John Barton Epstein: VEGA

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von John Barton Epstein: VEGA

Epstein/Leiberg-VEGA

In der Gegenwart pendelt
Die leere Balance! Jetzt
Schmettern himmlische Hörner

Schreitender Stunden Bombast!
Ragende Ulmen bewachten der
Dunkelheit Mitte, welcher

Ein einzelner Funke entsprang,
Des Augenblicks Architektur
Momentschnell zu erhellen:

− dieses Schlußmaß
Unsres Horizonts. Zahllose
Schwingen über dem Hangwind!

„Doch sind mir die Bäume nur
Schemen gewesen –“ es fielen
Momente aus heiteren Himmeln;

Zu wolkigen Chören girlandeten
Wesen hängenden Rhomben
Triangeln und wirbelndem

Schwinden der Schemen – da
Alle Aspekte aus Licht
Geformt sind!

 

 

 

Katalogtext zu VEGA von John Epstein

,Vega‘ heißt zunächst zweierlei, nämlich einmal der Alpha-Stern im Zeichen der Lyra, und zum zweiten ein künstlich bewässerter Landstrich Andalusiens. Da lag es nahe, jenen interstellaren Begriff des Anfangs aller Lyrik von der Nomenklatur des Himmels herabzuholen und ihn gegen seinen terrestrischen Namensvetter zu halten.
Ausgerüstet mit etlicher Traumlast aus dem Erbe der englischen Romantik, ist John Epstein in den frühen achtziger Jahren, von einem, vermutlich stets dem selben, Café-Tisch her, auf die Schreib-Reise durch die Sphären der Inkongruenz zwischen den beiden Vega gegangen.
Weitschweifig, die unterschiedlichsten Felder der Lebenserfahrung und der poetologischen Spekulation gleichermaßen durchlaufend, sie ,abdrehend‘, ließe sich sagen, da sein Langgedicht VEGA wie ein überlanger Supers-8-Film voller landschaftlicher Zooms, Tilts und Totalen anmutet, die vom lyrischen Subjekt (yes, indeed) ins facettenartige Objektiv gefaßt werden. Abdrehend also, den roten Faden einer transkontinentalen Reise spinnend, ihn im spekulativen Unterholz der Gedanken an die ferne Geliebte und das verschollene Ideal verlierend, einwebend wieder in die Erlebnismuster der vorübereilenden oder anhaltenden Wirklichkeit, Zeitebenen planvoll verwechselnd, immer wieder den (hierorts unter dem Namen Idyll bekannten) Einbruch des Idealen in den Raum der Ruhe zwischen Stationen erfassend und die Konsequenz daraus ziehend: Weiterziehen. Ein Sprung nach Europa, die Herzensfahrt zu den Wahlvätern, den Ahnherren einer von Schritt zu Schritt sich ihrer Unmöglichkeiten bewußter werdenden Poesie. Die es wohl versteht, ihre Traurigkeit mit Zitatsplittern einstiger Sternstunden ihrer selbst zu schmücken, dabei jedoch ihre Chance nicht zu verspielen gedenkt – zur Künstlichkeit eines neuen Systems, das die (natürlich lang schon auch lyrischer Topos) Wüste der urbanen Psyche mit der zu erschreibenden Fata Morgana eines gelobten Landes zur eigenartigen Erwartungsblüte bringen wird. / John Epstein stammt aus Massachussetts, wie Wallace Stevens, von dem erzählt wurde, daß er ungern eine Gelegenheit versäumte, in sein Sprechen ein ,beyond‘ einzuflechten, sei es ein ,beyond‘ all thoughts, oder nur ein ,beyond‘ journalism. Es wurde von deutschen Rezipienten nach Lesungen aus VEGA gefragt: Wo ist der Punkt? Man muß zur Kenntnis nehmen, daß Amerikaner von jeher etwa dem Kontrapunkt mißtrauisch gegenüberstanden. Nicht zuletzt deshalb, weil die Erfahrung des Wirklichen mit dem Eindruck unendlicher Weite zusammenging. Zwar ist der Verfasser von VEGA kein Komponist, doch es steht die Überwindung endloser Distanzen in seinem dichterischen Material so eingeschrieben, wie dem gestrandeten Seemann im Gesicht der Philobatismus, die ,Weitsucht‘. Der ,Punkt‘ ist, es gibt bei diesem Geschäft kein Ankommen, welches nicht lediglich eine Beirrung des eigentlichen Zieles bedeutet.
Das Ziel über dem Ziel, die Reise über der Reise, Vega beyond Vega – dies ist der Punkt jener szenarischen Verserzählung einer Reise zwischen den Welten der Heimatlosigkeit, des Schreibtischs und allen künstlichen Bestrebungen des Dichters, in den Brüchen des Weges (Vega) den geeigneten Stoff für immer neu anzufangende Brücken zu den beziehungslos sich ins Leere verzweigenden Enden der Utopien zu schöpfen. Und wie im Kino endet das Werk mit einem Abspann, der die Beleuchter des Films, die wirklichen Himmelskörper mitsamt den ihrer Bedeutung assistierenden Mythen dem Leser vor Augen führt.

Andreas Koziol

VEGA – das ist ein Stern im Zeichen des Sternbildes Lyra

VEGA – das ist auch ein ganz irdischer Landstrich im spanischen Andalusien. Zwischen beiden extremen Hemisphären begibt sich Epstein auf eine exzentrische, poetische Traumreise: vom Cafetisch, an dem er schreibt, in transatlantische und kosmische Bereiche – sinnliche Alltagsszenen wechseln mit ausschweifenden philosophischen Visionen. In der Tradition meditativer englischer Poesie und ihrer Antagonisten der Moderne wagt hier endlich wieder ein Dichter, ein heutiges Welt-Bild kühn zu umreißen, auch einem Motto von Emily Dickson folgend:

Geh deinen großen Weg
Die Sterne die du triffst
Gleichen stets dir selbst…

Janus Press, Programmheft, 1996

 

Ein Abend unter John B. Epsteins Stern

Stellen Sie sich vor, Sie gehen in Ihrer Heimatstadt mit einem Freund aus Übersee aus. Erst waren Sie, kein Zufall, im Kino, und zwar in einem, das Sie bis heute nur dem guten Namen nach kannten. Wieder draußen, sind Sie beide sich rasch einig im Urteil über den Film. Sie selbst kennen diese Gegend Ihrer „eigenen“ Stadt offenbar kaum. Der Freund aus Übersee möchte Sie anschließend in ein bestimmtes Lokal führen.
Es ist Winter und sehr kalt in der Stadt, von der hier die Rede ist. Ihr Klima trägt deutlich kontinentalen Charakter. Sie heißt Berlin und liegt im Osten Deutschlands. Der Mann stammt von der – winters allerdings nicht minder eisigen – Ostküste der Vereinigten Staaten. Er lebt seit über einem Dutzend Jahren in Berlin, um genau zu sein, in dem Teil, der bis 1989/90 in gewissen Verträgen und in einem gewissen Vokabular die „Selbständige politische Einheit Westberlin“ genannt wurde.
Die Kleidung des Freundes ist ein wenig zu leicht. Doch scheint er nicht zu frieren. Vielleicht gelten ihm Äußerlichkeiten nicht so viel, seien sie auch elementar. Zielstrebig agiert er wie einer, der auch bei größter Unsicherheit zielstrebig bleibt. Selbstverständlich sind Sie beide im Kreis gegangen, müssen schließlich einen Passanten nach dem Lokal fragen. Sie stehen, wie regelmäßig in solchen Fällen, beinahe davor. Durch das obligate Baustellengerüst vor dem Haus war die Tür verdeckt.
Bläuliches Licht draußen, blaß der passende, kühl-freundliche Name. Ein Klingelknopf, den der Berliner Amerikaner betätigt. Doch ist das Etablissement keines mehr von der Art, wo zu klingeln wäre. Niemand schaut durch die Klappe in der Türe. Letztere ist offen, und Sie treten ein.
Wie bei John B. Epstein nicht anders zu erwarten, handelt es sich um einen geschmackvollen Ort, eine kleine Bar, die gegen zehn Uhr abends gerade noch ein paar freie Hocker hat. Die Inszenierung komplettiert sich nach Umwegen doch. So geht es einem oft mit ihm. Die angesammelte Kälte löst sich in Nichts auf. Die Verzögerung war Teil des Spiels. Ein kleines, ironisches Schulterzucken noch. Dem Gespräch steht nun nichts mehr im Wege, den Vermutungen über das Wesen dessen, was war und was ist. Hat Plato für seine Gespräche nicht auch oft ein kleines Vorspiel bemüht?

Mehr Handlung jedenfalls gibt es nicht. Wer sich auf das Folgende einläßt, auf ein Gedicht, das ein Buch unter dem Sternzeichen der Lyra, der antiken Leier ist, der kann sich verlieren in inneren, doch fernen und kristallin anmutenden Welten. Zum Längeren und Eigentlichen geleitet eine strenge Phantasie durch ihr unbescheidenes Schloß. Die Ahnen, oft ohne Namensschild an den stilvollen Rahmen, sind versammelt. Bilder kollektiver Sehnsucht treten auf in verfremdeter oder wenigstens unvertrauter Weise. Was unserer aktuellen einheimischen Denk-Küche ziemlich tabu, hier wird es wiederaufgenommen für ein Gedeck feingeistiger Artistik.
Sehnsucht (sag nur ich), gleich findet sie ein angemessenes Objekt, erstaunlich konkret: in jener Frauenhand, die viel zu tätig ist inmitten dieser Kunstlandschaft, um erfunden zu sein. Wir deuten sie als eine Verwandte der Beatrice, vielleicht. Dante seinerseits fand bekanntlich einen Höllen-Spaß daran, sehr konkrete Zeitgenossen in seine furchtbarprächtige Unterwelt zu versetzen.
Der Autor des langen Gedichtes, in dem wir uns, auf dem Hocker inmitten der Berliner Bar, längst befinden, scheint es dagegen eher mit Hölderlin zu halten. Dieser fürchtete seinerzeit, den reinen Gedanken zu erkälten „am gemeinen Tag“, sprich an der Alltäglichkeit, am „Akzidentiellen“, das er denn auch tunlichst mied. Bekanntlich nicht zum Nachteil der Poesie. Das Gefäß vom Anfang des Gedichtes will ebenfalls konkret, alltäglich dünken wie eines zur Bereitung der Getränke, die wir hier einnehmen können. Doch schon das Licht, das drin sich bricht, es hat nur wenig vom gewohnten Spektrum. Ach wie ist künstlich diese Rose! Doch was soll zeitgenössische Dichtung, gleich welcher Zeit, wenn sie die Bande der Gewohnheit nicht zumindest ein wenig strapaziert?

