Wolfgang Weyrauchs Gedicht „Lebenslauf“

WOLFGANG WEYRAUCH

Lebenslauf

Das Ei, das Gegen-Ei,
der Schrei, das Ställchen,
der Roller, der Widerstand,
das Einmaleins, die Freundschaft,
die Brustwarze, der Mehrwert,
die Zelle, der Schrei,
der Schmerz, das Einverständnis,
der Schlaf, die Angst,
der Atem, das Nicht-Atmen.

1970er Jahre

aus: Wolfgang Weyrauch: Lebenslauf, Schierlingspresse, Dreieich 1988

 

Konnotation

Ich bin“, hat Wolfgang Weyrauch (1907–1980) einmal bekannt, „für diejenigen Gedichte, welche die Dichtung – und also auch den Menschen – vom Fleck befördern, aus der Bewegungslosigkeit, aus den überholten Ordnungen.“ Um die schlimmste geschichtliche Ordnung und die durch sie verursachten Deformationen der Sprache hinter sich zu lassen, propagierte er 1949 den literarischen „Kahlschlag“. Später experimentierte er auch mit den Verfahrensweisen der Konkreten Poesie.
Ende der 1970er Jahre entstand das Poem „Lebenslauf“, das mit seiner lakonischen Reihungstechnik die Methoden der experimentellen Poesie nutzt. Die knappe Lebenszeit eines Menschen wird hier auf ein paar karge Substantiva reduziert, die in ihrer Abfolge die elementaren Daseinsphasen eines Menschen benennen und auch seine Leidensstrecken nicht verschweigen. Auch sein Eingebundensein in eine Gesellschaftsordnung klingt in einem marxistischen Terminus an: „der Mehrwert“.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006

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