise auf Günter Eichs „Inventur“-Gedicht verweist. Der Autor benennt damit eine Orientierung für sein lyrisches Sprechen, die bisher bei Born nicht gesehen wurde.
In Die Welt der Maschine sind entgegen der editorischen Notiz doch einige für den Hörfunk geschriebene Rezensionen Borns aufgenommen.92 Erstveröffentlichungsdaten sind in der vorliegenden Bibliographie korrigiert. Die Texte lassen sich um vier gedruckte Rezensionen ergänzen, acht weitere aus dem Rundfunk gehörten neben dem oben erwähnten Vortrag in eine solche Sammlung wie schließlich auch die Gespräche mit dem Autor zu seinen beiden letzten Romanen und zu Das Auge des Entdeckers.93
Die Kurzprosa Borns ist im Band Täterskizzen gesammelt. Zur Vervollständigung sind „Ein privates Unglück“94 und „Ländliche Anekdote“ anzuzeigen. Born variiert darin die Darstellung von Gestalten aus dem Ruhrgebiet. Im ersten Fall mit dem Porträt und Niedergang eines an „Staublunge“ leidenden Bergmannes. In „Ländliche Anekdote“95 berichtet ein auktorialer Erzähler konventionell, wenn auch mit ironischen Brechungen, vom Ideologiewechsel in einem Dorf nach dem zweiten Weltkrieg. Im Sinne einer kritischen Ausgabe wäre auch zu überlegen, die „Variation über ein Kapitel aus Gottfried Kellers Der grüne Heinrich96 wie „Beschreibung eines Tatorts“97 doch in den Sammelband aufzunehmen. In der letztgenannten Prosaskizze realisiert Born im Gebrauch der Du-Form eine ungewöhnliche Erzählsituation.
Was sicherlich zur Erschließung des Werkes gehört, ist eine bislang ausstehende Druckfassung der vier Hörspiele,98 die Born zwischen 1966 und 1971 mit verschiedenen Rundfunksendern produziert hat. Auch hier gibt es eine kleine Ergänzung: das von Born so genannte Mini-Hörspiel Gäste, das er während der Zeit in Nürtingen schrieb. Das knapp sechsseitige Manuskript gibt Einblick in den Versuch, durch Einblenden der Stimme des Technikers während der auf diese Art simulierten Live-Aufnahme, die Illusionsebene des Hörspiels zu zerstören.99
Gänzlich unbekannt ist heute wohl, daß Born in einem weiteren Medium versucht hat, seine Wahrnehmung von Alltagsdetails vorzustellen. Sein Fernsehfilm Fernfahrer ist einer von drei Kurzfilmen innerhalb einer 46-minütigen Sendung mit dem Titel Milieustudien.100 Dies war die 4. Folge einer Reihe des WDR zum Thema Skizzen aus dem deutschen Alltag. Leider war der Film nicht zur Ansicht verfügbar. Born selbst beurteilte seine „Studie“ wohl kaum als gelungen. In einem Brief an Marianne und Günter Kunert schreibt er:

Hoffentlich seid ihr nicht, wenn ihr den Film gesehen habt, an mir irre geworden. Die Monotonie des zu langen, gleichmäßig gesprochenen Textes, geht nicht auf mein Konto. Aber was nützen Entschuldigungen.101

Im Kritikansatz ist Born mit dem Rezensenten einig, der befand:

Zwischen dem Leben des Fernfahres und der Stilabsicht des Poeten […] war die Transmission zu weit.

Aus dieser Quelle ist auch zu erfahren, was neben dem Text, der aus dem Off gesprochen wurde, zu sehen war: das Porträt eines Fernfahrers aus Borns Heimatstadt, „Großmarkt Essen, Fuhren nach Frankreich, nach Tirol, Lebensziel: die eigene Tankstelle“.102 Sicherlich erreicht dieser Versuch nicht die Dimension jener Filme von Peter Weiss, auf dessen Einfluß noch zurückzukommen sein wird. Festzuhalten bleibt aber, daß Born durchaus zeittypisch mit Kunstformen experimentiert hat.103

Die angeführten Wiederentdeckungen und Varianten zeigen, daß die Edition Born’scher Texte von einer Gesamt- oder auch kritischen Werkausgabe weit entfernt ist, wenn auch, dies sei wiederholt, das Werk im wesentlichen vorliegt. Diese Feststellung bezieht sich auf Texte, die in unterschiedlichen Buchpublikationen vorliegen, auf bislang nur im Hörfunk und Fernsehen verbreitete Arbeiten und Äußerungen, sowie auf den auch für diese Arbeit leider nicht zugänglichen Nachlaß von Nicolas Born.
Die Frage nach Umfang und Inhalt von Borns Nachlaß konnte auch im Zuge der Nachforschungen, die für diese Untersuchung angestellt wurden, noch nicht befriedigend geklärt werden. Die Freunde H.C. Buch und Rolf Haufs, die Einsicht hatten, zogen sich auf die Auskunft zurück, daß das Wesentliche veröffentlicht sei. Erwartungen werden durch die Tatsache gedämpft, daß das erste Haus der Familie Born in Langendorf/Wendland im September 1976 bis auf die Grundmauern mitsamt eigenen Manuskripten und jener, die von Freunden zur Ansicht vorlagen, abbrannte. Die Witwe Borns, Dr. Irmgard Born, berichtete jedoch, daß im Nachlaß neben Briefen auch unveröffentlichte Prosa und Lyrik enthalten sei, sowie Notizbücher, z.T. mit tagebuchähnlichen Aufzeichnungen. Möglicherweise handelt es sich um Aufzeichnungen in der Art eines Arbeitsjournals.104 Die Korrespondenz ist wegen der Schutzfristen noch nicht zugänglich. Ausnahmen sind jene Briefe von Born, die Peter Handke und Günter Kunert freundlicherweise zur Verfügung stellten. Weitere sieben Briefe an Johannes Bobrowski sind im Deutschen Literaturarchiv in Marbach einsehbar.105

