Marina Zwetajewa: Morgen soll für übermorgen gelten

Mashup von Juliane Duda zum Buch von Marina Zwetajewa: Morgen soll für übermorgen gelten

Zwetajewa-Morgen soll für übermorgen gelten

OFT WIEDERHOLE ICH…
Вcе повторяю…

Ich hab den Tisch gedeckt für sechs…1
Arsenij Tarkowskij

Oft wiederhole ich den ersten Vers,
Wobei ich jedes Mal ein Wort ersetze:
– „Ich hab den Tisch gedeckt für sechs…“
Den Siebten hast du schlicht vergessen.

Ihr werdet euch zu sechst nicht freuen.
Ein Regen überschwemmt euch das Gesicht…
Ein solcher Tisch ohne den Siebten – zu bereuen,
Dass er – dass sie – vergessen blieb…

Unfroh fühlen sich nun deine Gäste,
Unberührt bleibt die Kristallkaraffe,
Alle sind – wie du – betrübt im Herzen,
Am betrübtesten ist sie – nicht zugelassen.

Unfroh – von Heiterkeit gar nicht zu reden.
Essen? Trinken? – keine Lust, kein Appetit.
– Wie konntest du die Zahl vergessen?
Die Gästeliste, die seit langem gilt?

Wie konntest du es wagen, nicht zu wissen,
Dass sechs gleich sieben heisst (du selbst –
Mit Frau und Eltern sowie zwei Geschwistern,
Dazu ich!) – denn ich gehöre auch zu dieser Welt!

Du hast den Tisch gedeckt für sechs,
Doch gibt es noch jemanden hier und jetzt.
Ich bin’s, die alle abschreckt und entsetzt,
Will euresgleichen sein, ich – ein Gespenst.

Ich bin diskret – fast wie ein Dieb,
An keine Seele will ich rühren!
Als Siebte, ungerufen, bin ich hier,
Ohne Gedeck und nicht zu spüren.

Da! – das Glas, ich hab es umgestossen!
Ja, alles will vergossen sein –
Aus Augen Salz, aus Wunden Blut geflossen,
Vom Tisch nun aufs Parkett – der Wein.

Kein Abschied und kein Sarg steht an!
Wie verhext der Tisch, das Haus im Bann:
So wie der Tod zum Hochzeitsmahl
Komm ich, das Leben, in den Speisesaal.

… Niemand da – nicht Bruder, Sohn noch Gatte
Oder Freund – doch ich beklage: Hast den Tisch
Gedeckt für sechs – welch eine Seelentafel!
Mir gabst du, auch am Rande, keinen Sitz.

6. März 1941

 

 

 

Nachwort des Herausgebers

– Erläuterungen zu den Texten und zur Übersetzung. –

Die Dichtung ist ein Kentaur.
Die dienende, wortsetzende, erhellende Gabe
muss in Schritt und Sprung
mit den voranpreschenden, emotionalen,
musikantischen Gesten pass gehen.

Ezra Pound

I
„Vieles bei ihr kann ich nicht verstehen…“, bekannte einst der umfassend belesene Schriftsteller und Publizist Maksim Gorkij im Hinblick auf Marina Zwetajewas dichterisches Werk; und er fügte hinzu:

… wie ich überhaupt die Berauschung durch Worte nicht verstehen kann, bei niemandem.

