Manfred Enzensperger (Hrsg.): Die Hölderlin Ameisen

Mashup von Juliane Duda zum Buch von Manfred Enzensperger (Hrsg.): Die Hölderlin Ameisen

Enzensperger (Hrsg.)-Die Hölderlin Ameisen

ORNITHOLOGISCHE ZEILE:
ZÜCK MICH

also
diese
Paradiesvogelwelt
einfach
gekappt
und
also
Bettzeug
Ilma Rakusa Foto Dessous Position 1in
zig
Zuständen
Kleiderzeug
klein
schwarz
hingepfiffen
wo
der
Kleiber
schweigt
wo
der
Ton
kataton
steil
auf
Ilma Rakusa Foto Dessous Position 2den
Laken
Kamikaze-Ton
(krault
wer?)
wie
Fink
Spatz
Superstar
wo
aller
Scharen
Zeisig
zu-
zudringt
zusingt
kehlige
Ilma Rakusa Foto Dessous Position 3Zeugung
Zaunkönig
aber
wie
mit
hingerissenem
Herzen
Bruststück
ganz
Resonanz
kommt
keiner
ran
die
Träger
wehen
Ilma Rakusa Foto Dessous Position 4so
hingezirpt
so
hingewischt
die
Kontur
so
Kleiber-Seide
kehliges
Hemd
kodiert?
aus
dem
Kosen
nicht
heraus
Zeugs
Ilma Rakusa Foto Dessous Position 5und
nicht
heraus
komisch
nicht?
auch
Kolibri
auch
keine
Spanne
Zeit
nur
hingekost
der
Torso
voller
Daten
Ilma Rakusa Foto Dessous Position 6(Zaun
und
Zahl
wie
Zunge)
zeig!
Zeisig
wegdressiert
die
Spuren
da
noch
oh!
zück
mich!
zwölfmal
hin
und
Herz
die
Kuhlen
ohne
Remedur

 

Am Anfang war ein schwarzes Dessous. Es lag achtlos auf dem Bettlaken und sah mich an. Da bin ich. Ich sah die zierlichen Träger, die kleine Schlingen bildeten. Ich sah den hingebreiteten Stoff, der sich in der Kuhle des Lakens räkelte. So. Ohne mich. Eine leere Hülle. Sie hätte jemand anderem gehören können. Ich holte den Fotoapparat und knipste, als wäre ich ein Voyeur. Das Ding lag immer noch reglos, aber je länger ich es ansah, desto interessanter schien es mir. Ein Corpus delicti, Spur eines heimlichen Sündenfalls. Jetzt wollte ich es wissen. Ich zupfte am Stoff, bis er eine andere Form annahm. Schoss ein Bild. Etwas Neues sah mich an, auf frischer Tat ertappt. Es gab kein Halten mehr. Ich zupfte und knipste. Ich verschob und knipste. Ich brachte das Ding in alle möglichen Lagen, und so schnell, als hätte es sich selber bewegt. Beleben wollte ich es, im Kranz der Lakenfalten. Ich knipste von Form zu Form. Im Akt des Fotografierens steckte jene erotische Energie, nach der Dessous und Bett längst inständig riefen.
Es entstand eine Serie von Bildern. Streng sahen sie mich an, aber mit latenter Sinnlichkeit. Ich ordnete sie zu einer Sequenz. Und plötzlich fingen die Vögel an zu pfeifen. Sie pfiffen munter zur Phantasie des Vögelns, auf diesem Laken, in diesem schwarzen Dessous. Und wie der Zufall so spielt, verirrte ich mich in Thomas Klings „ornithologisches zimmer“, wo Rotkehlchen, Kleiber und Nachtigallen hausen zwischen „entkehlten papieren“. Aber bei mir sollte es eine „Ornithologische Zeile“ werden, aus deren Ein-Wort-Versen die Aufforderung zum zückenden Zugriff sowie fröhlich stammelnde Verzückung spricht. Zunge, Zeugung, Zeisig und Zaunkönig, zirpen, zudringen, zusingen in zig Zuständen: der Buchstabe „z“ dominiert onomatopoetisch den Höhenflug, der sich – jenseits von Zaun und Zahl – im Kamikaze-Ton überschlägt.
Es gibt ekstatische Hilarität – und (am Schluss) „die Kuhlen ohne Remedur“. In dieser Spannweite kommt die Sinnlichkeit zur Besinnung. Da liegt das schwarze Dessous.