 

1.2 Zu Rezeption und Forschungsstand
Die zahlreichen Neuauflagen und -ausgaben und nicht zuletzt die vielen Übersetzungen zeugen von einem breiten Interesse an Borns Texten. Herausragend ist dabei die Aufmerksamkeit, auf die der Roman Die erdabgewandte Seite der Geschichte stieß, als er 1976 auf der Buchmesse in Frankfurt vorgestellt wurde.
Die Literaturkritik reagierte auf sein Erscheinen mit einem ideologisch weitgefächerten Echo. Übersetzungen des Werkes liegen in acht Sprachen vor, auffallend viele Texte wurden ins Niederländische und Französische übertragen. Hört man auf die Rezensenten, liest die Vor- und Nachwörter der fremdsprachigen Ausgaben, und betrachtet man das Umfeld, in dem die Texte erschienen, so fiel die Wahl auf Born vor allem deswegen, weil Herausgeber und Kritiker in seinen Texten zeitgenössische Tendenzen in typischer Form zu erkennen meinten.
Mit Tendenz ist hier zunächst vor allem jene Literatur gemeint, die von ihren Beobachtern und Interpreten unter Etiketten wie „Neue Subjektivität“ oder „Neue Innerlichkeit“ subsumiert wurde. Im Ausland wurde empfohlen, Born als repräsentativen Autor für diese Richtung deutscher Gegenwartsliteratur zu lesen.106 Hiesigen zeitgenössischen Lesern, die in einem ähnlichen Milieu lebten wie jenem, in dem die Figuren sich bewegen, bot die Lektüre Gelegenheit zu déjá-vu Erlebnissen und der Spiegelung eigener Erfahrung. Ein weiterer Gewinn der Lektüre wurde darin gesehen, Aufschluß über das Bewußtsein einer ganzen Generation (von Schriftstellern) zu gewinnen.
Zudem wurde die Lyrik Borns von vielen Seiten in Anspruch genommen, oft gleichsam „als Beleg“ für die jeweilige Position reklamiert. Hier reicht das Spektrum von Anthologien, die das in der Literatur widergespiegelte Zeitbewußtsein ausbreiten möchten,107 über Vereinnahmungen Borns für die politische Lyrik,108 bis hin zu christlich und ökologisch ausgerichteten Sammlungen, die Borns Gedichte und den Autor für ihren Kontext requirieren.109 Inwieweit hier einseitig, selektiv und unter Verkennung der Werkstruktur Zuordnungen vorgenommen werden, ist zu untersuchen.
Volker Schlöndorffs Verfilmung der Fälschung verstärkte die Rezeption in Verbindung mit dem Zeitgeschehen.110 Über diesen Umweg zum Buch wurde eine Lesart nahegelegt, die die Ebene des Geschehens, dessen Material aus der aktuellen Zeitgeschichte stammte, schon als das „Thema“ betrachtete. Beachtet man jedoch, welches narrative Modell im Erzähldiskurs wirklich geschaffen wird, so muß man den Roman wie den größten Teil des Werkes111 von der Sichtweise der frühen Rezeption lösen, die die Werke vordergründig ausschließlich an ihre Entstehungszeit bindet und diesen Teil der Literatur hinterrücks einem „schnellen Altern“112 überantwortet. Die literarische Bewältigung eines aktuellen Stoffes in der Fälschung führt das Werk nur scheinbar näher an die Aktualität der Ereignisse heran. Es läßt sich zeigen, daß dieser Roman an fernem Spielort und inmitten eines derzeit in den Medien täglich präsenten Bürgerkrieges eine Fragestellung weiterverfolgt, die schon die frühen Texte bestimmte. 

