Gottfried Benns Gedicht „Bitte wo –“

GOTTFRIED BENN

Bitte wo –

Wenn du noch Sehnsucht hättest
(bitte wann, bitte wo),
dich noch mit Küssen kettest
(amour – bel oiseau),

wenn du noch flügelrauschend
über den Anden schwebst
dich in zwei Meere tauschend
ahnungslos, wen du lebst,

wenn noch die Qualen sprechen,
Tränen durch bel oiseau
dich stürzen und zerbrechen –
bitte wann – bitte wo? –

1955

aus: Gottfried Benn: Sämtliche Werke, Stuttgarter Ausgabe. Band I: Gedichte 1. In Verb. mit Ilse Benn hrsg. v. Gerhard Schuster. Klett-Cotta, Stuttgart 1986

 

Konnotation

Vergessen Sie nicht“, so beschied der alte Gottfried Benn (1886–1956) seinem treuen Brieffreund Friedrich Wilhelm Oelze. „die edle, einfältige Lyrik fasst das Heute in keiner Weise… Wir sind böse u. zerrissen u. das muss zur Sprache kommen.“ Mit solchen schroffen Sätzen legitimierte Benn seine „Phase II“, den schnoddrig-kolloquialen Ton seiner späten Gedichte. Aber selbst in seinem letzten Gedichtbuch Aprèslude (1955) singt er noch die melancholischen Sehnsuchtsmelodien, die von den zwiespältigen Erfahrungen mit seinen letzten Geliebten inspiriert sind.
Ein Liebesgedicht, in die Topik vom schönen Vogel („bel oiseau“) übersetzt: Der Dichter Robert Gernhardt (1937–2006) hat Benn gerade für diese Metaphorik posthum eine ornithologische Mängelrüge erteilt. Denn, so Gernhardt, es sei fahrlässig formuliert, wenn der schöne Vogel bei Benn „flügelrauschend / über den Anden schwebt“. Der Schwebeflug zeichne sich doch gerade dadurch aus, dass der Vogel nicht die Schwingen rührt („flügelrauschend“), sondern die Thermik nutzt.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00