Ilma Rakusa

 

 

 

Vorlaut

Die Idee für die vorliegende Anthologie geht zurück auf die jährlich stattfindenden Lyriktage auf Schloss Elmau, wo im März 2003 acht Lyriker in Doppel-Lesungen den ,Konstruktionsprozessen‘ bei der Entstehung von Gedichten nachspürten.
Die Hölderlin Ameisen versammelt 36 Autoren, die gebeten wurden, ihre Gedichte durch Materialien und Kommentare in einen Kontext zu stellen. Ihrer Aufgabe sind sie auf sehr unterschiedliche Weise nachgekommen: Der den Lyriktagen zugrundeliegende konstruktivistische Gedanke, Gedichte in ihrem Entstehungsprozeß sichtbar werden zu lassen, gilt auch für diese Anthologie, die den Leser auf eine intertextuelle Reise schickt:
Das Gedicht spricht, das Material sagt etwas, der Kommentar erläutert.
Im freien Angebot der Textsorten wählt der Leser, vergleicht, entdeckt Analogien, Kongruenzen, Widersprüche und erprobt Bedeutungen.

Die Anthologie richtet den Blick auf die ,Lyrikwerkstatt‘.
Was ist das Material des Gedichts – das reine, unkontaminierte, unmittelbar gegebene, beliebig formbare Material?
Ein Jahr, ein Tag, ein Wimpernschlag, alles was be-trifft?
Ist das Material vor, nach, darin oder darüber-hinaus?
Ist es Aus-, Über- oder Durchgangsform, Vor-gestalt und Vor-gestelltes?
Holt die Lyrik das Leben von der Straße und wie gelangt das Material ins Gedicht? Was bringt das Gedicht zusammen, was steht ihm gegenüber, was geht in ihm auf und vor und wie setzt sich sein Material ins Werk?
Als ein Dazwischen, Indem, Inmitten, Gegenüber, als Gleitmittel, Keim, Nährboden, Gärstoff, Spross, objet trouvé oder ready-made?
Ist das Gedicht nichts weiter als ein mehrstimmiges Fest-stellen, Unter-streichen, Über-schneiden, Verschalen, Aus-gliedern, Um-schichten, ein Neben- und Durcheinander von Zentrierungen und Ver-rückungen von Hell und Dunkel, Groß und Klein, ein Aufwärts und Abwärts, von unten nach oben, innen nach außen?
Man nehme ein paar Kontrast- und Äquivalenzstrukturen, semantisiere die Form, und schon sitzt die Poesie ihrem Material parasitär auf.

Jedes Gedicht teilt etwas über seine Mittel mit.
Aber wie inszeniert sich das Material? Freizügig, geschützt, schamhaft umhüllt, im Textschatten entkleidet?
Welchen Bewegungsraum hat es im Gedicht?
Wo wird ersetzt, verlagert, hinzugefügt, weggenommen?
Was verraten Nähte, Risse, Spuren?

Was darf der Lyriker seinem Material antun?
Es für brauchbar erklären, Fett absaugen, die Schädeldecke öffnen, ein Ohr annähen, wo die Nase sitzt?
Ist das Gedicht Handwerk und weiß die erste Hand, was die letzte tun wird? Wie steht es um das Mischungsverhältnis zwischen inspiration and perspiration, Musenkussmischmaschinen-Handwerk und genialischer Inspiration?
Wiederholt nicht stets das Machen das Gemachte?
Enthält nicht jedes Gedicht unzählige andere Gedichte?
Ist das Gedicht mehr als die Aus- oder Nachgeburt seines Materials?
Wiederaufbereitetes, entpupptes, aus der Art geschlagenes Material, das übergeht in kunstvoll entfaltete, sprachlich verdichtete Transfigurationen?