Bemerkenswert ist nicht zuletzt die breite Rezeption des Œuvres in der ehemaligen DDR und den Niederlanden. Born ist mit drei eigenständigen Publikationen113 sowie in vier Anthologien in der DDR vertreten.114 Sofern hier im Sinne einer marxistischen Analyse das Hervortreten von Klassenantagonismen ablesbar erschien,115 waren die Born’schen Texte samt der Unzufriedenheit ihrer Helden und anderer Figuren als Indikator für die Zuspitzung der Verhältnisse innerhalb der monopolkapitalistischen Wirklichkeit116 willkommen. Wohltuend hob sich die differenzierte Betrachtungsweise von Klaus Schimanski ab. Er beurteilte Die erdabgewandte Seite der Geschichte resümierend als „ein wichtiges Dokument im vielschichtig-heterogenen Gesamtbild der BRD-Literatur“.117 Nach der Wende änderte sich mit den Machtverhältnissen auch die Lesart. Zu der von Born schon im Druckbild als Spruch und ironisch hervorgehobenen Verszeile „ERST DER SOZIALISMUS BRINGT INDIVIDUALISMUS“ (Das Auge des Entdeckers (1972!), S. 104; = G, S. 184) bemerkt Helmut Ulrich: „Es ist, als ob da schon aufdämmerte, daß dies ein Irrtum ist“.118
In den Niederlanden haben vor allem Jan Gielkens und Ton Naaijkens durch die Einladung Borns zum Rotterdamer Lyrikfestival 1976 und durch ihre Übersetzungen für eine Rezeptionsbasis gesorgt. Unbeeinflußt von der deutschen Diskussion um die „Neue Subjektivität“ sind Lyrik und Prosa dort sehr genau wahrgenommen worden, und Naaijkens hat als einer der ersten, wie der Forschungsbericht zeigen wird, eine fundierte Auseinandersetzung mit dem Werk, in diesem Falle mit den Gedichten Borns begonnen.
Das Werk von Nicolas Born ist heute wohl nur noch einem kleinen Leserkreis und befreundeten Autoren bekannt. Diese haben etwas verspätet im Januar 1988 mit einer Veranstaltung zu seinem fünfzigsten Geburtstag in der Berliner Akademie der Künste an den Schriftsteller erinnert.
119 1988 entschloß sich die Jury des Petrarca-Preises120 zusammen mit dem Stifter Hubert Burda einen weiteren Literaturpreis ins Leben zu rufen: den mit 10.000 DM dotierten Nicolas-Born-Preis für junge Schriftsteller. Eine eigene Jury vergibt ihn jedes Jahr im Juni an einem mit Petrarca verbundenem Ort in Italien zugleich mit dem Petrarca-Preis und dem Petrarca-Übersetzer-Preis.121 Den vorerst letzten Anstoß, Borns Texte ins Bewußtsein zu rufen, gab Peter Handke zwei Jahre später mit der Präsentation einer Auswahl von 43 Gedichten, der er im Nachwort die „Kleine Chronik des Märchens eines Lebens“ beifügte.122

Der Forschungsstand
Das Werk von Nicolas Born ist bislang noch nicht Gegenstand einer systematischen Untersuchung gewesen. Das durch eine Fülle von Rezensionen, die zum größten Teil zu Lebzeiten des Autors erschienen, dokumentierte Interesse wurde von der Literaturwissenschaft nicht geteilt. In Sammelbänden, aber auch in Zeitungen erschienen häufiger Interpretationen zu einzelnen Gedichten.123
Der überschaubaren Zahl der ihm gewidmeten Aufsätze lag dabei häufig die Auffassung zugrunde, daß Born in seinen Texten „den Verlauf der Epoche feinausgeprägt hinterlassen“124 habe; man ging demzufolge daran herauszuarbeiten, wie sie im Zusammenhang zu ihrer Zeit zu situieren sind.
So beschäftigte sich Christa Merkes mit dem ersten Roman Der zweite Tag (1965) im Kontext der sechziger Jahre, genauer unter der Annahme einer Zugehörigkeit zur sogenannten „Kölner Schule“, die sie dazu führte, den Roman auf Verfahrensweisen des „Neuen Realismus“ im Vergleich zu jenen des „nouveau roman“ zu befragen.125
Der Diskurs über die Literatur der siebziger Jahre wurde zu einem guten Teil von der Diskussion um die „Neue Subjektivität“ geprägt. Aus einer ablehnenden Haltung gegenüber dieser literarischen Entwicklung haben Scherpe/Treichel Die erdabgewandte Seite der Geschichte einer literaturwissenschaftlichen Analyse unterzogen.126 Allerdings haben erst Gerhard vom Hofe und Peter Pfaff den schlagwortartig aufgekommenen Begriff der Subjektivität gründlich reflektiert127 und damit einen weniger tendenziösen Zugang zu den Romanen der „Neuen Subjektivität“ eröffnet.
Im Bereich der Lyrik zeigt sich sehr deutlich, wie Born in die zeitgenössische Diskussion einbezogen wurde und von daher auch die Rezeption gesteuert war. In den maßgeblichen Sammlungen und Aufsätzen der siebziger-Jahre-Literatur ist der Verweis auf Born oder die Aufnahme von Beispielen obligatorisch.
128 Aber auch hier wird es wichtig sein, neben den Konstituenten, aufgrund derer die Werke einer literarischen Strömung zugeordnet werden, gerade ihre jeweiligen Besonderheiten zu bestimmen.129

