Frank Wedekinds Gedicht „Der Gefangene“

FRANK WEDEKIND

Der Gefangene

Oftmals hab ich nachts im Bette
Schon gegrübelt hin und her.
Was es denn geschadet hätte,
Wenn mein Ich ein andrer wär.

Höhnisch raunten meine Zweifel
Mir die tolle Antwort zu:
Nichts geschadet, dummer Teufel,
Denn der andre wärest du!

Hilflos wälzt ich mich im Bette
Und entrang mir dies Gedicht,
Rasselnd mit der Sklavenkette,
Die kein Denker je zerbricht.

ca. 1900

 

Konnotation

Ich ist ein Anderer“: Mit diesem berühmten Credo hatte der lyrische Visionär und Gesetzesbrecher Arthur Rimbaud 1871 eine neue Epoche in der Weltliteratur eingeleitet. Auf Rimbauds halluzinatorische Metaphorik antwortete der Dichter, Journalist, Theaterautor und Bohemien Frank Wedekind (1864–1918) mit antibürgerlicher Ironie.
Die Selbstbetrachtung seines „Gefangenen“ gibt das berühmte Diktum vom Ich, das ein Anderer sein will, der Lächerlichkeit preis. Denn am objektiven Sklavendasein des Gefangenen ändern die hehren idealistischen Setzungen der Philosophie und Ästhetik nichts. Wedekind arbeitete in seinen Gedichten und Stücken sehr erfolgreich daran, die philosophischen und politischen Leitbegriffe seiner Zeit zu entzaubern. Zum politischen Skandalon wurde 1899 ein in der von ihm mitbegründeten Zeitschrift Simplicissimus veröffentlichtes Gedicht, das ihm drei Monate Festungshaft einbrachte.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006

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