Theodor Storms Gedicht „Märznacht“

THEODOR STORM

Märznacht

Am Fenster lehn ich, müd, verwacht.
Da ruft es weithin durch die Nacht. –

Hoch oben hinter Wolkenflug
Hinschwimmt ein Wandervögelzug.

Sie fahren dahin mit hellem Schrei
Hoch unter den Sternen in Lüften frei.

Sie sehn von fern den Frühling blühn,
Wild rauschen sie über die Lande hin.

O, Herz, was ist’s denn, das dich hält?
Flieg mit hoch über der schönen Welt!

Dem wilden Schwarm gesell dich zu;
Vielleicht siehst auch den Frühling du!

Dann gib noch einmal aus Herzensdrang
Einen Laut, ein Lied, wie es einstens klang!

1885

 

Konnotation

Das einsame Ich wartet schlaflos am Fenster auf ein Zeichen der Außenwelt – fast eine Urszene des romantischen Dichters. Der norddeutsche Patriot Theodor Storm (1817–1888) hat die romantische Empfindungsfähigkeit, die er bei seinem großen Vorbild Joseph von Eichendorff vorfand, für sein eigenes poetisches Verhältnis zu den Naturerscheinungen fruchtbar gemacht.
Den Flug der Wandervögel, die mit „hellem Schrei“ dahinziehen, erlebt das Ich des Gedichts als eine Verheißung: Er steht für den Aufbruch ins Unbekannte, für die Reise zu den fernen Glücksversprechen der Vergangenheit. Lange Jahre wurde durch Storms Konzentration auf die Gattung der Novelle – er schrieb insgesamt 88 – seine „Lyrik völlig verschluckt“. Das Gedicht „Märznacht“, das in den meisten Sammlungen unter dem Titel „Am Fenster lehn ich“ geführt wird, stammt aus dem Spätwerk: Es findet sich in der Nachlese von 1885.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006

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