Verliert das Gedicht nicht durch unsere Inquisitionen?
Büßte es nicht schon durch seine bloße technische Reproduzierbarkeit (Walter Benjamin) an auratischem Charakter ein?
Kommt es nicht erst recht durch den herausgerückten Stoff zum Erliegen?
Halten wir uns daher nicht besser an Susan Sontags Against Interpretation oder Archibald MacLeishs a poem should not mean but be?

Noch einmal: zeigt das Gedicht nicht das Mehr des Materials auf?
Produziert es nicht einen Überschuss an Sinn, der mehr ist als der in ihm ausgebreitete Stoff
Verwandelt das Gedicht sein Material nicht in Schwebendes, Ungeahntes durch Transformationen von Transformationen, Schichten von Schichten, Verschleppungen, Umverteilungen, Gegenbewegungen des Anders-Möglichen? Generiert das Gedicht nicht den anderen Blick auf die Welt aus seinem Material heraus durch ein Durchlässig-Machen, Ab-zweigen, Um-kippen, Zu-spitzen, das mehr ist als Inhalt, Stimmung und Form?
Hält das Gedicht nicht Gestelltes und Sich-Einstellendes in Entwicklung fest als ein sinnliches „Dazwischen“ und „Indem“ von Wirksamkeiten?

Weiß das Gedicht, wovon es spricht? Vermag es über sein Sprechen zu sprechen, die Dinge anders zu sehen, als es sie sieht?

Kann der Autor überhaupt etwas über die Entstehung seines Textes sagen? Sind nicht Lyriker liars by profession (David Hume in Treatise on Human Nature) und geben nicht Vögel die denkbar schlechtesten Ornithologen ab?
Welcher Koch entzaubert schon freiwillig das gelungene Soufflé durch die Angabe des Rezepts?
Kommen Gedichte nicht auf eigenen Wegen in jeglicher Verkleidung?
Ist es nicht die Sprache selbst, die das Gedicht glänzen lässt, best words in the best order
Verschwinden Autor und Material nicht im freien Spiel der Signifikanten?
Ist das im Kopf des Lesers mit Materialbezügen garnierte Gedicht die bessere lyrische Kost oder lediglich das Produkt didaktischer Obsession und damit nur leichter verdaulich?
Riecht das rückübersetzte Gedicht besser oder nur anders?
Sind die Kommentare nicht per se apologetische Versuche der Selbstbegradigung, der Entschärfung des Widerstands im Gedicht, der sich in Syntax und Semantik zeigt?

Hat ein Gedicht das, was es zu sagen hat, mit Hilfe des Kommentars sagt, nichts zu sagen?
Sagt jedes Gedicht nicht viel mehr als das, was es zu sagen hat?
Kommt der Lyriker nicht zu den Worten wie zu sich?
Heißt Zu den Worten kommen nicht, sich auf einen Weg zu begeben, dessen Verlauf und Ziel gar nicht ausgewiesen sind und der sich überall und nirgends auffinden ließe?
Ist der poetische Text nicht offen zu dem, der spricht, zu sich selbst und zu seinem Stoff?
Ist der Entstehungsort des Gedichts nicht ein störanfälliger Ort mehrfach vermittelter Kontexte und nicht korrelierbarer Korrelate?

Sind Gedichte nicht Selbstentzündungen – von innen besorgt?
Gleicht der Versuch, die Beziehung zwischen Gedicht und Material zu klären, sie in Sprache stillzulegen, nicht dem Versuch, die Beziehung der während der Detonation eines Hauses durch die Luft fliegenden Trümmerteile zu beschreiben?

Merleau-Ponty sagt:

Der Dichter als Spezialist der Sprache ist ein Spezialist der Unsicherheit.

Die Anthologie zeigt: Gedichte haben Hände.

Manfred Enzensperger, Januar 2005, Vorwort

 

Wie entstehen Gedichte?

