Ingeborg Bachmanns Gedicht „Die große Fracht“

INGEBORG BACHMANN

Die große Fracht

Die große Fracht des Sommers ist verladen,
das Sonnenschiff im Hafen liegt bereit,
wenn hinter dir die Möwe stürzt und schreit.
Die große Fracht des Sommers ist verladen.

Das Sonnenschiff im Hafen liegt bereit,
und auf die Lippen der Galionsfiguren
tritt unverhüllt das Lächeln der Lemuren.
Das Sonnenschiff im Hafen liegt bereit.

Wenn hinter dir die Möwe stürzt und schreit,
kommt aus dem Westen der Befehl zu sinken;
doch offnen Augs wirst du im Licht ertrinken,
wenn hinter dir die Möwe stürzt und schreit.

1953

aus: Ingeborg Bachmann: Werke Bd 1: Gedichte. Piper Verlag, München 1978

 

Konnotation

Unsichere, changierende Orte, transitorische Orte des Übergangs zwischen den Elementen hat Ingeborg Bachmann (1926–1973) immer wieder ins Motivzentrum ihrer Texte gestellt. In ihrem berühmten Gedicht aus dem Jahre 1953 liegt ein „Sonnenschiff“ in einem Hafen vor Anker. Der mythologische Hintergrund des Textes deutet darauf hin, dass hier eine Todes-Fahrt angetreten wird. Denn das „Sonnenschiff“ war im alten Ägypten die Barke, auf der der tote Pharao über den Nil ans westliche Ufer gebracht wurde zu seinem Grab oder in die für ihn errichtete Pyramide.
Das kunstvolle Rondeau, in dem der Vers über die schreiende und stürzende Möwe durch Wiederholung in den Vordergrund tritt, nähert sich immer mehr dem Bildfeld des Todes. Denn es treten „Lemuren“ auf – so hießen im antiken Rom die Totengeister und die Seelen der Verstorbenen. Schließlich wird auf einen ominösen Befehl zum Untergang verwiesen – und die Hadesfahrt beginnt.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

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