Weiterhin liegen eine Reihe interessanter Vergleiche im synchronen wie diachronen Schnitt vor: Ernst Ribbat untersucht in der Konfiguration mit dem um fünf Jahre älteren Kölner Schriftsteller Jürgen Becker die Kunstleistung von Gedichten beider Autoren. Mit zwei Feststellungen entzieht Ribbat ihre Gedichte der Zuordnung zu einem Lyrik-Typus, den vor allem Jürgen Theobaldy als Tendenz der siebziger Jahre poetologisch festzuschreiben versucht hat. Demnach sei diese Lyrik, in der die Subjektivität eine große Rolle spiele, ein Instrument politisch-publizistischer Praxis. Die Sprache, die die Lyrik derzeit organisiere sei eine der persönlichen Erfahrung, die angesichts der öffentlichen Parolen im Bezug auf Selbsterlebtes versuche, Verläßliches, Überprüfbares zu sagen. Demgegenüber weist Ribbat die Kunstleistung poetisch hergestellter Wirklichkeit nach, und er erinnert daran, daß die Wahrheit der Kunst in der Neuzeit schon immer an Subjektivität gebunden sei.130
Dieter Saalmann vergleicht Borns zweiten Roman mit Rilkes Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge unter dem Gesichtspunkt des Solipsismus. Die analoge Erlebnisweise der Protagonisten – wobei Saalmann die Realitätsaneignung von Borns Ich-Erzähler mit dem „Verinnerlichungsdrang“ in der „Neuen Subjektivität“ identifiziert – greife Praktiken auf, die seit der Jahrhundertwende unter anderem in Rilkes Roman ihren paradigmatischen Ausdruck gefunden hätten. Saalmanns vergleichende Betrachtung zielt dann freilich auf einen Kontrast, denn „bei Born versagt der Innenraum des Menschen als Sublimierungsmedium“.131
Schließlich ist die Geschichtserfahrung der „Zerissenheit“132 für Irmela Schneider ein Anlaß, die Aktualität von Büchners Novelle Lenz zu erweisen, in dem sie Bezüge zu Peter Schneiders Erzählung Lenz und Borns zweitem Roman aufzeigt. Vergleichspunkt aller drei Texte ist die Kluft zwischen Lebensentwurf und geschichtlicher Praxis. Während Peter Schneider einen Bezug aber vor allem auf programmatischer Ebene, durch Titel und Zitate herstelle, radikalisiere Born Büchners Modell durch den Erzählduktus in Die erdabgewandte Seite der Geschichte, insofern „die Textur seines Romans die inhomogenen Erlebnisformen seines Ich-Erzählers“ widerspiegele.133

Drei Versuche liegen vor, Borns Texte unter Einzelaspekten anzugehen.
An der Frankfurter Schule orientiert prüft Allkemper die Umsetzung der utopischen Programmatik Borns in seiner Lyrik und Prosa. Dabei verzichtet er in seiner Darstellung der theoretischen Äußerungen auf eine Analyse der Herkunft und Zusammenstellung der Denkfiguren. Borns Amalgam von Theorieversatzstücken unterschiedlichster Provenienz bleibt also erst noch aufzuschlüsseln. In Anlehnung an Überlegungen Adornos problematisiert Allkemper vor allem Borns Versuch, positiv-utopische Gegenbilder zu entwerfen. Im Gang durch Borns Werk konstatiert Allkemper, daß die Gedichte zwar hinter dem Programm zurückblieben, daß sie letztlich aber besser seien als dieses, da sie Mangelrealität zeigten und positive Bilder nur anregten. Adornos negativ-utopisches Konzept leitet auch die Sicht auf die beiden letzten Romane, und führt zu dem Schluß, daß für Born die Erkenntnis des Falschen nicht die des Richtigen impliziere. Da die radikale Erkenntnis keinerlei Beschwichtigung zulasse, ein ebenso radikaler Lebensanspruch aber aufrechterhalten werde, bliebe dieser Widerspruch am Schluß der Fälschung bestehen. Born ende nicht in Resignation, aber, wie Allkemper zu Recht feststellt, in Melancholie.134
Der Blick von Jürgen Lieskounig auf drei populäre Erzähltexte der siebziger Jahre135 ist bestimmt von der Thematik der „Wiederkehr des Körpers“, die Beobachter der Literatur im Anschluß an die „Wiederkehr des Erzählers“ ausgemacht hatten.136 Die „Körperwahrnehmung“ in Borns Roman konnte im Rahmen eines Aufsatzes nicht erschöpfend analysiert werden. Körperlichkeit als Verlängerung des Bewußtseins nach außen ist nur ein Bereich problematisierter Wahrnehmung von Ich und umgebender Wirklichkeit im Modell dieses Romans. Unter diesem Aspekt wäre es interessant Verbindungslinien herauszuarbeiten etwa zu Rolf Dieter Brinkmann, aber auch zu Erzähltexten der achtziger Jahre, wie Irre (1983) und Hirn (1986) von Rainald Goetz.137 Hubert Winkels hat die unterschiedliche Funktion der Chiffre des Körpers in der Literatur der siebziger und der achtziger Jahre herausgehoben. Wurde der „Schmerzensmensch“ dort Leitbild der literarischen Öffentlichkeit und traten Krankheitsverläufe an die Stelle von Geschichtsentwicklung, so geht es Winkels zufolge in den ausgewählten Texten der achtziger Jahre darum, „den Ort ausfindig zu machen, wo die Schrift auf das Reale trifft“, „um die Schrift, die auf den Körper trifft“. „Text ist der Körper des Körpers“.138 Dieser sich über zwanzig Jahre erstreckenden Entwicklungslinie ist allerdings entgegenzuhalten. daß Figuren der bürgerlichen Literatur schon immer in Krankheit flüchteten oder den Tod fanden, wo Staat und Gesellschaft, kurz die gegebene Wirklichkeit der Entfaltung des bürgerlichen Individuums Einhalt gebot. In Anbetracht der Konstitution der Figuren, insbesondere der Protagonisten in Borns Romanen, angefangen von ihrer Körperlichkeit bis hin zur gesamten Befindlichkeit, stellt sich die Frage, ob in ihnen nicht der seit Ende des 18. Jahrhunderts typische Konflikt bürgerlicher Helden wiederkehrt, ob Born hier also auf seine Weise nochmals das große Thema der bürgerlichen Erzählliteratur durchbuchstabiert.139
Eine profunde Auseinandersetzung mit Borns Werken hat als erster Ton Naaijkens geleistet. In seinem Nachwort zu Die erdabgewandte Seite der Geschichte wie in seiner Dissertation verweist er neben anderen Ursprüngen insbesondere auf frühromantische Spuren (Novalis, Schlegel) in Borns Werk.140 Naaijkens hat sich in der Dissertation mit einem Teil der Lyrik Borns beschäftigt. Pluralisierung des Subjekts sei ihr Thema, ohne daß die Gedichte eine „umstürzlerische Sprechweise“ mit sich brächten. In dem Band Das Auge des Entdeckers werde dies Thema Programm, dort werde „die Unmöglichkeit, ein einheitliches Selbstbildnis zu entwerfen, in eine Utopie vom multiplen Ich umgesetzt“.141 Naaijkens findet dann in Einzelanalysen verschiedene Versuche der Umsetzung dieser Utopie, letztlich sei sie jedoch – auch in der Sprache – nicht umsetzbar.142