Man mag die Resignation und die Vorbehalte des einflussreichen sowjetischen Literaturfunktionärs für unbedarft halten, zweifelsohne bringt sein Statement aber zwei durchaus relevante Lektüreerfahrungen auf den Punkt: Es gibt bei Marina Zwetajewa – selbst für erprobte Leser – ein Problem des Verstehens, und dieses Problem ist bedingt durch einen arationalen, ja rauschhaften Spracheinsatz, der formale Qualitäten merklich privilegiert vor bündigen Aussagen.
Wenn Gorkij allerdings kritisch festhält, dass sich „mit diesem Verfahren das Unfassliche im Fühlen und Denken nicht festmachen“ lasse, stellt er eben das in Abrede, was die Dichterin ihrerseits zum Credo und Programm gemacht hat: Poesie mag „ohne Sinn“ sein, hat sie einst notiert, muss aber in jedem Fall „viel Ausdruck“ aufbringen, um gerade das „Unfassliche“, das in begrifflicher und begreiflicher Sprache nicht Artikulierbare zu vergegenwärtigen.
Solches gilt wohl für manche Spielarten der Wortkunst, es gilt auch – gerade im russischen Kulturbereich – für die sprachliche Folklore (transmentale Totenklagen, Hochzeitslieder, Kinderreime, Sektierergesänge usf.), für Marina Zwetajewas Personalstil indes ist die Engführung von streng formalistischer und schwärmerisch ausgelassener Dichterrede von vorrangiger Bedeutung: Aus ihr gewinnt sie ihre unverwechselbare Intonation, eine Prägung, die schon in ihrem Frühwerk erkennbar ist und die sich nachfolgend sukzessiv vertieft, bis sie in den Verszyklen und Langgedichten der 1920er, 1930er Jahre ihren höchsten Intensitätsgrad erreicht.
Die vielfachen Schwierigkeiten des Verstehens, durch die man als Leser und vollends als Übersetzer von Marina Zwetajewas Dichtwerken unentwegt herausgefordert, bisweilen auch überfordert ist, gehen auf eine poetologische Vorentscheidung der Autorin zurück, und sie bleiben auch denen nicht erspart, die mit dem Russischen als Mutter- und Alltagssprache intim vertraut sind. „Ohne Sinn“, aber mit „viel Ausdruck“ – diesem von ihr selbst formulierten, wohl bewusst überspitzten Prinzip ist Marina Zwetajewa über fast dreissig Jahre hin auf den rund 1.250 Druckseiten ihres lyrischen Schaffens konsequent gefolgt, ausgenommen mit ihren frühsten und ihren letzten Texten, die insgesamt mehr auf „Sinn“ denn auf „Ausdruck“ angelegt sind. Wo aber der „Ausdruck“ sich zum ungebremsten Ausdrucksfuror steigert, wie es bei der Zwetajewa mehrheitlich der Fall ist, tendiert der „Sinn“ naturgemäss zum Un-Sinn – die Sprache verliert ihre gewohnte Funktion als Bedeutungsträger und feiert sich gewissermassen selbst, indem sie ihre sinnlichen Qualitäten (um es, mit Gorkij, noch einmal zu sagen:) „rauschhaft“, also weitgehend unkontrolliert hervorkehrt.
Die Autorin scheut sich nicht, in Bezug darauf von „Naturgewalten“ und „Elementarkräften“ zu reden, von denen sie, ob sie es wolle oder nicht, beim Schreiben beherrscht werde – sie horche lediglich auf die Einflüsterungen der Natur (die sie bald mit der Sprache, bald mit „Gott“ gleichsetzt) und unterwerfe sich deren Diktat:

Genie ist die höchste Stufe der Hingabe an das Überwältigtwerden… Die höchste Stufe der Passivität und die höchste der Aktivität.

– „Fest steht“, so konstatiert sie weiter in ihrem Essay über „Die Kunst im Licht des Gewissens“ (1932):

Ein Werk der Kunst ist ein Werk der Natur, es wird geboren, nicht gemacht.

In Übereinstimmung mit Gorkij spricht auch sie von einem Rauschzustand, um den Akt des Schreibens zu charakterisieren. Individuelle Autorschaft wird somit als schlichte mediale Dienstleistung ausgewiesen, gleichzeitig aber auch als eine Art von Gottesdienst hochgehalten. Kein Dichter, meint sie, könne wissen, „was er aussprechen würde, und häufig auch nicht das, was er ausspricht.“
Dieses poetologische Selbstbekenntnis mag all jenen Lesern als Entlastung dienen, die sich mit dem Verständnis von Marina Zwetajewas Dichtwerken schwertun: Wenn selbst die Autorin nicht immer begreift, was sie zu Papier bringt, wie sollte man als Leserin oder als Leser vor ihren Texten resignieren? Gefragt und geboten ist vielmehr die Ablösung von deren Bedeutungsebene und damit die Freiheit zu riskanter eigensinniger Lektüre. – Dass Unverstandenes, Missverständliches oder Mehrdeutiges gleichwohl sinnreich sein kann, bestätigt sich vielfach bei der Lektüre (oder beim Anhören) ihrer Gedichte: Wo es Bedeutungsdefizite und Verständnisprobleme gibt, setzt in aller Regel die selbständige Sinnbildung des Lesers ein, der dunkle Textstellen nicht einfach übergeht, sondern sie, je nach ihrer sprachmusikalischen Qualität, als Stimmungen (genauer: als Gestimmtheiten) wahrnimmt, sie assoziativ erweitert und allenfalls mit eigenen Erfahrungs- oder Wissensdaten verknüpft.
Einzig daraus lässt sich erklären, dass Marina Zwetajewa trotz und gleichzeitig wegen des besonders hohen Schwierigkeitsgrads ihrer Dichtung zu den meistpublizierten, meistkommentierten und auch meistübersetzten Autoren der europäischen Moderne gehört. Bedeutungsferne und Vieldeutigkeit gehen ineinander über, definitiv korrekte Lesarten oder gar definitiv adäquate zwischensprachliche Übertragungen sind unter dieser Voraussetzung nicht zu bewerkstelligen; in beiden Fällen muss deshalb Extrapolation vor Interpretation Vorrang haben. Darin besteht das Faszinosum „schwieriger“, hermetisch eingedunkelter Texte – dass sie stets mehrere, auch gegenläufige, nie ganz abschliessbare Interpretationen zulassen, die das hermeneutische Begehren wie die übersetzerische Annäherung gleichermassen aktivieren.
Nur scheinbar stehen Schwierigkeiten aller Art in Kontrast zu Marina Zwetajewas dichterischer „Buchführung“, die den Vorgang, die Arbeit des Schreibens im Normalfall durch exakte Datierung auf die lebensgeschichtliche Chronologie bezieht. Die Entstehungsdaten der einzelnen Gedichte vergegenwärtigen punktuell die Biographie der Autorin und den Verlauf der Zeitgeschichte, ohne aber den dokumentarischen Anspruch eines Tagebuchs erfüllen zu wollen.
Die autobiographischen Fakten – Existenznot, Liebesquerelen, Fluchtbewegungen, prägende Lektüren, Götter- und Heldenverehrung, engagierte Freundschaften – sind für die Zwetajewa nicht als Gegenstand oder Problem von Interesse, sie bilden nur einfach den Anlass zu dichterischem Tun. Am linearen Leitfaden der Chronologie findet sich aufgereiht, was ihr im Alltagsleben, in der Erinnerung, beim Lesen oder im Traum widerfährt. Der Chronologie folgt denn auch fast durchgehend die Anordnung der Gedichte innerhalb der jeweiligen Buchwerke. Die Dynamik der Lebens- wie der Schreibbewegung führt dazu, dass manche – die meisten – ihrer Gedichte nicht separat für sich zu stehen kommen, dass sie vielmehr zu Gruppen, Sequenzen, oft auch zu grossangelegten Zyklen zusammengeschlossen werden, umgekehrt aber auch dazu, dass aus den meisten Textfolgen wiederum einzelne Gedichte ausgegliedert werden und als selbständige Texte bestehen können.
Ob erotischer Taumel oder Kriegswirren, ob Naturseligkeit oder grossstädtischer Horror, alles wird von dieser Autorin unmittelbar aufgegriffen und literarisch anverwandelt, dabei aber auch faktisch verunklärt, verfremdet, mitunter verfälscht. Semantisch Disparates und klanglich Ähnliches werden bedenkenlos zusammengeschnitten, ein Verfahren, das die Dichtersprache stellenweise zur Fremdsprache mutieren lässt. Die Spannung zwischen rhetorischem Überschwang einerseits und Bedeutungsschwund anderseits kann für den Leser zum Sinngenerator werden – subjektive Sinnerzeugung beziehungsweise Sinngewinnung wird umso leichter, drängt sich aber auch umso unausweichlicher auf, je weniger die Textbedeutung vorab festgelegt ist. Von daher versteht sich Marina Zwetajewas Zuspruch (und Aufforderung) an die Leserschaft:

Wenn ihr wissen wollt, was ich sage, so findet die Kraft, welche dem, was ich sage, einen Sinn, notfalls einen neuen (euren eigenen) Sinn gibt. Verbindet den Text mit dieser Kraft.

Die Tatsache, dass sie sich im Leben wie beim Schreiben der reissenden Zeit überantwortet, bestimmt Marina Zwetajewas unverwechselbaren Personalstil, prägt merklich Struktur und Form ihrer Dichtung, ist im Übrigen auch der Grund dafür, dass ihre Dichtung über weite Strecken monologisch oder dialogisch, mithin eminent rhetorisch konzipiert ist. – Ansprache und Zwiesprache bestimmen hier vorrangig die lyrische Redeweise, die denn auch in vielen Fällen persönlich adressiert ist – mit Widmungen an Verwandte, Freunde, Kollegen, Geliebte, aber auch generell an diverse Kollektive (Tschechen; Dichter; Juden u.a.m.). – Rekurrent sind ausserdem Anrufungen und Lobpreisungen der Gegenstandswelt (Bäume, Wolken, Flüsse, Berge, Sterne; die Stadt Moskau; der eigene Schreibtisch u.a.m.), ergänzt durch eine Vielzahl von Evokationen mythologischer oder geschichtlicher Persönlichkeiten (Orpheus, Empedokles, Scaevola; Maryna Mniszek, Peter I., Napoleon I. u.a.m.) sowie durch versifizierte Appelle an literarische Ahnen (Puschkin, Chénier u.a.m.) und Nachrufe auf schreibende Zeitgenossen (Blok, Woloschin, Gronskij u.a.m.).
Die oftmalige Verwendung umgangssprachlicher, historisierender oder zitathafter Redewendungen unterstreicht – über viele Epochen hin – den Gesprächscharakter dieser Lyrik, deren hochemotionale Aufladung durch den exzessiven Einsatz von Anführungs- und Interpunktionszeichen („ ! “, „ ? “, „ … “ oder „ – “) beglaubigt, oftmals auch zusätzlich verstärkt wird: Das typographische Erscheinungsbild des Gedichts soll die jeweilige Gefühlslage der Autorin visualisieren.