Im Laufe des Gespräches fragen wir nach Verstehen und Nichtverstehen. Wie liest ein Freund das Gedicht eines Freundes? Er wird ihm schwerlich gerecht, denn er kommt nicht umhin, die Person zu suchen in ihm statt des Gedichts. Und weiter: Ob es den Mythos des Dichterseins noch gibt? Ist er nicht nur noch kindlichen Gemütern gemein? Er tritt als Lebensentwurf zumindest hinter alles zurück, das zu unserem fin de siècle idealisiert wird: Weder der „Terminator“ noch Claudia Schiffer oder Bill Gates sind Dichter. Sie sind Geschäftsleute. Doch auch das Klischee vom Armen Poeten hat sich überlebt. Es bleibt nur, wie alle Klischees, tief wahr, Destillat massenhaft bestätigter Erfahrung. Erfinden wir uns eine Zufallsbekanntschaft: Ach, Sie schreiben Gedichte?! Und wovon leben Sie? Gottverdammt schierer Realismus. Gottverdammter alltäglicher Tag.
Doch sprechen wir über das Kommen: auf die damalige glückliche Insel Westberlin, das Gehen: vorwärts zurück?, das Bleiben: als einer, der offenbar immer englisch schreiben wird? Über die Landschaft und die Stadt und den Blick aufs Meer (wo immer wir hingeraten, geleitet von diesem Stern), das Feld und den Wind. Die Häuser, die vielleicht betreten werden, vielleicht wie von Edward Hopper gemalt, oder noch eisiger, noch ferner dem Alltäglichen, wie bei Carel Willink, dem späten Surrealisten, in traumatische Ebenen gestellt, sich selbst überlassen und der sinnenden Projektion des Betrachters…
Konkreta, wie stereotyp dürfen sie sein? Womit wir wieder bei Hölderlin wären, bei seinen Berg und Tal und seinem Fluß. Oder bei Rilke, dessen Malte VEGA nicht umsonst zitiert: was einer alles erfahren, sehen, wissen müsse „um eines Verses willen“, und, wie Rilke fortfährt, was er wieder zu vergessen hätte, um auf den Moment zu warten, da es wieder herauftaucht, gereift für den Vers. Poetische Wahrhaftigkeit – ganz andere Münze als das Aufschreiben dessen, was ist.
Jedes Abstraktum und jede Reflexion sind erlaubt, wenn das Schreiben nur seine immanente Notwendigkeit, sprich Schönheit, transportiert, sein Spiel: durch die goldne Brücke, über den großen Teich…
Übrigens war John B. Epstein in seinem dreißigsten Jahr, als er nach Berlin kam. Und London wie Paris (und dank Studium wie forciertem Interesse die französische Sprache und Literatur neben der englischen und amerikanischen) kannte er schon. Schreiben hat, jenseits der Naivität, seinen Ort, oder es wird ihn suchen. Schöpferischer Geist zieht zumindest einmal, in der Regel recht früh, seinen Saft wie der Baum im Winter (man mag über eine derart schlichte Metapher hier ruhig nachdenken und vielleicht finden, daß sie der Überprüfung standhält; ich wiederhole: Winter). Später treibt er, bei einigem, eher großem Glück, seine Blüten an jenem geeigneten Ort im endlich passenden Frühling. Und schließlich, wenn es gutgeht, erntet er.
Das braucht seine Zeit, und es bedarf der Hilfe. In diesem besonderen Fall kannte der Autor z.B. seinen Übersetzer schon, als er vielleicht noch nicht an die Vollendung von VEGA glauben mochte. Damals übertrug er die Gedichte von Ostberliner wie Westberliner Autorinnen und Autoren auch selbst als Übersetzer und neugieriger Kollege und sorgte für deren Publikation in den Vereinigten Staaten. Nebenbei: daß Andreas Koziol und John B. Epstein zueinander fanden, zufällig war es sicher nicht.
Was die Zeit im Gedicht betrifft, darüber sprechen wir auch. VEGAs kontemplativ durchgeführte „Handlung“ bedarf, wenn ich es recht verstehe, nur eines einzigen, allerdings sehr geweiteten Tages. Ein immer wieder zur Lakonie genötigter Träumer reflektiert den Lichtschein auf den ausgewählten Bildern.

Wie der Autor und sein Gesprächspartner wird der Leser sich sehr viel Zeit nehmen müssen. Dieses Gespräch währt nicht nur einen Abend. Es bedarf der Umwege. Es wird auf der Stelle treten. Vielmals wird angesetzt, neu angesetzt, diese und jene Sequenz nachgeschlagen, in diese und jene Szenerie geflohen und in den sinnlichen Schluß. Wie gerne verfallen wir dabei auf die Sprache des Originals, die musikalischere, wie sich herausstellt. Schließlich sind wir auf Korrespondenzen zur eignen Erfahrung gestoßen. Zugleich rebellieren Fleisch und Blut gegen die herrschende Künstlichkeit.
Vergeblich bleibt auch die Suche nach einem Ich, mit dem die liebliche Falle der Identifikation aufgeklappt werden könnte. Dabei ist die Bühne gelegentlich durchaus belebt. Es berlinert sogar jemand in den Raum hinein. Allerdings beziehen sich jene Frauen wieder auf eine andere Figur, der du nicht begegnen kannst. Da wird auf Draußen verwiesen, von Haus zu Haus über den Hof, über die Straße weg… Mysterienspiel, in dem jede irgend geartete Gottheit abwesend ist, gewidmet den Eltern des Autors: Wo hätten wir das in unserer Generation hierzulande gefunden?
Die letzte U-Bahn fährt bald. John hat doch darauf geachtet. Ich hatte Zeit und Ort vergessen. Der Aufbruch kommt plötzlich. Ich war gestrauchelt inmitten der eigenen Gedanken über das Wesen der poetischen Arbeit und dabei naturgemäß vom Hundertsten ins Tausendste geraten.
Draußen ist es noch kälter geworden. Froststarre Straßen unter klarem Himmel. Eine Erinnerung zwölftausend Jahre voraus: Dann wird Wega den Platz des Polarsterns eingenommen haben. Statt dessen hier und jetzt, großmächtig aufgespannt zwischen blauem und rotem Riesenstern, Orion, der Held der Winternacht.
Und während wir einander gegenüberstehen auf getrennten Bahnsteigen, um gen Ost und West zu fahren, legt sich warmen Gelbs der Erdenmond zwischen Berliner Dächern zu Bett.

Uwe Kolbe, 1996, Vorwort

Begleitinformation zu John Barton Epsteins VEGA

Bei dem Langgedicht VEGA handelt es sich um den in der Literaturgeschichte eher selten gebliebenen Fall eines dichterischen Debüts, das gleichzeitig ein Opus Magum zu sein verspricht. Es steht sichtlich in der Tradition der visionären Langgedichte, wie sie uns Amerika seit den Grashalmen Walt Whitmans unter anderen mit William Carlos Williams’ Paterson und, in jüngerer Zeit, mit John Ashberys Flow Chart beschert hat.
In einer breitangelegten Strömung der Assoziationen wird über 5 Kapitel hinweg der innere Atlas einer Reise entworfen, deren Route sich spiralenartig entspinnt. In ihrem Voranfluß ändert sich fortwährend der Spiegel seiner poetischen Ausdrucksrichtung. Zitate aus Briefen, Zeitungen, Schlagern finden sich neben denen von Klassikern der angelsächsischen Moderne eingeflochten in längere epische Passagen, Monolog trifft auf Dialog, Lied auf philosophischen Diskurs, konventionelle Landschaftsbeschreibungen auf freie, gelegentlich surrealistische Assoziation. Die all dies miteinander verbindende und vor der Ausuferungsgefahr bewahrende Kraft findet sich allein im Willen des Autors, sich sozusagen seinen inneren Kontinent zu erwandern. Das Gefühl eines dauernden Unterwegssein in Anbetracht unendlicher Weiten, das in der amerikanischen Dichtkunst immer wieder zu einem besonders kartographiegebundenen Begriff von poetischer Freiheit geführt hat, bildet auch hier eine der Grundlagen dieser ausgedehnten Epopöe. Ihr Text jedoch ist auf einem Weg durch die unerschlossenen Gefilde einer inneren Expansion, die eine synchrone Bewegung in die Vergangenheit, in die Sehnsucht nach einer idealen Stadt und in die realen Metropolen zweier Erdteile umfaßt. Somit befindet er sich auf einer dreifachen Reise. Von seinen wechselnden Perspektiven her scheint er ständig auch ein „drüben“ ein „beyond“ im Auge zu haben.
Einem weiteren poetischen Paten und Gewährsmann J.B. Epsteins, dem – gleich diesem – aus Nordostens Amerika, stammenden Wallace Stevens sagte man nach, er würde ungern eine Gelegenheit versäumen, wenigstens ein „beyond“ in seine jeweilige Rede einzuflechten, und sei es auch ein „beyond all thoughts“.
Da ein Titel auch als Programm gelesen werden kann und der Titel VEGA gemeinsam mit dem gleichnamigen Stern im Zeichen der Lyra einen andalusischen Landstrich bezeichnet, ließe sich bemerken, daß der Gegenstand des Buches die Begegnung von Mythos und sich vergegenwärtigender Geschichte ist.
Durch die Maler A.R. Penck und Helge Leiberg erfährt dieser Erstdruck eine sowohl mit dem Textverlauf korrespondierende bzw. ihn untermalende, als auch ihn kontrastierende Auflockerung.
Das Zusammenwirken verschiedener Künste wird durch eine CD vervollständigt, auf welcher der Autor zur Begleitung des Avantgarde-Jazz-Gitarristen Lothar Fiedler unter Mitwirkung weiterer Musiker zu hören ist.