Erst seit kurzem liegt eine äußerst aufschlußreiche Arbeit zur Fälschung vor, die gleichsam vom Werkende her den Ansatz der vorliegenden Arbeit teilt. Vorgeschlagen wird eine existenzpsychologische Lesart des Romans, die in kapitelabgrenzenden Kategorien wie „Kämpfen“, „Schreiben“, „Blick“, „Lieben“ und „Töten“ die Befindlichkeit, Weltsicht und Handlungsstrategien des Protagonisten Laschen beleuchtet.143 Bosse/Lampen konstatieren eine Aufspaltung von Laschens Persönlichkeit, die existentielle wie kollektive Fälschungen zur Folge hat. Diese betreffen die eigene Person bzw. die Berichterstattung.
Es werden dabei Aspekte herausgearbeitet, die sich insgesamt zum Hauptthema Borns formieren lassen, das in diesem Roman in seiner letzten Bearbeitung und Ausprägung vorliegt. Es läßt sich zeigen, daß Born die Fragen der Wirklichkeitsaneignung und der Stellung des Subjekts von Anfang an konstant verfolgt hat, und daß sie das dominierende Sujet seiner literarischen Modelle sind.
Das Anfangs- und das Schlußkapitel ihrer Untersuchung, die Bosse/Lampen mit „Hineingehen“ und „Herauskommen“ überschreiben, dienen mehr der Leserorientierung als der Interpretation. Die Autoren rekonstruieren anfangs die Entstehungsgeschichte. Am Schluß versuchen sie, ihre Eindrücke und den Erkenntnisgewinn für den Leser zu formulieren.
Bosse und Lampen ist ferner zuzustimmen, wenn sie darauf verweisen, daß der Roman dem Leser eine Lösung oder eine Utopie vorenthält und am Ende die Melancholie steht. Dieses Stichwort gaben bereits einige Rezensenten sowie Allkemper und Appelt. Die Bedeutung der Melancholie wird in den literaturgeschichtlichen Zusammenhang zu stellen sein, denn sie ist, wie sich zeigen wird, bedeutsam als Endpunkt eines Werkes, dessen Genese nach einer Zuspitzung seines Themas an diesem schwer auszuhaltendem Punkt abbricht. Auf die vielfältigen Anregungen ist in kritischer Auseinandersetzung zurückzukommen.
Vorausgegangen ist dieser Arbeit von Bosse/Lampen ein Aufsatz von Ulrich Lampen,144 der als Vortrag für eine Tagung der Forschungsstelle Krieg und Literatur an der Universität Osnabrück entwickelt wurde und in die Einleitung und das erste Kapitel („Kämpfen“) der Untersuchung eingegangen ist.
Vor allem aber muß die Studie von Hedwig Appelt genannt werden, von deren Beobachtungen viele der Ausführungen bei Bosse/Lampen angeregt scheinen.145 Appelt befaßt sich bereits mit den Komplexen: „Melancholie und Medien“, der Blick und das „reine Sehen“ des Tatsachenbeobachters, Funktion des Krieges, der Körper, die Schreibtätigkeit Laschens, die Teilung in einen „wahren“ und einen „falschen“ Laschen, die Spaltung des Subjekts in ein privates und ein öffentliches.
Appelt beruft sich allerdings nicht auf die existentialistische Psychologie Ronald D. Laings, sondern sie arbeitet – ein entscheidender Unterschied, der zu interessanten Thesen führt – mit dem struktural-psychoanalytisch-semiotischen Instrumentarium von Lacan und den französischen Theoretikerinnen Hélène Cixous, Luce Irigaray und Julia Kristeva. Appelts Anliegen ist es, die Geschlechterdifferenz als sprachliche zu erfassen. Im Ergebnis, soviel sei vorweggenommen, erweist sich Die Fälschung als eine Manifestation männlichen Schreibens, insofern es sich um einen Text handelt, „der nicht erklärt, sondern auf einer Differenz insistiert, auf einem nahezu mythischen Entweder-Oder, entweder Teilhaber der Macht oder ohnmächtig zu sein.“146 Born funktionalisiere Weiblichkeit in seinem Text, die Frau sei „Gebärmutter der Sprache des Mannes“. „Das Verhältnis von Frau und Mann [sei] im Roman das von Matrix und Schrift.“147 Inwieweit der Text selbst die männliche Verhaltensweise seines Protagonisten bereits relativiert und die Funktionalisierung der weiblichen Figuren im Diskurs kritisch ins Bewußtsein gehoben wird bleibt in der Interpretation und der Auseinandersetzung mit Appelt zu diskutieren. 

