Jürgen Theobaldys Gedicht „Das offene Geheimnis“

JÜRGEN THEOBALDY

Das offene Geheimnis

So viele Lebensläufe
halten einen Winkel offen
für den Blick zum Nebentisch!

Andere Tage dehnen sich
wie ein Heißluftballon vor dem Start.

Willkommen an Bord!
Du kommst so frei aus der Deckung!

Das Lächeln vom Nebentisch,
es war nur für dich.

Aber nun bist du in der Luft!
Erst im freien Fall
spürst du die Schwerkraft nicht.

1990er Jahre

aus: Jürgen Theobaldy: 24 Stunden offen. Verlag Peter Engstler, Ostheim/Rhön, 2007

 

Konnotation

Die Alltagslyrik der 1970er Jahre, am intensivsten propagiert durch ihren Repräsentanten Jürgen Theobaldy (geb. 1944), träumte oft von einer Transzendierung der alltäglichen Erfahrungsmuster und Erlebnisroutinen. Im vorliegenden Gedicht, das in den 1990er Jahren entstand, imaginiert das Ich eine leichtfüßige Utopie: Es geht die Aufhebung jener „Schwerkraft“, die uns an unser gewöhnliches Dasein fesselt.
Erst wenn sich das Alltagsleben aus seinen Routinen und leeren Wiederholungen herauslösen lässt und der Blick frei wird auf mögliche Überraschungen und Abenteuer, entsteht Zuversicht. Das Ich tritt aus seinen Verankerungen und aus der „Deckung“ heraus und entdeckt plötzlich neue Möglichkeiten des Daseins. Und wenn es nur „ein Lächeln vom Nebentisch“ ist, das neue Lebensintensität verspricht.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00