Andreas Gryphius’ Gedicht „Über die Geburt Jesu“

ANDREAS GRYPHIUS

Über die Geburt Jesu

Nacht mehr denn lichte Nacht! Nacht lichter als der Tag,
Nacht heller als die Sonn! in der das Licht geboren,
Das Gott, der Licht, in Licht wohnhaftig, ihm erkoren:
O Nacht, die alle Nächt’ und Tage trotzen mag.

O freudenreiche Nacht, in welcher Ach und Klag,
Und Finsternis und was sich auf die Welt verschworen
Und Furcht und Höllen Angst und Schrecken ward verloren!
Der Himmel bricht; doch fällt nun mehr kein Donnerschlag.

Der Zeit und Nächte schuf ist diese Nacht ankommen
Und hat das Recht der Zeit, und Fleisch an sich genommen
Und unser Fleisch und Zeit der Ewigkeit vermacht.

Der Jammer trübe Nacht die schwarze Nacht der Sünden
Des Grabes Dunkelheit, muß durch die Nacht verschwinden.
Nacht, lichter als der Tag! Nacht, mehr denn lichte Nacht!

Nach 1635

 

Konnotation

Als Zeitzeuge des Dreißigjährigen Krieges hatte der Barockpoet Andreas Gryphius (1616–1664) die Bestialisierung der Menschheit miterlebt. Der Sohn eines lutherischen Geistlichen aus dem schlesischen Glogau hatte also allen Grund, in seinen Dichtungen die Vergänglichkeit der Welt und die Finsternis des Daseins zu besingen. In seinem kunstvollen Weihnachts-Sonett erzählt er in vollkommener Artistik von einem großen mystischen Augenblick: Das Licht der Welt ist angekommen – Jesus Christus.
Jesus wird sichtbar als Lichtgestalt, die den Höllenschrecken der Wirklichkeit überstrahlt: Die „lichte Nacht“ der Geburt Jesu ermöglicht das Wunder, dass alle Gesetze der empirischen Welt und der auf ihr lastenden Daseinsfinsternis außer Kraft gesetzt werden. Der Blitzschein von Jesu Erscheinung lässt die Erde im Licht der Erlösung dastehen – und alle Dunkelheit verschwindet.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

1 Antwort : Andreas Gryphius’ Gedicht „Über die Geburt Jesu“”

  1. Thomas Lifka sagt:

    Dieses Gedicht hatte ich mir schon vor langer Zeit einmal aus einem Gedichtband abgeschrieben, aber ich finde es schon lange nicht mehr.
    Dank des Internets habe ich es jetzt wieder gefunden!!! Ich bin auch ein Mystiker. Dieses Gedicht gibt mir die Hoffnung, dass doch noch alles gut wird (Es erinnert wohl auch etwas an die Visionen der hl. Birgitta von Schweden)!!! Dazu muß ich mal was malen!!!
    Thomas Lifka, Lutherstadt Wittenberg

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