Mit den Arbeiten von Appelt und Bosse/Lampen liegen umfassende und gewichtige Interpretationen zur Fälschung vor, die ausgehend vom letzten Text einen Einstieg in die literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Werk von Nicolas Born bieten. 

Abschließend bleiben mehrere kürzere Beiträge zu nennen, die das Gesamtwerk oder größere Teile darstellen. Baur, Buch, Henning, Junkereit und Suhrbier erstellen Porträts, die auf verschiedene Weise Leben und Werk des Autors miteinander verbinden.148 Stegers verfolgt die Entwicklung der Prosa nicht ohne Stationen aus Borns Lebenslauf einzubeziehen, während Handke „an Hand der Gedichte von Nicolas Born“ die „kleine Chronik des Märchens eines Lebens“ entwirft.149 Allein Grzimek stellt alle Buchpublikationen ohne Rückgriff auf das Leben des Autors vor.150 Notgedrungen blieben diese Darstellungen abrißartig. Zusammen mit den Artikeln in den einschlägigen Lexika boten bislang allein diese z.T. schwer zugänglichen Publikationen die Möglichkeit einer ersten Orientierung über Leben und Werk des Autors.

 

1.3 Zielsetzungen
Rezeption und Forschungsstand zeigen, daß man sich unter verschiedenen Aspekten mit dem Werk Nicolas Borns, sowie mit seiner Person beschäftigt hat, ohne daß bisher von einer systematischen Auseinandersetzung gesprochen werden könnte.
Aufgrund der geschaffenen Textbasis des Gesamtwerks wird innerhalb dieser Monographie die Entwicklungslinie des Born’schen Œuvres und seiner Problemstellungen herausgearbeitet.
Im Vordergrund stehen dabei die drei Romane Borns. Je ein Kapitel wird auf die Interpretation eines Romanes verwendet. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der Analyse der Erdabgewandte[n] Seite der Geschichte. Gerade an diesem Text ist zu zeigen, daß er sich über die vermeintlichen Erfahrungen seines Autors und das „Aroma“ der siebziger Jahre hinaus die grundsätzliche Problematik der Realitätsaneigung und Subjektkonstitution zum Gegenstand macht. Anschließend wird die Darstellung des Werkes und seiner Entwicklung durch einen Überblick über die programmatischen Äußerungen und weiterer Teile des Werkes vervollständigt.
Im Anschluß an die ersten literarischen Versuche Borns werden drei Entwicklungsphasen konstatiert. Auch wenn nicht der „Lyriker Born“ im Vordergrund steht, sondern der Erzähler und Romancier, wird auf dessen lyrische Umsetzung seiner Intentionen gleichwohl zurückgegriffen. Zu den Aufgaben gehört nicht zuletzt, die Kontexte der literaturtheoretischen Äußerungen wie des literarischen Werkes zu erschließen.
Ausgangspunkt der Untersuchung ist die These, daß Nicolas Born ihm eigene Fragestellungen das ganze Werk hindurch verfolgt hat. Born folgt seinen Themen und ihrer inneren Entwicklung – natürlich in Auseinandersetzung mit der äußeren Entwicklung, aber ohne sich von dieser vereinnahmen zu lassen. Daß Born als Exponent jeweils dominierender literarischer Tendenzen empfunden wurde, trug zu seinem damaligen Erfolg bei. Eine Reduktion auf solche Zeitgenossenschaft wird jedoch seinem Werk nicht gerecht. Eine Historisierung in dieser Form bedeutete auch, ein Verfallsdatum der Texte zu akzeptieren, die dann nur noch als historische Dokumente zu lesen wären – Beiträge zur Rekonstruktion eines vergangenen Jahrzehnts. Anliegen dieser Untersuchung ist es demgegenüber hervorzuheben, daß die Texte, die natürlich die Signatur ihrer Entstehungszeit tragen, Bestand haben über aktuelle Moden hinaus. Die Primärrezeption zeigt, daß Born verkürzt wurde: als politischer Lyriker der Studentenbewegung, als Trendsetter und Stellvertreter der „Neuen Sensibilität“ innerhalb der „Neuen Linken“, schließlich auch als Registrator fortschreitender Umweltzerstörung nicht nur der Elblandschaft um Gorleben. Die Interpreten blieben dabei meist dem vordergründigen zeitgenössischen Assoziations- und Problemhorizont verhaftet.151 Übersehen wurde die Eigenwilligkeit und – bei aller Veränderung in der Realisierung – die Kontinuität seiner literarischen Arbeiten.
Born wird hier deshalb nicht vorrangig als ein Beispiel für die Literatur der sechziger und siebziger Jahre interpretiert. Nicht „die Befindlichkeit, die Stimmung, die Redeweise der 60er, 70er Jahre“ interessieren,152 denn Aufschluß über die damalige Denkhaltung liefern ohne den Umweg über die Literatur auch Sozialgeschichten, Essays und mittlerweile sogar „Zeitgeist-Reisen“.153 Ein gegenwärtiges Leserinteresse läßt sich also nicht ausreichend darin legitimieren, die Texte gleichsam wie Konserven zu öffnen und für eine Bewußtseinsgeschichte auszuwerten, in der das Verhältnis von Autor und Zeitgenossen, von Literatur und Gesellschaft im Mittelpunkt steht. Eine solche Fragestellung schließt zu kurz, nämlich unvermittelt vom Besonderen der künstlerischen Darstellung auf das Allgemeine der historisch-gesellschaftlichen Entwicklung. Adorno hat im Doppelcharakter von Kunst, jenem von Autonomie und fait social, auch die Möglichkeit künstlerischer Literatur zu einer Darstellung des dialektischen Verhältnisses von Allgemeinem und Besonderen bestimmt.154 Dabei sind jedoch die komplizierten Vermittlungsmechanismen, die von der genuinen Qualität ästhetisch-formaler Gestaltung herrühren, nur um den Preis einer Verfälschung zu umgehen, denn die Ästhetik