II
Der alle Schaffensphasen übergreifende rhetorische Impetus der Zwetajewa sollte in der hier übersetzten Gedichtauslese fühlbar bleiben und durch Texte unterschiedlichster Ausformung aus dem Gesamtwerk aufrecht erhalten bleiben. Ausser Einzelgedichten werden dementsprechend auch lyrische Triptychen, mehrteilige nummerierte Gedichtfolgen sowie verschiedene Langgedichte präsentiert. Aus Platzgründen bleiben jedoch die grossen Poeme und Verserzählungen ausgespart, die umfangmässig einen beträchtlichen Teil des dichterischen Gesamtwerks ausmachen („Die Zarenjungfrau“, 1920; „Ein kleiner Held“, 1924; „Der Rattenfänger“, 1925; „Perekop“, 1929; u.a.m.).2 – „Das Schwanenlager“ (nachgelassenes Dichtwerk im Buchformat, 1921; Erstdruck 1957), „Verse an Blok“ (Gedenkzyklus, 1922) und die nachgelassenen „Verse an Tschechien“ (1938/1939; Erstdruck 1965) sind durch umfangreiche Auszüge repräsentiert. – Die Stellenkommentare zu den Gedichten (S. 240–256) sowie eine summarische Lebens- und Werkchronik (S. 258ff.) mögen dazu verhelfen, die oftmals stark verfremdeten Wirklichkeitsbezüge zu klären.
Im Vergleich mit bereits vorhandenen deutschen Editionen aus dem lyrischen Werk Marina Zwetajewas unterscheidet sich die vorliegende Textauswahl in doppelter Hinsicht. Wurde bislang von wechselnden Herausgebern und Übersetzern (mehrheitlich Übersetzerinnen) im Wesentlichen stets der gleiche Kernbestand an Kurzgedichten präsentiert, kommen hier nun auch zahlreiche andere Texte zur Geltung, darunter solche aus dem Nachlass der Dichterin, von denen wiederum manche als Entwürfe oder als Fragmente zu gelten haben. Entsprechend hoch ist der Anteil von Erstübersetzungen.
Dass aber auch bereits übersetzte Gedichte – durchweg in neuer, mehrheitlich stark abweichender deutscher Fassung – in diese Auslese aufgenommen wurden, hat zwei einfache Gründe. Erstens finden sich darunter (wiewohl zumeist gekürzt) einige herausragende Meisterstücke, die in keiner Lyrikauswahl von Marina Zwetajewa fehlen dürfen, und zweitens soll damit dargetan werden, dass angesichts der Dunkelheit beziehungsweise des Schwierigkeitsgrads der Texte nicht eine Übersetzung massgeblich oder gar definitiv sein kann; dass vielmehr, in so gut wie jedem Fall, unterschiedliche, sogar gegenläufige Versionen in der Zielsprache sich als notwendig erweisen, um eine adäquate Lesart der Originalgedichte zu ermöglichen.
Normalerweise gibt es ein Original und in jedem Fall – bei dichterischen Texten – mehrere übersetzerische Lesarten. Bei der Zwetajewa bleibt der Status des Originals allerdings oft unklar, da sie viele ihrer Gedichte mehrfach ab- und umgeschrieben und auch in unterschiedlicher Form publiziert hat. Dutzende von Einzel- und Werkausgaben liegen inzwischen vor, jede davon folgt ihren eigenen editorischen Prinzipien – bald wird als „Original“ eine letzte handschriftliche Fassung legitimiert, bald die Fassung des Erstdrucks, bisweilen auch eine konjekturale Redaktion. Da ein Grossteil von Marina Zwetajewas Lyrik zu ihren Lebzeiten nicht in Buchform erschienen ist, werden eben diese Texte in immer wieder anderer Komposition veröffentlicht. Grundlegend für die Auswahl wie für die Übersetzung der hier präsentierten Gedichte war Aleksandr Sumerkins kritische Edition der Gedichte und Poeme (Stichotworenija i poemy“, I–IV) bei Russica Publishers Inc., New York 1980–1983, ergänzt durch die reich kommentierte Werkauswahl gleichen Titels von J.B. Korkina in der „Biblioteka poeta“, Leningrad 1990.
Die hier versammelten Erst- und Neuübersetzungen erheben nicht den Anspruch, letztgültig oder gar alleingültig zu sein. Massgebliches Kriterium beim Übersetzen war in diesem Fall – entsprechend der poetologischen Anlage der Originaltexte – gerade nicht (wie bisher üblich) die möglichst getreue und vollständige Wiedergabe der Aussage bei gleichzeitiger, unvermeidlicher Vernachlässigung (oder ungerechtfertigter Forcierung) formaler Qualitäten, vielmehr – umgekehrt – die möglichst präzise Nachbildung eben dieser Qualitäten unter Inkaufnahme unvermeidlicher Verluste auf der Aussageebene der Gedichte. Solche Verluste sind im Übrigen weit weniger gravierend als Defizite formaler Art, da die Autorin selbst stets an der Priorität des Ausdrucks vor der Aussage festgehalten und letztem oftmals im Ungefähren belassen hat.