Andreas Koziol

Einsam auf namenloser Kreuzung

06. März 1997 Uwe Kolbe stellt ihn uns vor, John Barton Epstein, den Ostküsten-Amerikaner, der seit über einem Dutzend Jahren in Berlin lebt, den Autor des langen Gedichts VEGA. Kolbe nennt das Poem – empfehlend, versteht sich – ein „Gedeck feingeistiger Artistik“. Er seufzt: „Ach wie ist künstlich diese Rose!“ und gibt seiner Meinung Ausdruck, daß die Sprache des Originals die musikalischere sei – ein Wink in Richtung Übersetzung. Kurz: seine Sympathieerklärung ist nicht unkritisch.
Zweifellos hat sich John Barton Epstein an ein ambitioniertes Projekt gemacht, an ein Langgedicht, das Kosmisches und Zivilisatorisches verbinden möchte. Wega, der Hauptstern im Sternbild Leier, ist sein Leitbild; und mit Passagen, die den gestirnten Himmel beschwören, endet sein Poem: „Wo über dem Rand verschneiter Wälder Orion aufsteigt / Mit funkelndem Schwert, erhobenem Arm und mit seinem / Breiten, am Winterhimmel entflammten Gürtel.“
Solche klaren Visionen sind selten, denn Epstein – sollte er ein Konzept für sein Poem gehabt haben – hat es verstanden, dieses durch ein Geröll ermüdender Passagen zuzuschütten. In der monotonen Reihung reimloser Terzinen bleibt der Zusammenhang von Figuren und Situationen vage, schwanken die langatmigen Reflexionen zwischen Pseudotiefsinn und Banalität, finden sich abstrakte und kitschige Bilder und Metaphern: „Gewagtheit drang vor bis zur Koje / Smaragdener Einsamkeit, als er durch bronzenes Licht / Fuhr und dann zu der Kreuzung, die namenlos war.“
Manche Unschärfe geht auf das Konto von Andreas Koziols Übersetzung. Sie macht das Original oft gespreizter, als es ist. Zudem ist die deutsche Version offenbar weniger sorgfältig durchgesehen als die englische. Bleibt anzumerken, daß man Dichters Stimme auf der beigegebenen CD hören kann. Man muß freilich auch die begleitende Musik goutieren können.

Harald Hartung, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6.3.1997

VEGA

In dem Berliner Stadtteil Neukölln sitzt hinter einer einbruchsicheren Stahltür ein Dichter und … dichtet natürlich, wenn er nicht gerade im Internet surft. Er ist Anfang vierzig, verheiratet und hat eine Tochter. Diese Umstände erklären natürlich nicht das Werk des Mannes, aber sie mögen den Leser beruhigen, der sich vielleicht den Kopf zerbricht, wie das Leben eines Mensch aussieht der sieben Jahre damit verbrachte, sich durch sämtliche Langgedichte der Weltliteratur zu lesen, um diese illustre Reihe mit seinem Werk Vega fortzusetzen.
John Barton Epsein hat an der Columbia, einer New Yorker Eliteuniversität studiert und kam dort mit Vertretern der New York School of Poets in Berührung, einer Dichterschule, die gewöhnlich mit dem Etikett „postmodern“ versehen wird. Als ihr bekanntester Vertreter gilt John Ashbery, der auch hierzulande kein Unbekannter ist. Die Postmoderne ist jedoch ein weites Feld, auf dem sich alles mögliche tummelt und das in bezug auf VEGA unbedingt eingegrenzt werden muß, um etwas über das Werk aussagen zu können.
Obwohl VEGA sich strikt an zwei der drei Einheiten hält – die des Ortes: ein Mann, der an seinem Schreibtisch sitzt und diesen auch nicht verläßt, die der Zeit: das Ganze spielt sich innerhalb eines halben Tages ab -, so wandert der Verfasser oder sein projiziertes Bewußtsein doch von topos zu topos, mischt Diskurse und Stile in bester postmoderner Manier. Das ist aber nicht alles. Die immer wieder nach oben kommende Ironie, die subtilen und auch weniger subtilen Manierismen werden den wirklich aufmerksamen Leser, falls es einen solchen geben sollte, nicht von der Tatsache ablenken, daß der Dichter ganz andere Dinge anvisiert. Der auf Seite 68 zitierte Ausruf Paul Valérys: Ah consciousness forever and forever demanding events, sollte ihn auf die richtige Fährte bringen. Bewußtsein, Erinnerung, die Dichtotomie zwischen Realität und den Elyborationen des Geistes, diese Themen sind immer präsent und werden in den unterschiedlichsten Zusammenhängen aufbereitet. Damit der deutsche Leser nicht aufgrund mangelnder Englischkenntnisse scheitert, folgt die deutsche Übersetzung von Andreas Koziol dem Original Seite für Seite. Legt er das Buch dennoch aus der Hand, ist es dank der Gouachen von A.R. Penck und der Zeichnungen von Helge Leiberg eine Zierde für jeden Kaffeetisch. Auch eine CD mit Sound Arrangements von Lothar Fiedler liegt bei, die Stimme des Dichters hätte in diesem Fall jedoch genügt.

Uta Gordis, Listen

Ästhetische Hochzeit

Vega – das ist der Stern im Zeichen der Lyra, das ist die andalusische Landschaft, das ist der Name des spanischen Dichters. Anklänge also an irdische und himmlische Gefilde kündet schon der Titel des wunderlich aufgemachten, fast wie eine Fibel gestalteten Werkes, Anklänge an die alten Verse, an den produktivsten aller Dichter…
Der Fluß der Rede nimmt auch in Epsteins Langgedicht keinen Anfang und kein Ende. In Aberhunderten von meist dreizeiligen Strophen, in abertausend weit ausladenden Verszeilen breitet sich die Elegie als ein poetisch gewobenes, philosophisch vernetztes, sachlich verkettetes Gebilde aus. Da ist der Leser gefordert – doch es lohnt sich der mühseligste Verstehensaufwand, in die kontemplativen Sprach-Paradiese einzudringen: Unvergleichlich schöne, unvergleichlich kunstvolle Verstrickungen der Assoziationen danken dem Leser, der sich bald wie berauscht hinweggetragen fühlt.
Im Festkleid zeigt sich die Sprache, die Konstruktion der Sätze als wenngleich robustes, so doch streng-prächtiges Gewirk. Da hat der Übersetzer ein Wunder vollbracht, es der amerikanischen Fassung gleichzutun, ohne sich ihm selbstgefällig überzustülpen. Da schwingt der Rhythmus mit dem Vorbild ineins, gehen die Bilder im Takt, folgt der Gedanke dem Herzschlag des Autors.

It was the anonymous hum of their words whicht brought on
The strangest train of feelings and sensations:
A steeple chasing flagging moons, the unfurnished world
Which awaits…

Das namenlose Summen ihrer Wörter zog den seltsamsten
Zug voll überraschender Gefühle: ein müder Mond im
Nehmen letzter Hürden, Erwartung unmöblierter Welten.

Wörter aus fernen Jahrhunderten mischen sich wie selbstlos in die Botschaft unsrer Zeit:

In den Tiefen des riesigen Waldes gleicht es der Muße des Königs, der
Sich auf offener Lichtung entspannt. Seine Regalien liegen
Verstreut auf dem Boden, dort klettern Wicken in purpurnen

Reihen, ein Windstoß wendet die Farne wie biblische Seiten.
Er lauscht der von Zither- und Pommerklängen begleiteten
Jeremiade des Tages und heftet die schläfrigen Augen

Ans blaue Himmelsportal, wo langsam und tief die
Weißen Wolken des Sommers vorbeiziehn. Seine Geliebte
Allein ist das Schwanken der tiefen Schatten des Waldes.

Die Wörter wie Lettern, so ernstlich, so ewig. Die Bilder so satt, so lebensvoll getränkt. Als eherne Tafeln sind die starkfarbigen Gouachen von A.R. Penck jedem Kapitel des Epos vorangestellt, den Mythos in Schlangen und Echsen und labyrinthischem Gezweig gestaltend, die archaischen Zeichen dem reichem Wortwerk als Ursprung unterlegend. Wild und vergnügt tauchen auf allen Seiten die schwarz-gelben Zeichnungen von Helge Leiberg auf, die regelmäßige Form der Strophengebäude lustvoll umkreisend, unterfütternd, dem Geraden das Ungerade, den Buchstaben den weichen Pinselstrich, die fette Kreidelinie, den tappsigen Fingerabdruck als flüchtiges Komplement hinzufügend.
Damit nicht genug. Ist doch dem herrlichen Band noch die akustische Verköstigung der Poesie beigegeben in Form einer CD, die Texte, rezitiert vom Autor, und Musik von Lothar Fiedler vereint zur lautlichen Vision von Vega. Vega, die Sphärentöne in dem fruchtbaren Land, der feuchten Flußaue von Andalusien auffängt. Als gelte es, eine ausschweifende Hochzeit zu feiern.

Sonja Roller-Eller, Südkurier, 30.12.1997

Vom Scheitern eines Leseversuchs

− Eine Nichtbesprechung von Epsteins VEGA. −

Ich habe dieses Buch nicht verstanden, und ich habe es nicht fertiggebracht, es durchzulesen. Seit gut einem Jahr versuche ich, einen Zugang zu diesem Buch zu finden – ohne Erfolg, was unzweifelhaft an mir als Leser liegt. Auch zwei unlängst erschienene kürzere Besprechungen in der FAZ und in der Süddeutschen Zeitung haben mir nicht weitergeholfen (den betreffenden Rezensenten schien es ähnlich zu gehen wie mir).
Da ich aber

a) mehrfach mit dem 45jährigen Autor des Poems, dem in Berlin lebenden Amerikaner John Barton Epstein, telefoniert habe (er war sehr freundlich),
b) den Verlag – Gerhard Wolf Janus press – überaus schätze, der viel für die experimentelle Literatur tut und auch dieses Buch hervorragend ausgestattet hat,
c) trotz meines völlig versperrten Zugangs zumindest ahne, daß eine poetische Kraft in den „VEGA“-Terzinen steckt,

möchte ich wenigstens auf die Existenz dieses Buches hinweisen. Vielleicht findet es Leser, die besser damit umgehen können als ich.