hat es zu tun mit einer Wechselwirkung des Allgemeinen und Besonderen, die das Allgemeine nicht dem Besonderen von außen imputiert, sondern in dessen Kraftzentren aufsucht.155

Sollen also Borns „Gegenwartsromane“ nicht mit ihrer Zeit vergehen, so muß nach ihrem Werkcharakter und ihrer ästhetischen Leistung gefragt werden und welche Erkenntnisse heute aus ihnen zu gewinnen sind. 

Nicolas Born thematisiert in Prosa, Lyrik und Hörspiel die Wahrnehmung von Wirklichkeit, später auch der in ihr prinzipiell enthaltenen, aber nicht realisierten Möglichkeiten. Er erprobt ihre Beschreibbarkeit in den verschiedenen Genres. In den Horizont dieser Darstellungen reichen folgerichtig solche Fragen, wie Geschichte, wie Natur beschaffen sind, wie sie sprachlich adäquat eingeholt werden können und wie sich Individualität und Subjektivität innerhalb solcher Wirklichkeitsaneignung finden lassen, wie also das Subjekt in die vorgestellte Wirklichkeit eingebettet ist. Im literarischen Raum werden die Fragen nach der wahren Weltsicht, nach Erfahrungsstrukturen und der Konstruktion von Identität grundsätzlich. Born unternimmt verschiedene Anläufe, zur Wirklichkeit durchzudringen und den Ort des Subjekts auszumachen. Die literarischen Modelle, so wird zu zeigen sein, bringen eine bleibende Differenz von Welt und Ich zur Sprache. Der Platz, den das Subjekt nurmehr einnehmen kann, ist jener des Passanten, der inmitten nebenhergeht. 

Jörg-Werner Kremp, Vorwort

 

Inhaltsverzeichnis 

1   Einführung

1.1         Zu Werkumfang und Textbestand

1.2         Zu Rezeption und Forschungsstand. Der Forschungsstand

1.3         Zielsetzungen

 

2   Exkurs: Zur autobiographischen Lesart der Gegenwartsliteratur

 

3   Lyrik und Prosa bis 1967

3.1         Lyrische Anfänge unter dem Einfluß von Ernst Meister

3.2         Vom Tonfall des Existentiellen zur lakonischen Bestandsaufnahme

3.3         Frühe Prosa im Kontext der Poetik der Wahrnehmung
3.3.1      Weiterführung der Todesthematik
3.3.2      Die erschriebene Wirklichkeit der Heimatstadt

3.4.        Zwischenbilanz

3.5         Der zweite Tag: Destruktion präformierter Wahrnehmung
3.5.1      Die Zugfahrt als Modell der Erinnerung
3.5.2      Die Zugfahrt als Modell auflösbarer Kontinuität
3.5.3      Kein Reiseroman – Destruktion eines Genres
3.5.4      Kein Ziel – Vom richtigen Sehen
3.5.5      Kein Erleben – Mögliche Rollen
3.5.6      Konstruktion und Destruktion
– Das Problem der Reihenfolge
– Das Problem des Zusammenhangs
– Das Problem der Wiederholung
– Die Unmöglichkeit von Tatsachenermittlungen
– Die Vorführung von Klischees
– Defizitäre Erzählhaltung und Mehrfacherzählen
– Der Gestus des „Sich Vergewisserns“
– Sprache
– Beispiel Körperwahrnehmung
3.5.7      Der zweite Tag. Ein Fazit

3.6         Der schriftstellerische Beginn im Überblick

 

4   „Geisterhaftes Dabeisein“

4.1         Verbindungslinien zum Frühwerk

4.2         Der Erzählgegenstand und seine Tradition

4.3         Zur Konstruktion des Romans
4.3.1      Schreiben I
4.3.2      Die Zeitstruktur
4.3.3      Eine Fortsetzungsgeschichte

4.4         Die Erzählerfigur
4.4.1      Das Verschwinden des Erzählers
4.4.2     Körperwahrnehmungen. Todesmotivik, Gewalt, Sexualität, Angst
4.4.3      Die Motive Luft und Leere
4.4.4      Die psychologische Interpretationsebene

4.5         Die Wahrnehmung der vermittelten Welt
4.5.1      Fülle – Ordnung – Zusammenhang – Reihenfolge
4.5.2      Die Aversion gegen „Erklärungen“
4.5.2.1   Welterklärungssysteme
4.5.2.2   Erklärung des einzelnen
4.5.3      Die Vermittlung durch Zeichen. Schreiben II
4.5.4      Die Welt als Theater
4.5.5      Der einzelne und die Absage an Identität
4.5.5.1   Das Individualgespenst
4.5.5.2   Das Kollektivgespenst
4.5.6      „Die Welt der Maschine“
4.5.7      Der Preis bewußter Wahrnehmung
4.5.8      Die Oppositionen in der vermittelten Welt