Praktisch ausnahmslos hat sich die Zwetajewa an die gebundene Form des Gedichts gehalten, speziell an den Endreim, den sie (oft entgegen bestehender Regeln) äusserst variantenreich einsetzt und dessen hauptsächliche Qualität – Gleichklang oder zumindest Klangähnlichkeit – sie auch textintern nachhaltig zur Geltung bringt, sei es in Form von Assonanzen, Homophonien, Anagrammen oder von andern lautlichen (auch schriftlichen) Figurationen, die insgesamt ihren singulären Leitwortstil ausmachen. Dazu kommt die komplexe rhythmische Struktur der Dichtwerke, die ihre Ausdruckskraft vorwiegend daraus gewinnt, dass sie von metrischen beziehungsweise strophischen Konventionen immer wieder abweicht und durch ebensolche Abweichungen einen kontrapunktischen Effekt erzeugt. Zusätzliche Probleme ergeben sich für die Übersetzung dadurch, dass Marina Zwetajewa die Kürze, die Knappheit, mithin die Intensität des sprachlichen Ausdrucks (durch Kontaminationen, Auslassungen, häufigen Einsatz von Partizipien usf.) konsequent hochhält und dass sie zugunsten der dichterischen Form elementare Sprachregeln missachtet, so etwa die Zeitenfolge (Vergangenheitsformen können Zukunftsbedeutung haben), die Unterscheidung von Einzahl/Mehrzahl oder die Stabilität des lyrischen Subjekts, das alogisch zwischen „ich“, „du“, „er“, „wir“ oder „man“ fluktuieren kann.
Solche formalen und strukturellen Besonderheiten auch in der Zielsprache so weit wie möglich zu erhalten, war die Ambition des Übersetzers – die Gedichte sollten nicht nach gewohntem Verfahren übertragen, sie sollten nachgebaut werden in vorrangiger Berücksichtigung der originalen Lautgestalt mit ihren spezifischen Ausprägungen, ihren Defiziten und Irregularitäten (ungenaue Paarreime, rhythmische und klangliche Dissonanzen, fragmentierte Verse und Strophen usf.). Dabei musste notwendigerweise die Klanglichkeit des Deutschen eigens genutzt und analog eingesetzt werden – unter diesem Gesichtspunkt gerät die Übersetzung in vielen Fällen zur Nachdichtung.
Grammatikalische und syntaktische Regelverstösse, absurde „Volksetymologien“, Archaismen, Neologismen, Kalauer u.ä.m. wurden je einzeln ins Deutsche gebracht beziehungsweise im Deutschen eigens erarbeitet, wobei es naturgemäss auch hier zu formalen wie zu semantischen Verlusten kommen musste, während anderseits – an andern Stellen – spezifische Eigenschaften des Deutschen als Mehrwert eingebracht werden konnten. Das Übersetzen wird in solchen Fällen (die bei der Zwetajewa fast schon die Regel sind) zum Kompensationsgeschäft.
Insgesamt galt beim Übersetzen das Prinzip, das jeweilige Dichtwerk – ob Einzelgedicht oder Zyklus – als ein Ganzes in die Zielsprache umzuformen: Statt Schritt für Schritt (Vers für Vers oder gar Wort für Wort) dem Originaltext zu folgen wie bisher vorzugsweise üblich, sollte viel mehr auf die Prosodie als solche geachtet werden, auf die Intonation des Gesamttexts, auf Stimmungen und Tonarten, die darin zum Schwingen kommen, ein Prinzip, das auch durchaus die Freiheit eröffnet, ganze Wortgruppen oder auch Verse in ihrer Abfolge zu vertauschen, Adjektive oder Adverbien fortzulassen oder hinzuzufügen, je nach klanglicher oder rhythmischer Erfordernis – wobei allerdings der Bedeutungszusammenhang nachvollziehbar bleiben muss. In Fällen, da das Original einen solchen Zusammenhang nicht erkennen lässt und sich bloss noch als absurde Wortkonstellation zu erkennen gibt, bleibt als einzige Option die wortwörtliche Übertragung mit möglichst weitgehender Anpassung an die melodische und rhythmische Qualität der einzelnen Verse oder Strophen.
Als Beispiel für diese Art von klangähnlicher Nachdichtung russischer Verse im Medium des Deutschen sei hier das Gedicht (95) angeführt. Der russische Text beginnt, buchstäblich transkribiert, wie folgt:

Schag sa schagom, mak sa makom
Obes
glawila wesj sad.
Tak, kogda […]. Usf.

Man muss des Russischen nicht mächtig sein und braucht sich um die Aussage dieser Verse nicht zu kümmern, um festzustellen, dass sämtliche hier aufgereihten Wörter (mit der einen Ausnahme von „wesj“) eine vom Selbstlaut „a“ getragene Silbe enthalten, was insgesamt ein besonderes prosodisches Melos ergibt. – Eben dieses (oder zumindest ein ähnliches) Melos im Deutschen zu erzeugen, ohne die Aussageebene des Gedichts zu ignorieren, war die primäre Herausforderung bei dessen Übersetzung. Dieselben Verse mit deutschem Sprachmaterial dementsprechend zu instrumentieren, erwies sich als unmöglich, doch fand sich eine Möglichkeit, die nachfolgenden Zeilen mit der gleichen Klanglichkeit auszustatten, die im Original allein dem Textanfang zukommt. Gesamthaft bleibt die Intonation des Originalgedichts dennoch erhalten, obwohl diese im Deutschen nicht in den gleichen (nicht in den entsprechenden) Versen zum Tragen kommt. – Mithin heisst es nun in der Zielsprache (unter Beibehaltung der Vokalreihe mit „a“ wie auch der Endreimqualitäten):

Dereinst wird mich der Tod erwarten,
An einem Sommertag im hagern Feld
Er wird mit f
ahriger Gebärde
Meinen Kopf berühren – dass er
fällt.

Die hier knapp benannten Besonderheiten und Probleme des Übersetzens sind zwar spezifisch für Marina Zwetajewa, liessen sich aber, mehr oder minder stark ausgeprägt, auch bei andern Autoren namhaft machen. – In Abwandlung und Anpassung eines Kommentars zur Übersetzung – zu den Übersetzungen – des Ulysses von James Joyce könnte man auch für die Zwetajewa insgesamt festhalten: Die vorrangige Aufgabe beim Übersetzen ist die Erhaltung der prosodischen Dynamik ihrer Dichtwerke – wie man die Entladung ähnlicher semantischer und rhythmischer Energien in der Zielsprache ermöglicht und wie man dem Leser zu entsprechender Teilhabe daran verhelfen kann. Die Übersetzung darf sich deshalb nicht in erster Linie an dem abarbeiten, was dasteht, sondern muss sich darüber hinaus (will heissen: über den Originaltext hinaus) auf das einlassen, was bei der Rezeption, der Assimilation, dem sinnlichen Mitvollzug der Nachdichtung vor sich gehen kann oder soll.

Felix Philipp Ingold, Nachwort

 

Marina Zwetajewa

gilt als eine der stärksten, formal anspruchsvollsten Autorinnen der europäischen Moderne. Entsprechend schwierig ist ihr Werk zu übersetzen. Kühne Brüche und der Vorrang des Klanglichen erschweren verbindliche Sinnstiftung, provozieren sie aber auch. Erotischer Taumel, Kriegswirren, Emigration, Naturseligkeit, großstädtischer Horror sind nur einige der emotional extrem spannungsreichen semantischen Räume, die ihre zwischen strenger Artistik und ausgelassener Schwärmerei changierende Dichterrede durchmisst. – Felix Philipp Ingold lässt sich in seinen übersetzerischen Annäherungen von der melodischen und rhythmischen Dynamik der Originalgedichte leiten, um vergleichbare Energien in der Zielsprache freizusetzen. In sorgsamem, dabei durchaus eigenwilligem „Nachbau“ der russischen Vorlagen vermag der Dichter-Übersetzer deren offene Sinnpotentiale in höchster Intensität zur Wirkung zu bringen. Die vorliegende Auslese vereint neben zahlreichen Erstübersetzungen (teils aus dem Nachlass) auch radikale Neufassungen kanonisierter Meisterstücke als emphatische Zeugnisse für den Reichtum an Möglichkeiten, die singuläre Lyrik Marina Zwetajewas heute auch in deutschem Wortlaut nachvollziehend zu lesen.

Ritter Verlag, Ankündigung

 

Beiträge zu diesem Buch:

Jonis Hartmann: Dass ich Dichter* bin
fixpoetry.com, 10.11.2020

Timo Brandt: Marina Zwetajewa: Morgen soll für übermorgen gelten
signaturen-magazin.de

 