Christoph Witzel, Magazin am Wochenende, 6.9.9197

Vorauseilende Poetische Erfahrung

− Epsteins Großgedicht VEGA mit Illustrationen Pencks. −

Immer wieder bringt die Janus press von Gerhard Wolf ganz besonders liebevoll gestaltete Bücher heraus. Dabei hilft vor allem der „Haus-Maler“ Penck, der wieder acht Gouachen beigesteuert hat: zum Band VEGA, einem Großgedicht des Amerikaners John Epstein. Der lebt seit gut zwölf Jahren in Berlin (West), und vielleicht ist es kein Zufall, daß seine Verse viele Rilke-Anklänge haben – fremde Großstädte machen ab und zu wehmütig.
Uwe Kolbe hat dem Band ein Vorwort geschrieben, das von einem Winterabend mit der Dichter-Freund erzählt. Ein wenig hilflos hebt er „ferne kristallin anmutende Welten“ bei Epstein hervor, auch die Bilder kollektiver Sehnsucht, und seine Warnung bestätigt sich aufs schönste: vergeblich werde man nach einem Ich in diesen Texten suchen, „mit dem die liebliche Falle der Identifikation aufgeklappt werden könnte“.
Die Gedichte wurden von Andreas Koziol übersetzt, eine Art Gegengabe oder Dialog: Epstein hatte ihn – und andere junge Autoren – vorher schon in Amerika vorgestellt. Die Übersetzungen waren gewiß eine harte Arbeit, die ohne auch persönliche Nähe zum Autor kaum zu bewältigen scheint – ein reiches Vokabular und Bildsprünge, auf die man nicht vorbereitet sein kann. Koziol bleibt vielleicht etwas zu sehr beim hohen, kostbaren Ton: Epsteins Mischungen sind etwas kruder als wiedergegeben.
Schön und wichtig, daß das Gedicht zweisprachig gedruckt ist. Die Penck-Gouachen trennen die Kapitel, die schwarz-gelben Zeichungen von Helge Leiberg tauchen auf buchstäblich jeder Seite auf, verschwenderisch also, wozu freilich die karge Letter nicht passen will. Gleichwohl ein auffällig gestaltetes, sehr ansprechendes Buch.
Epstein hat ein Großgedicht mit sechs Kapiteln geschrieben, dieser Typus ist in der angloamerikanischen Lyrik stärker zu Hause als in der deutschen. Doch wird in seinem Poem nur gelegentlich erzählt, der Ansatz ist philosophisch und sachlich-konkret zugleich, Rilkes Duineser Elegien haben das vorgemacht. Eine Vielzahl von Bildern, Eindrücken, Fragen, Wortfiguren, vor allem aber dichte, schönste Poesie. Ein gebrochenes Licht und sein Flackern rufen das Gedächtnis entlegener Orte hervor, „gleich der Erfahrung, die man schon hat, noch / Bevor das Ereignis sie einholt“.
Geistreich, kunstvolle Führungen, die für ein poetisches Denken zeugen, das seine eigene Konzentration kennt. Serenität und Pracht kennzeichnen den Duktus der Bilder ebenso wie Alltagserfahrungen, die freilich möglichst kostbar übersetzt werden. Auch das kennen wir von Rilke:

Dort steht er, der Bettler, in der Abendluft.
Erschaudernd. Er kommt auf dich zu, sein ganzes Gepäck die
Sterne des Herbstes im schäbigen Ärmel, ein langsames
Schwenken des leeren Beutels ist seine einzige Geste,
Verweis auf die Summe zahlloser Tage, die dir bevorstehn.
Aber du mußt seine Gaben empfangen, wie sie dich einnehmen.

Modische Posen ironisiert Epstein, er fordert das genaue Hinsehen. Gleichwohl ist sein Text unmöglich „sachlich“ zu nennen. Das hatte Rilke sich als Charakterisierung gewünscht. Spiele und Ideen tauchen auf und vergehen, ebenso Bilder, die sich oft rascher auflösen, als sie erscheinen, mythische Motive, aber auch Burlesken, wie die kafkaeske Einweihung eines modernen Kunstmuseums bzw. Denkmals oder das Ende der DDR, das Epstein gut ist für eine Übung im Jugendstil.
Nach einer Weile wird Epsteins Epos allgemeiner und konkreter zugleich. „Die Abkunft des Bewußtseins zu bezeichnen“, das ist eine genuin dichterische Aufgabe und führt auf ein gestisches Sprechen, dem die Bilder untergeordnet werden. „Erinnerung und Sehnsucht sind eins“, heißt es – was in jenen Bereich führt, da das Ich noch seine eigene „gedeckte“ Sprache hatte. Wenn es im Text nicht ausdrücklich auftaucht, so vielleicht im Versuch, an diese Sprache wieder heranzukommen, was nur in Dichtung oder Psychoanalyse möglich ist. Gelegentlich auch im Spiel, das für Epstein eine große Bedeutung hat.
Der erste Teil ist durchweg in Terzinen geschrieben, mit fallenden Rhythmen und vielfältigen Verhakungen. Der zweite Teil (IV-VI) hat freiere Formen, eine souveräne Wortkunst verwandelt alles Material in Poesie. Der Titel VEGA wird dem Stern gelten (auf Deutsch WEGA), vielleicht auch ein wenig Lope de Vega, dem produktivsten Dichter aller Zeiten. „Vega“ ist auf Spanisch auch der Name für weiträumige, bewässerte und von Kulturland bedeckte Talsohlen und Flußauen. Dieser Hinweis (aus dem dtv-Lexikon) will mir am besten für die Charakterisierung des Großgedichts von John Epstein gefallen.

Alexander von Bormann, Frankfurter Rundschau, 27.9.1997

Traumreise in Text, Bild und Ton

− John Epstein debütiert bei Janus press mit dem Langgedicht VEGA. −

„Ach Bewußtsein! Immer und ewig verlangt es Ereignisse.“ Solches sinnierte Paul Valery, der Mann des universalen Geistes, und John Barton Epstein, der 1952 geborene, seit 1982 in Berlin lebende Amerikaner, zitiert ihn nur zu gern. Denn in VEGA begibt sich der Autor und Nachdichter auf eine Traumreise durch die Zeiten, voller Visionen und empfindsamer Bilder.
Epstein debütiert hier mit einem in sechs Kapitel gegliederten Langgedicht. Der Autor montiert Gefühle („die ich verzweifelt zu geben versuchte“), Erfahrungen zwischen Schotterpfad und Zypressenhain sowie innere Monologe mit Zitaten aus Zeitungen, Briefen oder Liedern. Er beschreibt mit meditativem Gestus Landschaften wie Begegnungen, läßt in einem raschen Wechsel der Ebenen teilhaben an eigenen Idealen und philosophischem Nachdenken sowie an seinem Einssein von „Erinnerung und Sehnsucht“. So kommt es, daß Konkretes und Abstraktes hier eng beieinander liegen – ein anregendes intellektuelles Spiel, in dem jener Lesende Bereicherung und Freude zu empfinden vermag, der sich als Dialogpartner unverstellt in diese teils anstrengende, mitunter auch verrückte „Ich-sehe-was-das-du-nicht-siehst-Geschichte“ einzubringen weiß. Bereichert wird die Textedition VEGA, die einen Stern im Zeichen Lyras sowie einen andalusischen Landstrich zitiert, durch ganzseitige Gouachen voll archetypischer Symbolik von a.r. penck sowie lockere, teils friesartig den Text begleitende Zeichnungen von Helge Leiberg und eine munter experimentierende CD des Avantgarde-Jazz-Gitarristen Lothar Fiedler.
Insgesamt gleichermaßen ein elitäres Wagnis wie auch eine kongeniale zwiesprachige Kunstedition, die man so wohl nur selten zum Lesen, Hören und Schauen bekommt.

Wolfgang Leissling, Thüringer Allgemeine, 13.3.1997

Stern, Dichter und Landschaft

− John Barton Epsteins poetische Reise im Zeichen der Vega. −

The question fall away; they seem another world and life
… the last faint notes through the empty rooms.

Die Fragen fallen weg; gehören anderen Welten und Leben
… letzte leise Notizen treiben durch leere Räume.

Hier sind wir beinahe am Ende einer langen Reise durch Bildwelten und Gedankenbilder. Eine Reise, die den Mythos antiker Erinnerung ebenso beschwört wie die Natur in all ihren kleinen und großen Varianten, auch bei scheinbar präziser Beschreibung immer mit einem surrealistischen Beiklang.
John Barton Epsteins Langgedicht VEGA ist kein leicht zu konsumierender Text. Überraschende Assoziationen führen den Leser, kaum daß er festen Boden unter seinen Wanderschuhen geglaubt hat, ins Leere, lassen ihn die Orientierung verlieren.
Da ist es müßig, Inhalte, etwa die imaginäre Reiseroute, nacherzählen zu wollen. Es ist sogar zweifelhaft, ob dem nach Fixpunkten Suchenden der Titel hilft: Vega mag der Name des 26 Lichtjahre von uns entfernten Sterns in der Leier sein. Oder ist der spanische Dramatiker und Lyriker Lope de Vega gemeint, um 1600 der angesehenste Schriftsteller seines Landes? Kulturgeographen benennen mit Vega einen andalusischen Landstrich, der durch Bewässerungssysteme für intensive Nutzung erschlossen wurde. Epsteins VEGA hat von allem was: unvorstellbare Weite, dichterische Kraft und reale Natur.
Das Buch ist – mit Ausnahme eines dummen Fehlers schon in der zweiten Zeile – von Andreas Koziol in zweijähriger Arbeit treffend übersetzt worden, mit manchmal zu gewählten Worten, wo die Sprache des seit fünfzehn Jahren in Berlin lebenden Amerikaners bodenständig bleibt. Original und Übertragung laden zum Vergleich ein.
Zum Gesamtkunstwerk wird das Gedicht durch die kryptischen Zeichen in A.R. Pencks Gouachen. Helge Leibergs üppig über das ganze Werk verteilten schwarz-gelben Zeichnungen und die beigefügte CD, auf der Epstein in einer Performance mit dem Jazz-Gitarristen Lothar Fiedler zu hören ist.

Jörg-Dieter Häußer, Darmstädter Echo, 5.5.1997

Sperriger Stern

Fern
Dem Kreis des hellen Lichts wächst Dunkelheit, die
Alles der Beliebigkeit entzieht. Der Augenblick,

Auf sich gekehrt erscheint jetzt wie die Stille,
Die dich heimgesucht hat, lang vordem

Nicht unfeierliche Worte durch den Übersetzer (ein Untersetzer ist ja auch ganz was anderes!) Andreas Koziol noch erhöht, die für ein ungewöhnliches Debüt bezeichnend sind: John Barton Epstein, ein seit 1982 in (West-)Berlin lebender Amerikaner, Jahrgang 1952, veröffentlicht sein umfangreiches Poem VEGA als multimediales Projekt, aber vom Text her mit anti-modischem Gestus, in der Gerhard Wolf Janus Press. – Die grün-braunen Gouachen von A.R. Penck und die reduzierten und dennoch sinnenfreudigen Zeichnungen von Helge Leiberg auf jeder Seite, die mit Gelb und Schwarz auskommen, machen dieses Buch zu einem ästhetischen Erlebnis und schaffen einen Kontrast zum schwer zugänglichen Fünf-Kapitel-Gedicht von Epstein in der Tradition von Whitman und Williams, der aufgrund der Vorliebe des Autors für Abstrakta sehr sperrig dasteht. „Vega“, das ist u.a. ein Stern im Zeichen der Lyra, dessen Betreten bestimmt kein Massenphänomen sein wird. – Das Buch wird von einer CD ergänzt, auf der der Avantgarde-Jazz-Gitarrist Lothar Fiedler mit anderen Musikern den Autor begleitet, ohne Sprache und Musik zu einer suggestiven Einheit zu verbinden.