Acht Lyriker spürten im März 2003 auf Schloss Elmau dieser Frage nach. In Die Hölderlin-Ameisen sind fünfunddreißig Autoren versammelt, die den Entstehungsprozess ihrer Gedichte durch Materialien und Kommentare sichtbar werden lassen. Die Hölderlin-Ameisen schickt den Leser auf eine Entdeckungsreise durch die Vielfältigkeit der Gegenwartslyrik – er kann Gemeinsamkeiten oder Widersprüche entdecken, Bedeutungen erproben und dabei der Frage näher kommen, ob das Gedicht Handwerk ist und ob die erste Hand weiß, was die letzte tun wird. Was darf der Lyriker seinem Material antun? Es für brauchbar erklären, Fett absaugen, die Schädeldecke öffnen, ein Ohr annähen, wo die Nase sitzt?

DuMont, Klappentext, 2005

 

Dormi in osa rheu

Eine vergleichbare Anthologie kenne ich nicht. Der Lyriker Manfred Enzensperger ist der Herausgeber. Er arbeitet in der Gymnasiallehrerausbildung in Leverkusen. In diesem Buch stellen 36 deutschsprachige Autoren ein Gedicht, das Material, aus dem es entstand, und einen Kommentar zu beidem dem Publikum zur Verfügung. Bei Joachim Sartorius stehen am Anfang drei Fotos aus Samarkand. Auf einem sind Lilia Brik und Majakowski zu sehen, dann folgt das Gedicht, das die Dichter bedichtet, und danach erzählt Sartorius, wie er auf die Fotografie stieß und gleich im Zug mit dem Foto daneben sein Gedicht begann:

Was mir nie zuvor und auch seither nicht mehr passierte.

Nicht alle Autoren halten sich genau an Enzenspergers Vorgaben. Oswald Egger zum Beispiel hat sich ganz auf den Kommentar beschränkt. Ilma Rakusa nahm ein schwarzes Dessous, warf es, legte es immer wieder neu auf ein Bett und fotografierte das Ergebnis. Das bedichtete sie dann, und in einem kleinen Kommentar schilderte sie ihre Arbeit:

Ich zupfte am Stoff, bis er eine andere Form annahm. Schoss ein Bild. Etwas Neues sah mich an, auf frischer Tat ertappt. Es gab kein Halten mehr. Ich zupfte und knipste. Ich verschob und knipste. Ich brachte das Ding in alle möglichen Lagen, und so schnell, als hätte es sich selber bewegt. Beleben wollte ich es, im Kranz der Lakenfalten. Ich knipste von Form zu Form. Im Akt des Fotografierens steckte jene erotische Energie, nach der Dessous und Bett längst inständig riefen.

Dann ist von Vögeln und vom Vögeln die Rede. Kein Wunder, denn das kleine schwarzseidene Unterhemd liegt mit seinen Trägern da wie vom Himmel gefallen. Vor allem aber muss von dem Getier die Rede sein, weil Enzensperger „Ornithologisches“ gefordert hatte. Darum haben die Vögel auch bei Sartorius zwei kurze Auftritte. Zu anderen Terminen waren „Hinterland“ und „Intonationen“ gefragt. Die Sammlung geht zurück auf drei Tagungen im schönen Schloss Elmau, das allein dafür schon einen Literaturpreis verdient hätte. Kathrin Schmidt bedichtet Orangensaft in Tetra Pak. Ihr Kommentar sagt noch einmal, was im Gedicht steht. Das hört sich an wie ein Einwand. In Wahrheit klingt es mehr, als wären es zwei Variationen über ein Thema. Die Prosa ist nicht die schlechtere, sondern nur anders. Ich hätte gerne die drei Seiten aufgestellt wie einen Flügelaltar. In der Mitte Tetra Pak und rechts und links die Texte. Wäre ich weniger schüchtern, ich fragte Kathrin Schmidt, was sie verlangte für dieses kleine Environment. So aber werde ich versuchen, den Kopierer die Arbeit machen zu lassen und dann könnte ich das Ganze aufhängen in meinem kleinen Büro, als Erinnerung daran, was möglich ist, wenn man es kann.
Oskar Pastior beschreibt wie ein Handwerker, wie er aus Charles Baudelaires „Harmonie du soir“ aus den Blumen des Bösen einen Pastior machte. Eine Bastelanleitung vom Weltmeister für einen Lehrgang in der Kunst der Anagrammatik. Die Schönheit von „harmonie du soir“ wird in meinen Ohren deutlich getoppt von „dormi in osa rheu“. Das ist der Gutenachtkuss der Fee Morgane. Die Besessenheit Pastiors zieht aus den Wörtern, was in ihnen steckt, und immer wieder erwischt er uns dabei, wie wir uns begeistern an dem, was nicht ist, aber doch mitschwingt, an einem „dinosaurier ohm“ oder dem wunderbaren „homeridian suor“. Der von Bedeutung befreite Text, der ja keiner mehr ist, obwohl er doch nie – so gierig sind wir auf Sinn – aufhören kann einer zu sein, kalauert und lacht über uns und unsere Sehnsucht nach Schönheit. An keiner Stelle lässt Pastior die Wörter zerfallen in Buchstaben. Unsere Gier nach Sinn ist die seine. Aber keiner versteht sie – auch und gerade im Sinnlosen – so zu befriedigen wie er.

