Heinrich Heines Gedicht „Der Wechselbalg“

HEINRICH HEINE

Der Wechselbalg

Ein Kind mit großem Kürbiskopf,
Hellblondem Schnurrbart, greisem Zopf,
Mit spinnig langen, doch starken Ärmchen,
Mit Riesenmagen, doch kurzen Gedärmchen, –
Ein Wechselbalg, den ein Korporal,
Anstatt des Säuglings, den er stahl,
Heimlich gelegt in unsre Wiege, –
Die Mißgeburt, die mit der Lüge,
Mit seinem geliebten Windspiel vielleicht,
Der alte Sodomiter gezeugt, –
Nicht brauch ich das Ungetüm zu nennen –
Ihr sollt es ersäufen oder verbrennen!

1844

 

Konnotation

Hinter dieser finsteren biologistischen Miniatur über ein missgebildetes Kind verbirgt sich ein aggressives politisches Gedicht gegen den preußischen Obrigkeitsstaat. Der radikale Volksdichter und Zeitkritiker Heinrich Heine (1797–1856) hat in seine Verse über den „Wechselbalg“, die in den Neuen Gedichten von 1844 publiziert wurden, eine Allegorie auf den preußischen Monarchen eingeschrieben.
Im Handwörterbuch des Deutschen Aberglaubens wird der „Wechselbalg“ als ein Kind bezeichnet, „das durch dämonische oder magische Zeugung geschaffen wird, in der Absicht, es in das Geschlecht der Menschen zum Schaden und zur Plage einzuschmuggeln“. Die unförmige „Mißgeburt“ setzt Heine, ohne ihn namentlich zu nennen, mit dem Preußenkönig Friedrich II. gleich. Heine scheut sich auch nicht, auf die üblen Sodomie-Gerüchte anzuspielen, die über den Hundeliebhaber Friedrich II. ausgestreut wurden. Es verwundert wenig, dass der preußische Staat Heines Neue Gedichte polizeilich verfolgte. Die Anklage lautete: „Thatbestand des versuchten Hochverrats und des Majestätsverbrechens“.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008

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