Dieter M. Gräf, Basler Zeitung, 23.5.1997

Lyrik voller Licht

− Man lese und staune – über ein großes Gedicht am Ende unseres so zerstörerischen Jahrhunderts. −

Sehnsuchtsvoll zeichnet es Räume zwischen Stadtlicht, Seelicht und Sternenlicht. Zeit muß man sich gönnen, um dieses Sprachwerk zu umwandern, den Blick nach oben darf man nicht vergessen, in den endlosen Raum voller Spiegelungen der sprachlichen Bausteine. VEGA heißt der starke Lyrik-Band – und der Dichter heißt John Barton Epstein, ein Amerikaner in Berlin.
Seine Sprache, seine Bilder sind traditionell. Aber geformt aus einer Tradition, die amerikanische Wurzeln hat. Lyrik aus der Neuen Welt hat in diesem Jahrhundert in vielen Beispielen gezeigt, daß die alten Menschheitsdramen auch in den Straßenschluchten der Riesenstädte ihre Darsteller haben.
John Barton Epsteins Arbeit an VEGA hat mehrere Jahre gedauert – die gelungene Übersetzung durch Andreas Koziol weitere zwei Jahre.
Original und die Übersetzung ins Deutsche stehen sich Seite an Seite gegenüber. So wünscht man es sich – nicht nur bei Lyrik.
Das Buch scheint auf den ersten Blick graphisch gut gestaltet, schaut man genauer hin, wirkt die allzu üppige Illustrationsgarnierung arg schwächlich, auch wenn einer der beiden Graphiker A.R. Penck heißt. Die bilderreiche Sprache Epsteins können sie jedenfalls nicht erreichen.
Anders dagegen die schöne Überraschung im hinteren Umschlag des Bandes. In dünnem Papiertäschchen steckt eine CD, die es auf sich hat.
Der Dichter Epstein spricht seine VEGA-Texte. Und was da aus einer selbstgebauten Zwitschermaschine in die Ohren springt, ist die höchst originelle Tonsprache dreier Musiker (Lothar Fiedler, Tina Wrase, Heiner Reinhard) John Cage und Erik Satie haben bestimmt ihre himmlische Freude daran.

Bernd Gutzeit, Westfälische Rundschau, 16.4.1997

Lyrischer Kosmos eines Weltbürgers

Take 1: CD-Nr. 1, ca. 0″15

Nein, versuchen Sie bitte nicht, den Sender genauer einzustellen oder gar das Radio abzuschalten. Dies ist keine Störung, sondern die freilich gewöhnungsbedürftige Musik zu Beginn jener CD, die das monumentale Erzählgedicht VEGA des Amerikaners John Barton Epstein akustisch illustrieren soll, auch der Autor kommt darauf zu Wort. John Barton Epstein wurde 1952 an der Ostküste der USA geboren, lebt aber seit 1982 als Dolmetscher, Nachdichter und Übersetzer literarischer Texte sowie als Autor eigener Lyrik und Prosa in Berlin.
Im Vorwort schildert Uwe Kolbe Gespräche mit seinem Freund, zeichnet das ganz persönliche Portrait eines scheuen Menschen, der sich dem Gegenüber erst im Lauf verschiedener Begegnungen zu erkennen gibt; ähnlich wie auch dieses ambitionierte Langgedicht in 6 Kapiteln von insgesamt mehr als 100 Seiten wiederholter Lektüre bedarf, bevor es sich dem Leser auch nur annähernd erschließt. Uwe Kolbe beschränkt sich darauf, den Text mit einem Bild zu beschreiben: „Ach wie künstlich diese Rose!“ – fürchtet er doch, nicht die notwendige Distanz aufbringen zu können: „Wie liest ein Freund das Gedicht eines Freundes? Er wird ihm schwerlich gerecht, denn er kommt nicht umhin, die Person zu suchen in ihm statt des Gedichts.“

Auf der beigefügten CD liest John Barton Epstein längere Passagen seines Werks, die moderne musikalische Untermalung erleichtert freilich nicht eben das Verständnis:

Take 2: CD-Nr. 10 einblenden in die Musik bei ca. 0″25: „Thus there ist real chance for happiness. S. 82ff. … Comings and goings.“ (ca. 1″10, insgesamt mit Musik ca. 1″35)

Um reale Chancen glücklich zu sein, geht es. Beschworen wird diese Utopie durch ein Feuerwerk poetischer Bilder. Impressionen und Wortfiguren von bestechender Schönheit entwirft John Barton Epstein. Fein- und hintersinnig, filigrane Momente weist der Text auf und tritt zugleich mit der Wucht archaischer Mythen an. Offenbar hat John Barton Epstein sich vom Stil visionärer Langgedichte aus dem anglo-amerikanischen Sprachraum in der Tradition Walt Whitmans, William Carlos Williams oder John Ashberys anregen lassen. Träumereien und Beobachtungen, Zitate aus Briefen und Zeitungen, Motive der Literatur oder moderne Schlager – all das fügt sich assoziativ zu einem breit angelegten Gedankenstrom.
Eigene Beobachtungen wie auch Meldungen der Lokalpresse und abstrakte Erwägungen ergänzen einander. Epstein zitiert Rilke und beruft sich auf dessen Überzeugung, Verse beruhten weniger auf Gefühlen, als auf konkreten Erfahrungen. Anleihen aus philosophischen Diskursen untermauern ein für Ideen aller Art offenes Denkgebäude, dessen strenge, mitunter fast monotone Form aus reimlosen Terzinen in überraschendem Kontrast zum reichen Spektrum seiner Themen steht. Nur konsequent mutet an, daß Epstein die diszipliniert durchgehaltene Gestalt mitunter überwindet und Mut zu freieren Versen findet.
Daß der Autor eher in kosmischen Ordnungen denkt, als sich auf seine amerikanische Herkunft beschränken zu lassen, deutet der Titel VEGA an. Dieser Stern im Zeichen der Leier strahlt über beide Kontinente. Der Titel erinnert aber auch an einen andalusischen Landstrich und an den überaus produktiven spanischen Dichter Lope de Vega. Von antiken griechischen Göttern über die mißglückte Einweihung eines modernen Denkmals bis zum Ende der DDR umfaßt dieser lyrische Kosmos eines Weltbürgers so ziemlich alles, was sich im Zeitalter moderner Massenmedien gedanklich verbinden läßt und das Leben bestimmt. „Erinnerung und Sehnsucht sind eins“ heißt es an einer Stelle.
Es macht Spaß, das Buch aus der Janus press von Gerhard Wolf zur Hand zu nehmen, so liebevoll und aufwendig ist es gestaltet: Gouachen von A.R. Penck gliedern den Text, aquarellierte Zeichnungen in Schwarz und Gelb von Helge Leiberg lockern als zweite Erzählebene jede einzelne Seite auf. Aufschlußreich und spannend ist schließlich die Möglichkeit, die Übersetzung von Andreas Koziol mit dem englischen Original vergleichen zu können.

Andreas Rumler, Deutsche Welle, 17.6.1997

„Der Ort heimelt merkwürdig an“

− Ein Langgedicht landet in den Sternen. −

„Ich war von dem akuten Leiden Präzision befallen. Ich drängte zum Äußersten der sinnlosen Begierde nach Verstehen, und ich suchte in mir die entscheidenden Punkte meiner Fähigkeit der Bewußtseins-Einstellung.“ Diese Sätze Paul Valerys aus dem Vorwort zu seinem Buch Herr Teste könnten auch statt anderer Zitate Epsteins Langgedicht VEGA einleiten: Er nennt Valery im Text, er umkreist das gleiche Problem, sein Langgedicht verweigert sich einer Zuordnung, wie es „Herrn Teste“, wenn auch aus anderen Gründen, erging.
Der US-Amerikaner John Barton Epstein kam über London und Paris vor 13 Jahren nach Berlin. VEGA schrieb er in Englisch, publiziert wurde es im Original und der Nachdichtung. Ob der Titel das in Spanien künstlich bewässerte Land oder den Großstern im Sternbild Leier meint, bleibt offen.
100 Druckseiten Poesie im Stück wollen nicht nur geschrieben sein, es muß auch einen Grund für diese Monumentalität geben. Das in sechs Kapitel unterteilte Werk beginnt mit „Die Dinge ringsum“ und endet bei „So hörte es auf“ in „strahlenden Ketten“ Andromedas. Der Autor läßt sich bei seinem Gang durch die Welt nicht auf Spielregeln ein, wie sie, um die Leser bei Laune zu halten, aus der Ballade oder dem Poem bekannt sind. VEGA könnte (zu ihrem Besseren) wesentlich kürzer oder auch etwas länger sein.
Epsteins Werk ist eine Mischung aus Selbstbefragung und die idealistische deutsche Philosophie abarbeitender mythischer Schau. Ziemlich fremd steht mittendrin ein Kapitel, das die Geschichte eines Denkmals beschreibt. Für mich die stärkste Passage, in der Erfundenes und Reales die oft vermißte Spannung aufbauen.
Am Anfang des Textes, der fast durchgängig in dreiversigen Strophen geschrieben ist, steht „Doch jedem Ding ist heimlich seine Eigenheit beschieden…“ Ich habe den Eindruck, daß es bei viel Heimlichkeit bleiben wird. Nicht zufällig sind „Schatten“ ständig präsent, die hymnisch beschriebenen Landschaften durchstreifend und besänftigend. Von „smaragdenen Hügeln“, „Majestät der Berge“, „blauem Himmelsportal“ bis „Mutter Natur“ ist alles im Übermaß vorhanden, was die idyllische Naturlyrik hergibt, daß man den „zerfressenen Schornsteinen“ ihren schlechten Zustand kaum glauben mag. Und aufpassen muß, die prägnanten Strophen nicht zu überlesen. „Diese neue Romantik gewährt uns zwar wenig Spielraum / Doch ist ihr Muster von größerer Dauer, weil ihre Lehren / Letztlich ein Sonderverständnis enthalten“. Wer weiß. Je weniger Epstein das „Bewußtsein“ befragt und näher an die Dinge kommt, um so eigenständiger wird seine Sprache, und die Bilder fügen sich trotz ihrer Flut zusammen. Doch der hohe Ton des Gedichtes bleibt. Die Nachdichtungen von Andreas Koziol steigt noch eine Oktave höher, sein Sound scheint aus anderen Sphären zu kommen. Da kann das Original manchmal nur hinterherlauschen.
Passend dazu ist das Buch übermäßig illustriert. Jede der 220 Seiten trägt eine Zeichnung von Helge Leiberg, meist mit dem Pinsel gemalt. Penck steuert noch acht Gouachen bei, wofür das Handwerkszeug ebenfalls der Pinsel ist und das Ganze aussieht wie von einem gemacht. Zum Band gehört außerdem eine CD mit dem Mitschnitt einer Lesung Epsteins, für die Lothar Fiedler die Musik komponierte.