Arno Widmann, perlentaucher.de, 6.2.2006

Woher kommen die Gedichte?

Nicht vom Storch und auch nicht durch den heiligen Geist, wie die Anthologie Die Hölderlin Ameisen beweist. 26 Dichter und 10 Dichterinnen haben hier den Blick in ihre Werkstatt geöffnet und Material präsentiert, aus dem sie in ihren Gedichten schöpfen. Ulf Stolterfoht beispielsweise gibt Auskunft über Programmierhandbücher, denen er Werkstoffe für seine Textgebilde entnimmt, Friedericke Mayröcker präsentiert ein maschinenschriftliches Typoskript mit knalligbunten Nachträgen und Umarbeitungen, andere Dichter arbeiten anhand von Fotos und Gemälden, mit Stadtplänen oder fremden Gedichten. Marcel Beyer etwa schlachtet Briefe und lyrische Fragmente Gottfried Benns so hemmungslos aus, das man nicht schlecht darüber staunt, wie es ihm gelingt, dem eigenen Gedicht noch einen selbstständigen Ton zu verleihen. Stoff genug also, nicht zuletzt für die Verse Hans Thills:

So entstand dieses Gedicht als deutscher Klonmythos aus Fundstücken: Wehrmachtspsychologie, Lesefrüchte, Lutherbibel, Werbe-Slogan, Hinweisschild, Männerwitz.

Tobias Lehmkuhl, satt.org

Oh Tetrapak, hilf!

Vom Suchen und Finden der Verse: Im Band Die Hölderlin Ameisen verraten 36 Lyriker, wie ihnen Gedichte einfallen.
Das wollen wir selbstverständlich wissen. Wie Gedichte entstehen. Aus Wörtern, wissen wir seit Mallarmé, nicht aus Gefühlen. Nun aber erfahren wir von der Lyrikerin Ilma Rakusa, dass Gedichte mitunter auch aus einem exquisiten Stück Damenunterwäsche gemacht sein können (poesie de negligé).
„Vom Finden und Erfinden der Poesie“ berichtet uns der von Manfred Enzensperger herausgegebene Band mit dem skurrilen Titel Die Hölderlin Ameisen. Er geht zurück auf eine Lyriktagung im März 2003 auf Schloss Elmau, die Enzensperger verantwortete und in deren Folge er 36 Lyrikerinnen und Lyriker einlud, exemplarisch anhand ausgewählter Texte über das Entstehen der Gedichte, den Findungs- und Produktionsprozess zu schreiben. Die Resultate gestalten sich so heterogen, wie Dichter nun mal berufsmäßige Individualisten sind.
Interessant ist dabei zunächst die Frage der Findung. Woher kommt die Initialzündung, welcher Finger legt sich um den Trigger, woher die erste Schrecksekunde zum Gedicht? Matthias Göritz reicht ein Stadtplan von Chicago, Kathrin Schmidt bleibt alltagsnah und lässt sich von einem geplätteten Tetrapak Orangensaft (Aldi, Konzentrat) inspirieren, während Gerhard Rühm, ohne groß Aufhebens darum zu machen, direkt die Tagespresse in seine Versform häckselt. Und selbstredend immer wieder Bilder. Fotos, Gemälde, Postkarten. Silke Scheuermann und Franzobel bewegen sich angesichts Berninis „Heiliger Theresa“ im Grenzbereich zwischen religiöser Verzückung und sehr weltlichem Orgasmus. Joachim Sartorius erforscht redselig Majakowskis Liebesleben anhand eines alten Fotos; Gregor Laschen erhält eine Karte aus dem anthropologischen Museum in Mexiko-Stadt und schreibt:

Das Gedicht ist der Alabasteraffe
[…]
als Bild nach Europa
geschickt, aus seinem Blau in das andere Blau hinüberleuchtend.

