Bertolt Brechts Gedicht „Gegen Verführung“

BERTOLT BRECHT

Gegen Verführung

1
Laßt euch nicht verführen!
Es gibt keine Wiederkehr.
Der Tag steht in den Türen;
Ihr könnt schon Nachtwind spüren:
Es kommt kein Morgen mehr.

2
Laßt euch nicht betrügen!
Das Leben wenig ist.
Schlürft es in vollen Zügen!
Es wird euch nicht genügen
Wenn ihr es lassen müßt!

3
Laßt euch nicht vertrösten!
Ihr habt nicht zu viel Zeit!
Laßt Moder den Erlösten!
Das Leben ist am größten:
Es steht nicht mehr bereit.

4
Laßt euch nicht verführen
Zu Fron und Ausgezehr!
Was kann euch Angst noch rühren?
Ihr sterbt mit allen Tieren
Und es kommt nichts nachher.

1922

aus: Bertolt Brecht: Die Gedichte. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 2000

 

Konnotation

Wenn ein Gedicht mit so vielen Ausrufezeichen und Appellen daherkommt, ist es der gusseisernen Didaktik verdächtig. Aber Bertolt Brecht (1898–1956) hat sein lyrisches Plädoyer für hedonistischen Lebensgenuss in Verse von bemerkenswerter Leichtigkeit eingekleidet.
Hier erhebt nicht etwa ein politisch gesinnungsfester Aufklärer den Zeigefinger, sondern ein Experte in Lebenskunst rät zur vorbehaltlosen Daseinsbejahung. Schon in der ersten Strophe wird auf die Endlichkeit aller irdischen Bemühungen verwiesen, und auch in den restlichen Strophen folgt auf jede Belehrung eine Erinnerung an Vergänglichkeit und Tod. Der volksliedhafte Ton und die einfachen Reime nehmen den einzelnen Belehrungen die Schwere. Das Gedicht schließt als eine Art Resümee die fünf „Lektionen“ in der 1927 erstmals publizierten Hauspostille ab.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006

3 Antworten : Bertolt Brechts Gedicht „Gegen Verführung“”

  1. Klaus Behr sagt:

    Das Gedicht ist vor allem auch eine Absage an die Auferstehung-Ideologie der Kirche und verkündet illusionslos das Ende der materiellen Existenz nach dem Tode: „Es gibt keine Wiederkehr“. Damit steht es in ironischem Gegensatz zum Titel „Hauspostille“, der der kirchlich-frommen Welt entstammt. Dennoch ist es lebensbejahend und rät, dies Leben in vollen Zügen zu genießen, wissend, dass „nichts nachher“ kommt. Eine ehrliche Vision des Todes!

  2. aleyna sagt:

    Aber Wieso wurde der Text veröffentlicht, also ich mein was war der Grund und Hintergedanke bei diesem Gedicht?

  3. brigitte sagt:

    Ein Dichter und Schriftsteller ist immer am Werk!

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