Bernhard Theilmann, 22./23.3.1997

Den inneren Kontinent erwandern

− An diesem Buch stimmt alles: VEGA, ein visionäres Langgedicht in sechs Kapiteln von John Barton Epstein. −

Sieben Jahre schrieb er an seinem Gedicht. Nun füllt es ein ganzes Buch. VEGA lautet der Titel und meint sowohl den Namen eines Sterns als auch den eines andalusischen Landstriches. Autor John Barton Epstein wandert durch einen inneren Kontinent. 1952 in den USA geboren, unternimmt der Wahlberliner eine poetische Reise in die Vergangenheit und in die realen Metropolen zweier Erdteile, voller Sehnsucht nach einer idealen Stadt.
Mit einem Freund geht er ins Kino, anschließend streifen sie durch Straßen, auf der Suche nach einer bestimmten Bar. Das ist der grobe Inhalt und doch erzählt Epstein viel mehr. Alltagsszenen folgen Träumereien, Selbstgespräche wechseln mit realen und fiktiven Dialogen. Geronnene Lebenserfahrung tritt aus jeder Zeile hervor.
Der vertrauliche Dialog erlaubt dem Lesenden, einzutreten und sich treiben zu lassen. Metaphern, Posen und philosophische Ideen werden entwickelt und in Frage gestellt. In sanften Schwüngen und Kreisen bewegt sich ein Ich, das ein Du ist und sich manchmal ganz entzieht. Bruchlos folgen die Gedankenschleifen in kühler Grazie aufeinander, ohne sich zu wiederholen. Zitate aus Gedichten, Briefen und Zeitungen fließen ein in den breiten Strom der Assoziationen. „Erinnerung und Sehnsucht sind eins.“
Zusammengehalten werden die Elemente durch den langen Atem des Autors, der diese Flut mit leichter Hand zu ordnen versteht, stetig, immer unterwegs. Sein Poem steht in der amerikanischen Tradition der visionären Langgedichte, wie sie Walt Whitman schrieb.
VEGA ist darüber hinaus ein Gesamtkunstwerk. Der englische Text wurde von Andreas Koziol behutsam ins Deutsche nachgedichtet. Gouachen von A.R. Penck trennen die Kapitel, Zeichnungen von Helge Leiberg umspielen in klarer Linie die Kühle des Textes. Der Sprechgesang wird sogar hörbar auf einer beiliegenden CD. Epstein erzeugt mit seiner Stimme einen Sog, ohne zu nötigen. Die sparsamen Kompositionen von Lothar Fiedler unterlegen seine Stimme.
Und dann auch noch lesen! Den schwarz-gelben Figurinen Leibergs folgend, kann man von der englischen Version auf der linken zur deutschen Fassung auf der rechten Seite springen, ohne die Orientierung zu verlieren. Irgendwie bleibt alles sanft ruhig, träumerisch leicht: Selbst die schlanken Lettern nehmen den Sprechgestus auf. Bisweilen kommunizieren die Zeichnungen mit Passagen des Poems, mal melancholisch-romantisch, mal ironisch kommentierend.
An diesem Buch stimmt einfach alles. Uwes Kolbes Vorwort von Dichter zu Dichter stellt uns den „Freund aus Übersee“ und sein Gedicht in leisem, eindringlichen Ton vor. „Eine strenge Phantasie leitet durch ihr unbescheidenes Schloß.“ Wer das Poem liest, dem wird vielleicht am Ende dämmern, wie wirksam dieser poetologische Schlüssel ist.
Als wahren Glücksfall erweist sich Übersetzer Andreas Koziol. Wie auf Zehenspitzen träg er Gestus und Tonlage des Originals in die andere Sprache hinüber, nimmt das Versschema auf und behält grammatische Eigenheiten bei oder findet Entsprechungen. Stellenweise wirken der englische und der deutsche Text so synchron, daß die scheinbare Leichtigkeit das kunstvolle Handwerk des Übersetzers vergessen macht.
Natürlich läßt sich über manche Variante streiten: „Appetizing sounds“ übersetzt Koziol mit „leckere Klänge“. Ob das so glücklich getroffen ist? Dennoch. Seine Breite an sprachlichen Varianten ist erstaunlich. Das beweisen die Zwischentitel am Rand, wo sich Zeilen leicht variiert wiederfinden: „So all jene Formen sich / Bald beruhigen, unter den wirklichen Winterbäumen“, heißt es im Text. Daneben schreibt Koziol: „Formen, bald befriedet unter wahren Winterbäumen“.
Denksprüche lesen sich leicht ironisch, im Deutschen erst recht: „The bitternis of going up and down the stairs of others“ („Die Treppen anderer zu steigen ist bitter“).
Epsteins meditativen Duktus zu treffen, ist sicher nicht leicht. Bisweilen hält der Amerikaner ganze Seiten in hohem Ton, ohne in unangemessenen Pathos zu verfallen. Kolbe nennt die Sprache des Originals die musikalischere. Dem nachzuhorchen, wird dank der gelungenen Nachdichtung überhaupt erst möglich. Wunderbar, daß sich ein Verlag das leistet und damit Maßstäbe setzt.

Birgit Dahlke, Märkische Allgemeine, 14.3.1997

Was bleibt

− J.B. Epsteins Vega-Expedition. −

Am Anfang ist nicht das Wort, am Anfang sind die Dinge. Licht und Finsternis sorgen für ihre Erscheinung, die Zeit nimmt sie in sich auf. Doch inzwischen weitete sich der Geschehenskreis, eine Kernepisode kehrt zurück und läutet die letzten Erschöpfungen ein. Du aber, sagt der Dichter, fragst dich, was bleibt.
Kaum begonnen, soll nach fünf Strophen enden, was offenbar der Einheit von Geist und Tat gilt und als Weltgedicht in Dantes (aus Metrum und Reim entlassenen) Terzinen einherschreitet. Wo die Welt der Erscheinungen, wo sinnliche Wahrnehmung und menschliches Verstehen enden, da stellt sich der Geist des Erhabenen ein, der sein eigener Gesetzgeber ist.
Befreit erschafft die Einbildungskraft ästhetische Gegenwelten, die gestaltlos, begrifflich nicht bestimmbar und unermeßlich sind, eine Gegenschöpfung, der keine anschauliche Vorstellung entspricht. In unserem Fall heißt sie VEGA und ist das Werk des 45jährigen John Barton Epstein, eines Amerikaners, der seit fünfzehn Jahren in Berlin lebt.
Die Vega im Sternzeichen der Lyra gab dem Expeditionsschiff den Namen, das Europa und Asien erstmals nordöstlich umrundete. Im dritten Gesang taucht in der Tat von fernen Ufern kommend ein Schiff auf, das sich jedoch alsbald in Bahn und Bus verwandelt, bis die „unbeugsame Gegenwart“ an jener Klippe erreicht ist, wo der Neuanfang beginnt.
Zwar stellt sich ein lebensweltlicher Stützpunkt ein, der Schreibtisch voller Bücher, eine Stadt, menschliche Figuren. Aber der Impuls, der den Text antreibt, kommt nicht aus dem Leben. Rilkes Bemerkung, Verse seien Erfahrungen, wird mit einem Gedicht abgewiesen, das seine Gegenstände, die Landschaften und Naturphänomene, formal neutralisiert und einem unbestimmbaren „Kontext“ zuführt. Erst in den Metamorphosen des Kontextes, verrät der Autor, in der kreisenden Selbstbewegung des Gedichts, gewinnt die „neue Romantik“ eine Aussage.
Doch welche? Im Zeichen des blinden Weltenwanderers Orion führt der Weg nach erkenntnisphilosophischen Erörterungen in einer sich weitenden Spirale mitten in die Arsenale des Erhabenen, zurück zu den mythologischen Ursprüngen des Menschen und hinauf ins von Chören umschwebte Himmlische, wo das Schweigen Erkennen ist.
Stumme Botschaften bleiben übrig und der Eindruck, daß Epstein die fällige Metaphysik durch rhetorische „grandeur“ ersetzt, ein Werk der großen Worte, die Andreas Koziol in allergrößte übersetzt. A.R. Penck hat sie routiniert illustriert.