Alles schön und gut, dem angeregt zu folgen, ein Leichtes. Schwierig wird es, wenn die Werkstattberichte zu poetologischen Manifesten oder blanken Selbstdarstellungen auswachsen. Da bekommt manch lyrische Belanglosigkeit nachträglich noch einen Sockel untergeschoben. Dieter M. Gräfs dünne Montage eines Sachtextes über Ameisen mit Hölderlins „Vaterland“-Ode beispielsweise wird im Kommentar zur gewichtigen Reaktion auf den 11. September stilisiert, als „Crash zwischen zwei Textsorten“. Uwe Tellkamp hingegen schafft es, den an sich vielversprechenden Ausschnitt aus seinem epischen Langgedicht „Der Nautilus“ im eigenen Nachwort gründlich zu diskreditieren. Innerhalb eines Absatzes spricht er mal eben dem kurzen Gedicht die Existenzberechtigung ab, weil es nur Ausschnitte zeige, nicht die „Welttotale“. Ihm aber gehe es um „das Ganze“, den „Weltentwurf“ und sowieso die „Wiederkehr der Uraltthemen Krieg, Vertreibung, Wechsel der Werte“. Der „moderne Dichter“, wie Tellkamp ihn und damit wohl sich selbst versteht, „ist wieder Dom-Baumeister“. Wie zum Beweis der alten These, nach der den größten Mumpitz über Gedichte immer noch die Dichter selbst verzapfen.
Wie informativ ist dagegen die schlichte Materialliste, die Marcel Beyer seiner Serie „Don Cosmic“ beigibt. Wir lernen aus ihr, wie kurz der Weg von Gottfried Benn zu jamaikanischem Reggae und Ska sein kann. Oder wie nüchtern und ehrlich schreibt Ulf Stolterfoht über seine „para-dichtung“, bei der ihm mitunter auch die Programmiersprache einer Computerzeitschrift Anregung bedeutet, obschon er eingestandenermaßen vom Programmieren nicht den blassesten Schimmer hat. Und wie angenehm uneitel liest sich das rekonstruierte Protokoll einer Gedichtproduktion von Elke Erb:

Tja. Es wird wieder nichts.

Nicolai Kobus, die taz, 3.9.2005

Paradox wie das Leben

Beim Lesen dieses immerhin 254 Seiten starken Buches kam ich mir gelegentlich vor, als würde ich die Übersetzung des Handbuchs für einen fernöstlichen Computer studieren. Ich glaubte zu wissen, um was es ging, verstand manches auf Anhieb und ahnte vieles, das mir später am Objekt auszuprobieren blieb.
Nun haben selbst 36 deutschsprachige Lyrikerinnen und Lyriker, selbst wenn sie keine Gedichte schreiben, durchaus noch immer 36 eigene Sprachen, die vieles verraten und mindestens eben so vieles verrätseln. Ja, wissen Lyrikerin und Lyriker überhaupt selbst, wovon sie sprechen?
Nach einem umfassenden Vorwort des Herausgebers und Mitautors Manfred Enzensperger („Holt die Lyrik das Leben von der Straße und wie gelangt das Material ins Gedicht?“) legen die Autorinnen und Autoren los. Manche scheinbar nach Kochbuchmanier (Man nehme Buchstaben, Wörter und Worte!). Andere legen Bildermaterial als Indizien vor und wieder andere versuchen es mit handkorrigierten Manuskripten sowie mit umfangreichen Werkstatt- und Erlebnisberichten. Auch Fragmente von Gedichten Gottfried Benns – so bei Marcel Beyer – dienten offenbar der poetischen Fortpflanzung.
„Sind Gedichte nicht Sprechen ohne Sprechen?“ fragt Mitautor Peter Waterhouse. Und „Vermögen Gedichte in die gegenstandslose Welt zu zeigen?“
Alle lassen sie einen Teil ihrer Fragen offen und manche Antwort, die sie fanden, war wiederum die auf eine ungestellte Frage. Friederike Mayröcker, Joachim Sartorius, Norbert Hummelt, Anne Duden, Wulf Kirsten, Franz Josef Czernin – um nur einige zu nennen – haben alle schon mehrere Gedichtbände veröffentlicht und ermuntern Autorinnen und Autoren zu lyrischen Experimenten und Leserinnen und Leser zur Erkenntnis, dass jedes Gedicht viel mehr sagt als das, was es zu sagen hat.
Ein Buch für angehende und erfahrenere Autoren und für lyrikinteressierte Leser, die jenseits der Logik auch Paradoxien als lebensnotwendig anerkennen.

