Wilhelm Müllers Gedicht „Der Leiermann“

WILHELM MÜLLER

Der Leiermann

Drüben hinterm Dorfe
Steht ein Leiermann,
Und mit starren Fingern
Dreht er was er kann

Barfuß auf dem Eise
Schwankt er hin und her
Und sein kleiner Teller
Bleibt ihm immer leer.
Keiner mag ihn hören,
Keiner sieht ihn an;
Und die Hunde brummen
Um den alten Mann.

Und er läßt es gehen
Alles, wie es will,
Dreht, und seine Leier
Steht ihm nimmer still.

Wunderlicher Alter,
Soll ich mit dir gehn?
Willst zu meinen Liedern
Deine Leier drehn?

1821/22

 

Konnotation

Ich werde euch einen Zyklus schauerlicher Lieder vorsingen“, soll der Komponist Franz Schubert (1797–1828) gesagt haben, als er die von ihm vertonten „Winterreise“-Gedichte des Romantikers Wilhelm Müller (1794–1827) seinen Freunden vorsang. Es war ein finaler ästhetischer Akt, denn Schubert war selbst schon vom Tode gezeichnet.
Das letzte Gedicht im „Winterreise“-Zyklus, 1821/22 entstanden, spricht von einem geheimnisvollen Drehorgelspieler, der in völliger winterlicher Erstarrung und Verlassenheit sein Instrument bedient – in sinnloser Endlosschleife. Die Ansprache an den „wunderlichen Alten“ am Ende bringt den Text noch einmal in eine Schwebe – selbst wenn im „Leiermann“ der Tod inkarniert ist, kann man das Angebot des Ichs, das „eigene Lieder“ offeriert, auch als Herausforderung lesen, von der immergleichen Todesmelodie abzurücken.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

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