Sibylle Cramer, Süddeutsche Zeitung, 9./10.8.1997

Zunächst erstaunt die Aufmachung

des in Gerhard Wolfs Janus Press erschienenen Buches von John Barton Epstein, das sich seiner soliden Machart auf markante Weiße von den heute üblicherweise auf dem Markt erscheinenden Büchern abhebt. Format, Einband und Gestaltung erinnern an das gute alte Märchenbuch aus der Kinderzeit. Es ist ein fast erhebendes Gefühl, die weißen, dicken Buchseiten umzublättern. A.R. Penck hat fünf Gouachen in Rot – Grün beigesteuert, deren archaischer Gestus an Hyroglyphen aus einer fernen Welt erinnernt. Sie kontrastieren mit Helge Leibergs ebenso leichten wie expressiven Wachszeichnungen. Leiberg hat jede Seite individuell gestaltet. Das leuchtende Sonnenblumengelb seiner Zeichnungen evoziert eine Klarheit und Luzidität, die in krassem Widerspruch steht zur eher kryptischen Rätselhaftigkeit der Texte von John Barton Epstein. Sein Langgedicht VEGA reiht sich ein in eine Tradition der klassischen Moderne, die vor allem im angelsächsischen Sprachraum prägnante Beispiele hervorgebracht hat. Erinnert sei an Walt Whitmans Grashalme, T.S. Eliots Waste Land und William Carlos Willimas’, drei Bände umfassendes Langgedicht Paterson. Solchen Umfang hat John Barton Epsteins Langgedicht VEGA nicht. Ambitionen in diese Richtung aber sind in ihm unzweideutig auszumachen. Man merkt ihm die Belesenheit und intensive Beschäftigung des Autors mit der Literatur der klassischen Moderne an. Epstein, der 1952 in Worcester/Massachusetts geboren wurde, studierte an der Columbia University Englische Literatur und Vergleichende Literaturwissenschaft. Seit 1982 lebt er als Übersetzer, Nachdichter und Autor von Lyrik und Prosa in Berlin.
In seinem Langgedicht VEGA hat er die Überschneidung und Überlagerung von Idee und Wirklichkeit, Gedanke und Ereignis zum Programm erhoben. VEGA ist eine impressionistisch-assoziative Reihung von Gedanken und Reflexionen, Eindrücken und Erinnerungen, deren meditativer Impetus auf die Einheit von Geist und Körper, von Innen- und Außenwelt abzielt. Zum einen gibt sich der Autor immer wieder flüchtigen Eindrücken der Außenwelt in Form von Landschafts- und Naturbeschreibungen, aber auch urbanen Bildern hin, zum anderen stellt er philosophische, metakommunikative Reflexionen an, mit deren Hilfe er die erkannten Phänomene in neue Bewußtseinszusammenhänge einbettet, im, wie er sagt, „zähen Bestreben, Neues zu finden, das abzielt auf etwas, auf das du nicht gefaßt bist.“ Kühle Intellektualität paart sich hier mit konkreter Sensualität. Die Mischung beider Sphären untersteht, wie in der écriture automatique der Surrealisten einer Dramaturgie des Zufalls. So entsteht ein vielschichtiges, multiperspektivisches sprachliches Labyrinth, in dem Sinn zu konstruieren, das dem Leser selbst obliegt. Epstein liefert gewissermaßen die intellektuelle Folie.
Seine vieldeutigen sprachlichen Texturen entziehen sich jeder Funktionalität. Sie begnügen sich nicht damit, eine wie auch immer geartete Wirklichkeit abzubilden, zu analysieren oder zu reflektieren. Überkommene Wahrnehmungs- und Sprachübereinkünfte werden über Bord geworfen. Die Sprache steht für sich allein und entwickelt ihre eigene Gesetzmäßigkeit. „Vom Wort als Symbol zum Wort als Realität“. So hat William Carlos Williams einmal den Weg der Dichtung der Avantgarde in Anlehnung an Gertrude Stein definiert.
VEGA ist ein Text, auf den sich der Leser im wahrsten Sinne des Wortes einlassen muß. Bei oberflächlicher Lektüre bleibt er spröde und abweisend. Nur wer dem Sog folgt, der von seinem Wortschwall, seinen überraschenden Bildreihungen und Geankensprüngen ausgeht, wer bereit ist, wiederholt zu lesen und die eigenen Assoziationen wahrzunehmen die er auslöst, kommt ganz in den Genuß seiner rätselhaften Aura. Einer Rätselhaftigkeit und Uneindeutigkeit allerdings, die auch die Gefahr der Beliebigkeit in sich birgt. Dieser Vorwurf, wenn es denn ein solcher ist, bleibt auch John Barton Epsteins Gedicht wie aller unter dem Etikett „Postmodernismus“ rangierenden Literatur nicht erspart.
VEGA, geschrieben in den Jahren, seit der Autor in Berlin lebt, ist von dem Lyriker Andreas Koziol parallel zu seiner Entstehung Phase für Phase übersetzt, oder sollte man besser sagen nachgedichtet worden. Die Vega ist ein Stern im Bild der Leier, der schon in der Antike das Zeichen der Dichter und Rhapsoden war. Sie hat gewissermaßen beiden, dem Dichter und dem Nachdichter, den Weg gewiesen in die unauslotbaren, rätelhaften Tiefen eines Textes, in den einzutauchen auch der Leser gut beraten wäre, „wo wir auf Bedeutungen brennen, nicht einem Funken davon zu gestatten, über die Lippen zu kommen, oder uns der Vertrautheit der Landschaft hinzugeben, dem Schmuck der blauen Erde.“

Cornelia Staudacher, Radio Brandenburg, 16.3.1997

John Barton Epstein: VEGA

Schnellebig ist unsere Zeit. Da reicht es kaum für die Frage: „Was bleibt übrig?“ Der Dichter John Barton Epstein wagt sich heran an Fragestellung und Beantwortung. Und schreibt ein Großgedicht.
„Du fragst, was bleibt übrig? Einfach die einzelne Blume im ländlichen Garten, oder das fernhin gebreitete Muster sich windender Straßen und gelber Felder…“ so schreibt John Barton Epstein am Anfang seines Gedichtes.
Am Schluß fragt er wieder: „Nochmals, was bleibt? Nur jene, im Schrägschnitt der Erde gewährten verweilenden Schreie? Oder die einzelne Blume im Innren des Gartens?“
Darüber spannt er einen weiten Bogen, sternenweit, frei und dennoch wohlgeordnet in den Gedanken, die in großer Wellenbewegung auf und ab gehen, nicht ungeerdet. Er ist kein Träumer, aber er kann träumen. Immer wieder zieht er sich selbst heraus aus dem „sturen ‚Ja‘ hier zwischen Büchern, Karten, Haufen verwirrten Papiers, die Lampe neben dem schäbigen Läufer“. Das „Ja“ hinein in „eigene Erhabenheit“. Und schnell wieder Bezug herstellend zu „jenen unsterblichen Banden vom Dunkel unbändiger Meere herauf“. Dann zurück zum Alltag seiner Berliner Wahrheimat. Wenn es zum Beispiel um die Enthüllung eines Denkmals geht. „Doch nachdem der erste Schwall der Erregung versiegt ist, verläuft sich der ganze Tumult dann im Sande. ‚Die Zeit’, wie es heißt, ‚schreitet voran.‘ Tage werden Wochen, Wochen Monate, Monate Jahre, bis künftiger Generation sich niemand mehr des Krawalls um das Denkmal entsinnt…“
Und so schwingt Epsteins Pegel zwischen Ich und „Gesamterfahrung“. (Das moderne Schlagwort des „kollektiven Bewußtseins“ engt ein, wird Epstein nicht gerecht.)
„Das Ausmaß der Gesamterfahrung schillert. Die Kadenz ist im Schotter, der Schotter ist die Kadenz, Umringt jetzt von irren Gebärden, strecken sich Hände zur Gratulation für deinen Versuch, dich selbst unter schwerstem Bemühn zu erschaffen. Gewiß, du mußt nach vorne schaun, nach jederlei Wandel, wo der Verlauf vieler kommender Tage zu neuen Vertrautheiten führt, im treulichen Glauben an einen Platz, einen wohlverdienten, im Schutze der alten Routine.“ Und mutig wirft sich der Dichter wieder hinein in den Strudel, reißt sich vom Rückwärts los: „Und so mußt du dich der Gegenwart in offener Umarmung unterwerfen, nicht achtend jeder unverhofften Schwierigkeit, begreifend, daß die Zukunft ihre unanfechtbar eigenen Erinnerungsprozente hat, die trotz entsprechender Verdienste um das Wahre oder Falsche nicht gänzlich getilgt werden können.“ Neigt dazu, sich zu verlieren in der immanenten Widersprüchlichkeit des Seins:
„Gott, wir stecken in der Klemme! Denn es bleibt die unbezwingliche Schlußfolgerung, daß es nicht zwei Dinge sind – eines, das Bewußtsein, und eines, das keines ist – überhaupt keins.“
Da schwingt Wut mit, Wut über das, was der Mensch nicht fassen kann. Auch Wut über die Notwendigkeit des Sichdreinbegebens, des Sichfügens?
„Nicht wissen, was, aber daß es ist – das ist gewiß (…) Und es ist das Wissen, daß alles in allem eins ist.“
Oder nur einfach die ewige Suche nach dem Glück?
„Es gibt reale Chancen zum Glücklichsein.“ Tröstet er sich selbst, gibt sich damit aber nicht zufrieden.
„Eine jähe Ereigniswende verändert die Lage in jeder nur denkbaren Weise, ergreift die Bewohner des früheren Landes und wirft sie wie Blumen mitten in die Trümmer des Winds. – Und dieses Wissen umgibt dich mit einem Stück Grund, von dem du dich niemals abwenden wirst: O rote Gezeiten…“
Er schenkt sich nichts, sucht Strukturen.
„Auch wenn du auf das ‚Warum denn‘ nicht den Finger legen kannst, vertraust du darauf, daß es in Zukunft genügen wird und deinen Kreisen die neue Gewißheitenliste beschert, nach der jede künftige Nachricht verwirrender Ereignisse nur noch in deutlichen, wohlbegründeten Schritten sich formt. Die Muster gewisser Routine sind uns die Reste der Sehnsucht.“
Irgendwann bricht er wieder aus, up and away in die Sternenweite.
„Jetzt, aus dem Fenster auf die Scheiterhaufen ferner Silberwolken starrend: ‚Gut, ich habe die Lektion gelernt. Begriffen, wie die Dinge sich vollenden, und so auch die Tragik der Niemalsvollendung.‘“
„Gleich in sich gehender Sinnlosigkeit – falls du es vorziehst, zu bleiben, zu bleiben, als wäre dies alles, was bleibt – den Rest läßt man gern der Erinnerung später,“ so klingt der große Mittelteil des Buches – Kapitel 3 – aus und kündigt langsam die Ermüdung nach dem Aufbäumen an. Das Gedicht hat den Zenit erreicht, erinnert an das, was am Schluß kommen wird: „Nochmals, was bleibt?“
Wiederholter Appell auf Eigenheit zu bestehen. Anfangs noch: „Doch jedem Ding ist heimlich seine Eigenheit beschieden.“ Jetzt gewichen dem erneuten Appell an die „eigene dringende Auswahl“: „Barbarische Horden stürmten über die weite Ebene, während du schnell die Barrikaden von allem möglichen Denken räumtest. So verstehst du, daß diese Eigenart keinerlei Einfluß ausüben wird, wenn du nicht anfängst, die eigene dringende Auswahl zu treffen – eine auf sich bezogene Erfahrung, die es ermöglicht, Dinge, die weitere Schwierigkeiten bringen, von denen zu trennen, die Teil jenes ewigen Chores werden, der die betörende Melodie singt.“
Er sehnt sich fort, „Auf ewig gefangen und doch auch ewig so nahe dem geflügelten Pferd, das, dem Blut der Medusa entsprungen, dem Kreuz des Nordens entgegenfliegt, Cygnus – so fern und hoch, mit mächtigen Muskeln und seinen gigantisch über den herbstlichen Himmel gebreiteten Flügeln. Wind kommt auf, du lehnst dich an den Rand des schwarzen Bernsteins. Plötzlich fällt ein Stern zum Rand des Westens (…) wo über dem Rand verschneiter Wälder Orion aufsteigt mit funkelndem Schwert, erhobenem Arm und mit seinem breiten am Winterhimmel entflammenden Gürtel.“
Weit ist die Bewegung Epsteins, die Kraft seiner englischen Worte, die in der grandiosen Übersetzung Andreas Koziols eher eine Nachdichtung sind. Die geraden Seiten enthalten den englischen Originaltext, die gegenüberliegende Seite die deutsche Übersetzung. Der gebürtige Amerikaner, der seit 1982 in Berlin lebt, hat sein Gedicht in sechs Kapitel eingeteilt. Dabei umrahmen das umfangreiche dritte zwei kürzere am Anfang und Ende des Buches, abgeschlossen durch ein kurzes sechstes. Schreibt er anfangs streng ausschließlich in Terzinen mit fallenden Rhythmen, so wirft er vorübergehend die formalen Fesseln ab zugunsten freierer Formen, erzeugt Texttupfer, immer faszinierend stimmig begleitet von Helge Leibergs Zeichungen in gelb-schwarz. Die begleiten jede Textseite, funktionieren wie ein paralleles Daumenkino. Anfangs überwiegend gelb- wie auch immer wieder offenbar die Lieblingsfarbe in Epsteins Texten – versinkt das Gelb in schwarzem Rund, entflammt, vergeht – oder entzieht sich wortlos. Gouachen von A.R. Penck trennen die Kapitel, fassen sie ein, gestalten den Umschlag. Eine CD mit Epsteins selbst rezitierten Texten und avantgardistischer musikalischer Begleitung des Jazz-Gitarristen Lothar Fiedler und anderen liegt bei. Wohltuend ist die konventionelle Fadenheftung des Buches, ein sinnliches Erlebnis Umschlag und Papierqualität.
VEGA – ein weiterer mehr oder weniger erfolgreicher Versuch eines Dichters in einer Reihe mehr oder weniger berühmter Literaten und Philosophen, den Code des Seins zu knacken, zu er-klären? Zweifellos ein herausragender. Sieben Jahre hat sich der 1952 in Worcester, Mass. geborene Dichter an seinem Erstlingswerk verzehrt, hat Metamorphosen durchlaufen. Er hat zahllose Metaphern verwendet. Doch die stehen nicht aufdringlich parat, um auf sich aufmerksam zu machen. Sie verschmelzen nahtlos mit dem Eigenen des Dichters. Die Chancen für Zeitlosigkeit dieses Werkes stehen gut. Allgemein erkennen wird man das vermutlich erst später.
Der Leser kann schon heute genießen.