Barbara Feldkamp, amazon.de, 18.4.2005

Lyrischer Lese-Genuß und Gewinn

Immer wieder heißt es von Gedichten, man könne nicht erklären, wie und warum sie entstehen und aus welchem Stoff sie eigentlich gemacht sind. Man ergeht sich in nebulösen mythisierenden Wortkaskaden, anstatt das zu tun, wozu Herausgeber Manfred Enzensperger (selbst Autor mehrerer Gedichtbände) 36 zeitgenössische Lyrikerinnen und Lyriker eingeladen hat: anhand eines Gedichts dessen Genese anschaulich zu machen versuchen. Die 36 Beiträgerinnen und Beiträger tun dies entsprechend ihrer sehr verschiedenen Temperamente: in Form von – z.T. mehrfarbig – abgebildetem Material, das zu einem Gedicht angeregt hat (z.B. einer Orangensaftpackung), Essays, tagebuchähnlichen Bemerkungen, Verweisen auf Gedichte anderer Dichter oder eines Fragenkatalogs, der über mehrere Seiten die unendliche Bandbreite von Beschreibungs- und Erklärungsansätzen anzudeuten versucht. 10 dichtende Frauen und 26 dichtende Männer (deren Geburtsjahrgänge zwischen 1924 und 1974 schwanken) decken – exemplarisch – das Spektrum deutschprachiger zeitgenössischer Lyrik ab – auch wenn sich Hans Magnus Enzensberger, Durs Grünbein, Sarah Kirsch, Thomas Kling, Günter Kunert, Raoul Schrott und andere wesentliche Vertreter einmal nicht zu Wort melden. Der 265 Seiten starke Band vermittelt viel Authentisches und Interessantes über den Stand gegenwärtiger Dichtung. Wir erleben zwar keine eigentliche „Hoch“-Zeit in der deutschsprachigen Lyrik, aber es herrscht – mehr oder weniger durchgehend seit 1988 etwa – eine gute, lebendige, mit Blick auf Vergangenheit und Zukunft sowie grundsätzlich alle Aspekte des Lebens und der Welt berücksichtigende Stimmung in der deutschsprachigen Poesie, deren Galionsfigur Friederike Mayröcker sich auch in Manfred Enzenspergers engagiert ediertem Sammelband Die Hölderlin Ameisen – Vom Finden und Erfinden der Poesie originell und vital präsentiert. In einem wesentlichen Punkt sind sich die Beiträger dieses Bandes übrigens einig: Es gibt nie nur einen Beweggrund für ein Gedicht, immer ist es ein Zusammenspiel verschiedenster Impulse und Motive, das irgendwann – oft erst nach Jahren des ersten (unbewußten) Anlegens einer „versteckten Datei“ – den Schreibprozeß in Gang setzt. Diesen bis hin zum „fertigen“ Gedicht 36mal (ein wenig zumindest) transprarent zu machen führt zu permanentem Lesegenuß und zu einem deutlichen Lesegewinn, der sich am Ende dieses schönen Buches automatisch einstellt.

Bernd Buran, amazon.de, 20.3.2005

 

Fakten und Vermutungen zum Herausgeber + Kalliope

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00