Jutta Rosenkranz & Hanne Castein (Hrsg.): Wenn wir den Königen schreiben

Rosenkranz & Castein: Wenn wir den Königen schreiben

DIE TOCHTER DES SISYPHOS BERICHTET DEM VATER

Ach Väterchen, du bist ein Waisenknabe
Du hattest noch ein Ziel vor den Augen
Bergauf, bergab der gleiche Stein
Ein Unternehmen voller Übersicht
aaaaaaaaaaUnd ich?
Konfus ist diese Welt der tausend Dinge
Ich kann nicht wissen, was mir heute auf den Kopf
aaaaafällt
aaaaaaaaaawelches Rohr bricht
Was ist ein hochgewälzter Stein
Hält man ihn gegen einen Berg von Wäsche

Brigitte Struzyk

 

 

Nachbemerkung

Die vorliegende Anthologie, die erstmals Lyrikerinnen aus der DDR als eine eigenständige Gruppe vorstellt, verdankt ihre Entstehung zwei Mißständen. Zum einen beträgt der Anteil von Autorinnen in den meisten Lyrik-Anthologien nach wie vor nur etwa 5 bis 10 Prozent, was, auch in der Lyrik, dem wirklichen Verhältnis von männlichen und weiblichen Autoren keineswegs entspricht. Zum anderen wurde bisher, wenn von den Besonderheiten „weiblichen Schreibens“ in der DDR die Rede war, fast ausschließlich die Prosa berücksichtigt. Die Lyrik von DDR-Autorinnen ist bei uns kaum oder nur wenig bekannt.
Diese Sammlung, die wie jede andere Anthologie unvollständig bleiben muß, möchte einen ersten Überblick geben. Sie bietet Gelegenheit sowohl zum Wiederentdecken bekannter als auch zum Neuentdecken jüngerer Autorinnen. Zwei Aspekte standen bei der Auswahl im Vordergrund: jede Lyrikerin wenigstens so umfassend vorzustellen, daß auch mögliche Entwicklungen erkennbar werden; insgesamt außerdem sowohl in thematischer als auch formaler Hinsicht ein möglichst breites Spektrum dieser Lyrik aufzuzeigen.
In ihrem Vorwort zu Maxie Wanders Band Guten Morgen, du Schöne, Frauenprotokolle aus der DDR (1978) konstatiert Christa Wolf: „Die Verhältnisse in unserem Land haben es Frauen ermöglicht, ein Selbstbewußtsein zu entwickeln, das nicht zugleich Wille zum Herrschen, zum Dominieren, zum Unterwerfen bedeutet, sondern Fähigkeit zur Kooperation. Zum erstenmal in ihrer Geschichte definieren sie – ein enormer Fortschritt – ihr Anderssein; zum erstenmal entfalten sie nicht nur schöpferische Phantasie: Sie haben auch jenen nüchternen Blick entwickelt, den Männer für eine typisch männliche Eigenschaft hielten.“ Dieses neue Selbstbewußtsein und „jenen nüchternen Blick“ zeigen auch die hier gesammelten Gedichte. Frauen lassen sich nicht nur nicht mehr auf spezifisch weibliche Themen festlegen, sie gehen oft auch deutlich weiter als männliche Autoren, wenn sie sich mit den Bedingungen von Familie, Beruf, politischem Umfeld und individueller Selbstverwirklichung auseinandersetzen. Darüber hinaus ist die formale Vielfalt auffällig, bei der die in der DDR intensiv betriebene Auseinandersetzung mit dem literarischen Erbe erkennbar wird. Traditionelle Formen wie die Ballade, die Hymne oder das Sonett werden – etwas bei Reinig, Novak und Hensel – in oft eigenwilliger und ungewohnter Weise gehandhabt. Die Eigenständigkeit der DDR-Lyrikerinnen zeigt sich aber auch im Mut zur Kritik an sozialen Mißständen, zur Selbstbehauptung und Selbstironie.
Am Anfang stehen die eindringlichen Gedichte von Inge Müller (✝ 1966) mit ihrer strengen, kargen Sprache. Sie konfrontierten den Leser schonungslos und mit oft schmerzlicher Genauigkeit mit der Kriegsvergangenheit. Auch die Gedichte der fast zwanzig Jahre jüngeren Brigitte Struzyk sprechen noch von Vergangenheit und Krieg, aber auch vom Alltagsleben und der Bedrohung der Menschheit heute. Die jüngste der hier vorgestellten Autorinnen ist die 1961 geborene Kerstin Hensel. Der Unterschied zwischen den Autorinnen, die den Krieg noch erlebt haben, und denen der Nachkriegsgeneration wird in ihren Gedichten besonders deutlich: Bei den jüngeren Lyrikerinnen tritt die Vergangenheitsbewältigung allmählich in den Hintergrund zugunsten aktueller Probleme. Darüber hinaus wird ein neuer kritischer Ton erkennbar.
Natürlich kann eine solche Anthologie nur einen Querschnitt durch das Schaffen von Lyrikerinnen aus der DDR bieten. Insgesamt wurden dafür zwölf Autorinnen ausgewählt, von den sechziger Jahren bis zur Gegenwart. Drei von ihnen, Christa Reinig, Helga M. Novak und Sarah Kirsch, leben heute in der Bundesrepublik. Von ihnen fanden nur Gedichte Aufnahme, die noch in der DDR entstanden bzw. publiziert wurden. Die Reihenfolge, in der die Autorinnen in diesem Buch erscheinen, richtet sich im wesentlichen nach den Geburtsjahren der Lyrikerinnen bzw. nach dem Zeitpunkt, zu dem sie Gedichte zu veröffentlichen begannen.

Jutta Rosenkranz, Nachwort

 

Dieser erste Querschnitt versteht sich als ein Erkundungsversuch:

Es waren DDR-Autorinnen, die mit herausragenden Prosawerken eine Begriffsbildung wie „weibliches Schreiben“ (Christa Wolf) wesentlich begründeten. Haben DDR-Autorinnen auch die Lyrik in ähnlicher Weise geprägt?
Große Namen stehen am Anfang: Christa Reinig und Helga M. Novak mit ihren frühen, in der DDR entstandenen Gedichten, die 1966 aus dem Leben geschiedene Inge Müller; Sarah Kirsch, deren erste Gedichtsammlung 1967 erschien. In den 70er Jahren, als der vielbeachtete Aufbruch von DDR-Autorinnen in der Prosa einsetzt, tritt parallel dazu auch eine ganze Reihe von Lyrikerinnen neu auf den Plan: Eva Strittmatter, Elke Erb, Brigitte Struzyk, Sonja Schüler, Christiane Grosz. Die vorliegende Sammlung ermöglicht zum ersten Mal einen Überblick.

Luchterhand Literaturverlag, Klappentext, 1988

 

 

Fakten und Vermutungen zur Herausgeberin Jutta Rosenkranz
Fakten und Vermutungen zur Herausgeberin Hanne Castein + Kalliope

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