4.6         „Schwache Bilder einer anderen Welt“
4.6.1       Einzelne Glücksmomente
4.6.2      Ambivalenz aus Prinzip. Responsionsstrukturen
4.6.3      Die Flucht in die Natur
4.6.3.1   Das Verschwinden der einzelnen
4.6.3.2   Das Ich vor der Rest-Natur
4.6.3.3   Re-poetisierung der Welt
4.6.4      Andere Bilder vom Ich

4.7         Zusammenfassung

  

5   „Dabeisein ohne Dasein“. Die Fälschung

5.1          Eine doppelte Geschichte

5.2          Material und Vorlagen

5.3          Beirut als Gemeinplatz

5.4          Die Zeitstruktur

5.5          Die Erzählperspektive 

5.6          Der Beobachter, der Fremde

5.7          Die Figuren

5.8          Zutritt zur Wirklichkeit?
5.8.1       Die Unwirklichkeit einer Tat
5.8.2      Die Wirklichkeit in der Schrift?
5.8.2.1   Die fälschende journalistische Weltbehauptung

5.9         „Endspiel zu Lebzeiten“

5.10.       Die Fälschung und die Entwicklung der Prosa

 

6 Werkentwicklung, Aufsätze, Reden

6.1          Registratur des Faktischen 

6.2          Die Imagination des Möglichen

6.3.        Protest und Melancholie

 

7   Schlußwort

 

8   Anhang

Siglenverzeichnis 

8.1          Zur Biographie von Nicolas Born. Erläuterungen und Kommentare 

8.2         Literaturverzeichnis
A. Werkverzeichnis von Nicolas Born
B. Literatur zu Nicolas Born
C. Weitere Literatur

 

Die grundlegende Monographie

zum Werk von Nicolas Born (1937–1979) sichert erstmals die gesamte Textproduktion ebenso wie die Lebensumstände dieses vieldiskutierten Autors der jüngeren deutschen Literatur. Sie leistet zudem im Rekurs auf die literarische Tradition wie im Vergleich mit zeitgenössischen Autoren, vor allem Peter Handke, einen substantiellen Beitrag zu einer veränderten Urteilsbildung über die Literatur der sechziger und siebziger Jahre. Die Interpretation spezifischer Werkstrukturen löst das Œuvre Borns aus der zur Konvention geronnenen Beurteilung im Horizont von „Neuem Realismus“, „Neuer Subjektivität“ und „autobiographischem“ Erzählen. Zu entdecken ist, wie ein formbewußt-flexibler Schriftsteller seit den frühesten lyrischen Texten sein Projekt der Suche nach der Möglichkeit von Wirklichkeitsorientierung und Subjektkonstitution in literarischen Modellen verfolgt. Vornehmlich in einer Untersuchung der drei Romane wird gezeigt, daß sich Borns Schreiben gerade nicht in der Preisgabe von subjektiven Befindlichkeiten oder der Spiegelung sozialgeschichtlicher Prozesse in der Bundesrepublik erschöpft.

M & P, Klappentext, 1994

 

 

Zum 50. Geburtstag von Nicolas Born:

Friedrich Christian Delius: Einer fehlt, mehr denn je
Literaturmagazin, Heft 21, 1988

Peter Handke: Wenn ich an Nicolas Born denke,…
Literaturmagazin, Heft 21, 1988

Rolf Haufs: Jugend und Weiße Blume
Literaturmagazin, Heft 21, 1988

Reinhard Lettau: Für Essen für Nicolas
Literaturmagazin, Heft 21, 1988

Hans Joachim Schädlich: Nicolas Born
Literaturmagazin, Heft 21, 1988

Zum 80. Geburtstag von Nicolas Born:

Ingo Plaschke: Nicolas Born: Der politische Poet, der viel zu früh starb
Neue Rhein/Neue Ruhr Zeitung, 28.12.2017

Hilmar Klute: Eine Welt für alle
Süddeutsche Zeitung, 21.12.2017

Ruth Johanna Benrath: RUNDLING ANERDE, Schreyahn an Damnatz
fixpoetry.com, 31.12.2017

Axel Kahr: „Weh mir“ – Nicolas Borns erste „Hälfte des Lebens“
literaturblatt.de, Januar/Februar 2018

Fakten und Vermutungen zu Nicolas Born + Stiftung + Archiv +
AdK 1 & 2Internet ArchiveIMDbKLG
Porträtgalerie: Autorenarchiv Isolde Ohlbaum +
Brigitte Friedrich Autorenfotos
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Nachrufe auf Nicolas Born:

Dieter Wellershoff: Die Fremdheit des Lebens
Literaturmagazin, Heft 21, 1988

Günter Grass: Nicolas Born stirbt…
Günter Grass: Kopfgeburten, 1980

Bernd Jentzsch: Lieber Nicolas
Literaturmagazin, Heft 21, 1988

Günter Kunert: Alle Worte der Trauer…
Literaturmagazin, Heft 21, 1988

Heinrich Maria Ledig-Rowohlt: Worte am Grab
Literaturmagazin, Heft 21, 1988

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