Gaby Helbig, hamburg.gay-web.de, April 1997

Bewegung und Beruhigung

Das ist ein Buch der Bewegung. Ist ein Buch der Beruhigung. Ist ein Buch der bewegten Beruhigung, wie der beruhigten Bewegung. Ist das rigoros auf den Seiten 121 und 122: den weißen, leeren Seiten. Ansonsten ist VEGA, das 221seitige, sechsteilige Gedicht des John Barton Epstein, durchweg fürs rege leise Lesen geeignet.
Stiller Betrachtung empfehlen sich sechs Gouachen von Penck und die gelb-schwarzen illustrativen Text-Illuminationen von Helge Leiberg, die jede Seite begleiten. Literatur und Kunst, Ausstattung und Ausführung des Buches haben alles, was demnächst nicht irgendeine Jury dazu bringen wird, den Band in die Reihe der „Schönsten Bücher“ des Jahres zu stellen. Das wär’s dann? Dann darf das Buch einstauben? Das kann’s nicht gewesen sein!
„Gott wir stecken / In der Klemme“, heißt es bei Epstein. Heißt es in seinem Gedicht, dem mit Vokabeln wie Epos und Groß-Gedicht ein Keulenschlag versetzt werden kann, von dem es sich nicht mehr erholt. Um mit VEGA eins und einig zu werden, wäre es ratsam, das Gedicht als eine Serie von Gedichten im Gedicht zu lesen. „Seine Ordnung war immer: Nicht die Substanz / Doch die Fügung der Teile“, läßt uns der Verfasser von VEGA wissen und gibt den Lesern so eine Handhabe.
Vom weiblichen Hölderlin der deutschen Lyrik, von Else Lasker-Schüler, ist auch bekannt geworden, daß sie schnell zu schreiben begann, sobald Theodor Däubler aus seinem Endlos-Epos Nordlicht vorlas.
Wen ermüdet Epstein? Gewiß nicht Uwe Kolbe, der den Amerikaner in Berlin im Vorwort einen Freund und „Mann mit Geschmack“ nennt. Ja, ja, der Geschmack! Ja, ja, die Ästhetik. Sie sind für den Freundlichen und seinen vielfach rhythmisch variierten Vers wesentlich wie der Inhalt. Lyrik, die auf sich hält, wissen wir, strengt an. Lyrik, die wirklich was wert ist, ist eine Anstrengung. Zumal Lyrik, die sich ganz unter den musischen Stern der Lyra stellt, wie die des John Epstein. Womit auch ein Hinweis zur Deutung des gewählten Titels gegeben ist. „… jeder liebt einen Stern …“, sagt der Dichter, der unterm Sternzeichen der Lyra dem Stern VEGA folgt. Dessen Bahn seine Bahn ist. Vielleicht. Der Stern ist, was und wo das Herz ist. Vielleicht. Er zieht die Spur einer „einstmals gewaltigen Sehnsucht“. Vielleicht. Immer wieder: Vielleicht, vielleicht, vielleicht! Weil nichts eindeutig, nichts entschieden ist? Weil nichts Eindeutig-Entscheidenes zu sagen ist? Von John Epstein? Der Dichter ist ein Entschiedener, ist ein Eindeutiger. Er ist ein philosophischer Poet. Er postuliert Bewegung und Beruhigung, die er zwischen Erde und Himmel wahrnimmt. In seinem Raumschiff VEGA versammelt Epstein, ähnlich einer Arche, irdische und himmlische Güter des Geistes. Er sammelt mit der Akku-ratesse des Wissenschaftlers. Er sortiert mit der Gewissenhaftigkeit eines Technikers. Streng gläubig in seiner poetischen Profession, zelebriert Epstein die „Fügung der Teile“, die die Substanz ausmachen. Alles ist untergebracht unterm Dach der Imagination. Ohne Imagina-tion ist für John Epstein keine Poesie.
Was er an Welt-An-Schauung aufbietet, muß er, und muß er auch nicht, durch den Filter der Imagination schicken. So wird Philosophie poetisch, Poesie philosophisch. Welt-An-Schauung korrespondiert mit lyrischer Welt-Schau. Mancher Gedanke taucht in assoziativen Bildern auf, die nach der Kennzeichnung mit dem Bleistift verlangen. Mancher Gedanke ist gefangen in „Silberketten“. übertönt von „Silberglocken“, verdeckt von „Silberwolken“. Es silbert stark. Selbst, wenn von Gold gesprochen wird. Eine Flut der Farben flirrt am weiten Firmament von VEGA.
Epstein ist am eindrucksvollsten, wenn die Farben nicht ineinanderfließen. Wenn er seiner poetisierten Philosophie strikt die Strenge eines lyrischen Essays erhält.
So erzählerisch das Gedicht auch in vielen Teilen ist, in den besten Momenten ist es lyrischer Essay. Aphorismus und Allegorie bekommen eine Eigenständigkeit, die unabhängig vom Ganzen existiert und doch nicht ohne das ist.
Über das ordnende, geordnete Gedicht VEGA kann der Leser selbst ordnend verfügen. Also, im Sinne des Autors, „auskommen ohne das zentrale Thema“. Also sich dem „zwanghaften Austausch von Ablauf durch Ablauf“ entziehen, sich „selbst unter schwersten Bemühungen erschaffen“. In der Begegnung und Beziehung mit dem Epsteinschen Gedicht der Gedichte. Das heißt in der bewegten, bewegenden Erinnerung der beruhigten, beruhigenden Zeit gehabten Lebens, das auch immer verlorene Zeit und verlorenes Leben ist. Vom Verlieren und von Verlusten zu sprechen bedeutet für den Dichter, sich gegen das Verlieren und die Verluste zu schützen.
Das Gedicht ist ein riesiger Gobelin, in dem irdische Geschichten vom Verlieren und Verlust eingewoben sind.
Epstein begreift das Werden als ein ständiges Wiederkehren gewonnener Verluste und verlorener Gewinne. Gleich dem Wechsel der Gezeiten unterm ewigen Gestirn. Wo dem Gegebenen genommen wird, wo dem Genommenen gegeben wird. Wo das „Kontinuum: Schub und Woge“ ist. Darauf festgelegt, schwingt beim Dichter fortwährend die Frage mit: „Was / Bleibt übrig?“
Nicht mehr als ein Buch? Was wäre mehr? Mehr als das Buch VEGA, das irgendwer ein Gesamt-Kunst-Werk nennen wird. Ist es! Und könnte auch als bildhaft-malerisch-graphisch-typographischer Klang-Körper bezeichnet werden. Ein Buch, das wer, wann, wo lesen wird? Und wie dann? Am besten laut. Wie aber laut leise lesen? Es bedarf erfahrener Leser. Sie müssen so gut, sprich geduldig, sein wie der Dichter John Barton Epstein. Wie der Nachdichter Andreas Koziol. Sie brauchten Jahre, um das zweisprachig gedruckte Buch zu ermöglichen. Um den Vergleich noch einmal zu wagen: VEGA ist ein Gobelin, bei dem es darauf ankommt, wo und wie jeder Faden ins Ganze gewebt wurde. Bewegend für Beruhigte! Beruhigend für Bewegte.

Bernd Heimberger, luise-berlin,de

 

 

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Henryk Gericke liest am 28.6.2023 im Baiz.Berlin seinen Andreas Koziol-Nachruf „Inschrift“ und Robert Mießner schließt sich mit Andreas Koziols „Nachschrift“ an.

 

Bild von Juliane Duda mit den Übermalungen von C.M.P. Schleime und den Texten von Andreas Koziol aus seinem Bestiarium Literaricum. Hier „Die A.koziol“.

Beitragsbild von Juliane Duda zu Richard Pietraß: Dichterleben – Andreas Koziol

 

Andreas Koziol liest 3 Gedichte zur Autorenlesung der Literatur- und Kunstzeitschrift „Herzattacke“ am 28.1.2016 im Roten Salon der Volksbühne.

1 Antwort : John Barton Epstein: VEGA”

  1. Eva Niemann sagt:

    Lieber Egmont Hesse,

    neulich in der galerie parterre hatte ich Dich ja angesprochen. Jetzt
    komme ich über eine Suchangabe nach John Epstein auf Dein Portal.
    Dass Ihr/ Du die Rezensionen über John Epstein zusammengetragen habt,
    finde ich wunderbar. Von dem kARTOFFel-Projekt Dresden-Berlin gab es
    2009 eine Hommage für John Epstein, ein Projekt in Ahrenshoop. Wir haben ein originalgrafisches Buch mit Texten von John und unseren Bildern zu
    seinen Ehren erarbeitet (z.Zt. ist das Buch bei Andreas Hegewald in Dresden). Andreas Koziol hatte zu diesem Anlass Auszüge
    seiner Übersetzungen von „Vega“ und eigene Gedichte gelesen.
    Bin gerade dabei mit Hilfe alter Freunde von John dabei, mich noch ein Wenig um den Nachlass seiner Schriften zu kümmern.

    Herzliche Grüße
    Eva Niemann

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