Jürgen Theobaldys Gedicht „Das Leben,“

JÜRGEN THEOBALDY

Das Leben,

von dem ein jeder weiß,
von dem ein jeder weiß,

dass es weitergeht,
dass es weitergeht,

geht tatsächlich weiter,

und tatsächlich sagt ein jeder,
und tatsächlich sagt ein jeder,

das Leben gehe weiter,
das Leben gehe weiter,

und in der Tat sind alle

die etwas anderes
die etwas anderes sagen,

sagen könnten, tot.

1984/85

aus: Jürgen Theobaldy: 24 Stunden offen. Verlag Peter Engstler, Ostheim/Rhön 2007

 

Konnotation

In den 1970er Jahren galt der 1944 in Straßburg geborene Dichter Jürgen Theobaldy als der Repräsentant einer alltagsnahen Lyrik der „Neuen Subjektivität“. Mit einem bewusst lässigen, kunstlosen Gestus hat er in seinen ersten Büchern das Gedicht „ins Handgemenge“ führen wollen, hinein in die turbulenten Kämpfe dieser Zeit. Der Band Die Sommertour markierte dann 1984 eine Rückwendung zur poetischen Tradition. Eine erneute Metamorphose in Richtung des frühen alltagspoetischen Sounds vollziehen die jüngsten Gedichte des mittlerweile 62jährigen Autors.
Die frühe Leichtigkeit des Dichters ist hier jedoch einer melancholischen Schwere gewichen. Nur selten blitzt noch der Übermut des jungen Theobaldy auf, die unbeschwerte Erlebnisminiatur, die alles Feierliche aushebelt. Hier artikuliert sich nun ein lakonischer Lebenstext, der – in refrainartigen Wiederholungen – von den letzten Dingen handelt: von den Begrenzungen des Daseins. Aber der Titel des Gedichtbuches beharrt darauf, dass es durchaus noch eine Option auf Zukunft gibt: „24 Stunden offen“.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008

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