Paul Celans Gedicht „Eis, Eden“

PAUL CELAN

Eis, Eden

Es ist ein Land Verloren,
da wächst ein Mond im Ried,
und das mit uns erfroren,
es glüht umher und sieht.

Es sieht, denn es hat Augen,
die helle Erden sind.
Die Nacht, die Nacht, die Laugen.
Es sieht, das Augenkind.

Es sieht, es sieht, wir sehen,
ich sehe dich, du siehst.
Das Eis wird auferstehen,
eh sich die Stunde schließt.

1963

aus: Paul Celan: Die Niemandsrose, S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 1963

 

Konnotation

Es geht mir nicht um Wohllaut, sondern um Wahrheit“, hat Paul Celan (1920–1970) einmal gesagt, als er sich gegen eine banalisierende Lesart seiner „Todesfuge“ zur Wehr setzte. Man findet in seinem einzigartigen Werk, das in seiner Vergegenwärtigung des Holocaust durch „die tausend Finsternisse todbringender Rede“ hindurch gegangen ist, nicht viele Gedichte, die wie „Eis, Eden“ aus dem Band Die Niemandsrose (1963) eine liedhafte Form bevorzugen.
Der biblische Paradiesgarten Eden ist für Celan – nicht nur in diesem Gedicht – ein „Land Verloren“. Die Celan-Rezeption hat dieses Lied, in dem die Metaphorik der Kälte mit biblischen Topoi der Verheißung („Eden“, „auferstehen“) zusammenprallt, als Gegenrede zu den Hoffnungszeichen christlicher Legenden gelesen: das Weihnachtslied „Es ist ein Ros entsprungen“ wird ebenso mit dunklen Tönen unterlegt wie das gängige Bild einer „Auferstehung“. Was aber „hell“ aufstrahlt, ist die Vorstellung einer Begegnung und die Emphase des „Sehens“, repräsentiert durch das „Augenkind“.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00