„Der süßeste Schmerz…“ 1907–1912

Achtzehn Monate nach dem Tod ihrer Mutter war Marinas Leben immer noch vom Gefühl eines Verlustes erfüllt. Mit Schmerz und Mitgefühl las sie die neun dicken Bände des Tagebuches, das Maria Alexandrowna seit ihrem siebzehnten Lebensjahr geführt hatte. In der Beschreibung von „S. E.“ (der Artillerieoffizier, den ihre Mutter geliebt hatte) fand sie eine Bitterkeit, die sie an Andrej Bolkonski in Krieg und Frieden erinnerte. Und als das Tagebuch schloß „Ich bin 32 Jahre alt, ich habe Mann und Kinder, aber…“,3 und sie sah, daß alle folgenden Seiten sorgfältig herausgeschnitten waren, erschauerte Marina angesichts der Begegnung mit einer tiefen und unerwiderten Liebe.
Als Kind hatte Marina ihr unromantisches, vor Gesundheit strotzendes Aussehen immer gehaßt. Mittlerweile war sie vierzehn Jahre alt, kräftig gebaut, groß für ihr Alter, oft mit einem aufgesteckten kurzen, dicken Zopf. Ihre riesigen grünen Augen waren stark kurzsichtig, doch sie trug selten eine Brille. Um die unangenehmen Zeichen von Gesundheit von ihren Wangen zu tilgen, schränkte sie das Essen ein und trank Essig. Zwar war ihr nicht die körperliche Schönheit Anna Achmatowas gegeben, doch sie strahlte Vitalität aus, und diese sollte, wie sie beschloß, ihr neues russisches Internat nicht bändigen. Es überrascht nicht, daß ihr Eigensinn dafür sorgte, daß sie bald von der Schule verwiesen wurde.
Sie war jetzt finanziell unabhängig und konnte es sich 1908 leisten, ins Ausland zu gehen, um an einem Sommerkurs an der Sorbonne über französische Literatur teilzunehmen. Wie ihr Entschluß, allein nach Paris zu gehen, zeigt, war Marina nicht ängstlich. Wäre ihre Mutter noch am Leben gewesen, hätte sie ihr das schwerlich erlaubt, doch Professor Zwetajews Einwilligung war leicht zu erhalten. Er war ganz mit seinen eigenen Angelegenheiten beschäftigt, und um seine eigenwillige Tochter schien er sich als Vater bemerkenswert wenig Sorgen zu machen.
Im Sommer 1909 ging sie abermals nach Paris und konnte dort Sarah Bernhardt auf der Bühne sehen. Nach ihrem Auftritt in Edmond Rostands L’Aiglon wartete Marina draußen, um ein Autogramm von der großen Schauspielerin zu bekommen – sie hatte eine neue Heldin gefunden. Sie hatte inzwischen bemerkenswerte Gedichte geschrieben und dabei entdeckt, daß es möglich war, sich in eine Phantasiewelt zurückzuziehen und von dieser getragen zu werden.
In dieser Gemütsverfassung begann Marina am Ende des Sommers im Haus der Familie in Tarussa, L’Aiglon zu übersetzen; sie brachte den ganzen Winter ihres siebzehnten Lebensjahres damit zu. Was sie, abgesehen von ihrer Bewunderung für Rostand, zu dem Stück hinzog, war ihre Liebe für die Figur Napoleons II. Sie füllte ihr Zimmer mit Bildern des Kaisers und seines unglücklichen Sohnes, schattete sich in ihrer Arbeit gegen den Alltag von Menschen und Haushalt ab und zog es vor, mit ihren Büchern und zwischen den Porträts an ihren Wänden zu leben. Sie liebte es, Napoleons Worte „L’Imagination gouverne le monde!“, die er im Stück sagt, zu zitieren, die zum Motto in ihrem ersten Gedichtband, Abendalbum, wurden. Marina vertiefte sich so gründlich in das Leben Napoleons, daß sie die Hälfte jedes Tages in ihrem engen Zimmer verbrachte, als habe sie sich ganz und gar in ein anderes Zeitalter und in das Leben eines anderen Menschen versetzt. Sie kannte Victor Hugos Oden an Napoleon auswendig und sammelte Stiche ihres Helden, die sie an den Wänden ihres Zimmers aufhängte.
Ihre Übersetzung ist nicht erhalten. Nachdem sie sie beendet hatte, entdeckte sie, daß das Stück bereits übersetzt worden war. Die rivalisierende Arbeit war lächerlich phantasielos, doch Marina, verständlicherweise enttäuscht, warf ihre ganze Arbeit fort, als sie von der Existenz der anderen Übersetzung erfuhr, eine Geste, aus der ein verzogenes, herrisches Kind spricht. Doch dahinter verbarg sich mehr: die Weigerung, auch nur im geringsten mit Schund zu wetteifern.
Marina sollte bald in Moskau eine andere Welt entdecken, eine Welt der Dichter und Literaturkritiker – und ihrer ersten Liebesaffäre. Sie war siebzehn Jahre alt, als Wladimir Nilender in ihr Leben trat, eingeführt durch Lew Kobylinski (besser bekannt unter dem Pseudonym „Ellis“), mit dem er die Wohnung teilte. Ellis, der an der Moskauer Universität Geschichte studiert hatte und ein glühender Verehrer Baudelaires war, gewinn als Freund von Andrej Bely in Marinas Augen enormes Ansehen. Belyj seinerseits war, was Marina nicht wußte, fasziniert, daß Ellis die Zwetajew-Schwestern kannte, doch ein Zusammentreffen mochte Ellis nicht zulassen. Nichtsdestoweniger war Ellis der erste seriöse Kritiker von Marinas Arbeiten, und während er Marinas Übersetzung von L’Aiglon lobte, machte er sie mit der zeitgenössischen russischen Dichtung bekannt. Marina (in Begleitung ihrer Schwester) führte Gespräche mit Ellis und Nilender, die sie in einem dunkelblauen, goldverzierten Album festhielt, das Marina und Assja „Unser Abendalbum“ nannten. Später übertrugen sie Marinas neue Gedichte in dasselbe Album, und Marina benutzte den Titel Abendalbum für ihren ersten veröffentlichten Gedichtband.
Ellis verfügte über die Eigenschaften eines Zauberers, der Marina eine neue Welt eröffnete, und so schrieb sie auch im „Abendalbum“ über ihn, doch es war Nilender, zu dem sie sich hingezogen fühlte. Vermutlich waren beide Schwestern entzückt, als sie entdeckten, daß man sie attraktiv fand. Sowohl Ellis als auch Nilender waren in Marina verliebt, und Nilender machte Marina an eben jenem Abend einen Heiratsantrag, an dem Ellis ihn mit einem Brief zu Marina geschickt hatte, der ebenfalls einen Antrag enthielt. Als es Nilender endlich über sich brachte, Marina den Brief auszuhändigen, empfing diese ihn mit Verwunderung. Es war Anastassja, die als erste begriff, daß Nilender ebenso sehr verliebt war wie Ellis, und zwar in Marina und nicht in sie, sie stand auf, nahm ihren Mantel und ließ die beiden allein, obwohl Marina sie zum Bleiben überreden wollte. Anastassja wußte, daß Marina nicht den Wunsch hatte, zu heiraten, doch sie irrte sich, wenn sie dachte, daß Marina nicht geliebt zu werden wünschte.
An jenem Abend gingen Marina und Nilender zusammen durch die Straßen von Moskau. Nachdem sie vor Kälte zitternd heimgekehrt war, blieb sie für den Rest des Abends stumm. Offenbar war sie verwirrt und konnte sich nicht schlüssig werden, was sie ihrer Schwester sagen sollte. Mehrere Tage vergingen, ehe Marina sich entschloß, das Schweigen zu brechen; sie sagte mit Verzweiflung in der Stimme:

Es ist aus! An jenem Abend, als wir durch die Gassen streiften, haben wir Abschied voneinander genommen. Wir werden uns nicht mehr sehen.4

Marina war durch ihre Gefühle für Nilender in tiefe Bestürzung geraten, und sie empfand diese Trennung als schmerzhaft. Als sie eines Abends mit Anastassja über den Arbat ging, geriet sie plötzlich aus der Fassung, als sie Nilender auf sie zukommen sah. Es blieb nur Zeit, sein trauriges Lächeln wahrzunehmen, das Winken seiner Hand und das Lüften seines Hutes, bevor er an ihr vorüber war, doch Marina wurde blaß und sagte auf dem ganzen Spaziergang kein Wort mehr. Sie hielt ihre Gefühle in einem Gedicht fest, geschrieben im März 1910, das den Titel „Begegnung“ trägt. Er hatte ihr mehr bedeutet, als sie geahnt hatte, obgleich ihre Zuneigung zu Nilender weniger heftig war als spätere Bindungen.
Trotz der an Nilender gerichteten Liebesgedichte, waren es Frauen, die zu dieser Zeit in Marina die tiefsten Gefühle hervorriefen. Wer auch immer ihr Herz gewann, sie begann diesen Menschen in gewissem Sinn mit Eigenschaften auszustatten, die er in Wirklichkeit nicht besaß. Doch im Fall von Assja Turgenjewa wurde Marinas Bewunderung von vielen Verehrern geteilt. Im Moskau des Jahres 1910 waren über die drei Turgenjew-Schwestern viele Legenden im Umlauf. Der Dichter Solowjow war in Natascha, die älteste, Andrej Bely in Assja verliebt; und selbst der jüngsten (damals erst zwölf Jahre alt) sollte bald ganz Moskau zu Füßen liegen. Währenddessen hielt Assja Turgenjewa Hof, den kleinen Kopf anmutig nach vorn geneigt, zart wie eine Radierung. Marina beobachtete, daß ihre spitz zulaufenden Finger ständig eine Zigarette hielten und ihr schöner Kopf immer in eine graue Rauchwolke gehüllt zu sein schien. Einmal war auch Nilender zugegen, als Marina die Schwestern besuchte. Marina glaubte, daß auch er ein wenig in Assja verliebt war:

Aber man konnte gar nicht umhin, sich in sie zu verlieben.5

Bei diesen Besuchen wurde wenig gesprochen. Assja scheint schweigend in ihrer mühelosen Überlegenheit verharrt zu haben, und Marina verstummte angesichts der unvergleichlichen Eleganz Assjas. Einmal trug sie ein Leopardenfell um die Schultern, und Marina gewann ihre Aufmerksamkeit durch den Ausruf, sie, Assja, sei ein solches Tier. Dafür empfing sie einen langen, ernsten Blick und eine Bemerkung über ihre auffallend grünen Augen.
Was Marina, abgesehen von ihrer mädchenhaften Schönheit, an Assja gefiel, war ihre sachliche Art, fast die eines höflichen jungen Mannes, die sie als ihre eigene erkannte. Zwischen ihnen war entschieden mehr als Freundschaft: eher eine Liebe als ein Verliebtsein, wie Marina es auffaßte, denn für sie stand fest:

Verlieben werden wir uns nur in das fremde, das Verwandte lieben wir.

Den beiden Mädchen war die Wildheit gemeinsam, und nachdem das erste Wort gefallen war, hatten sie Freude an ihrer eigenen Kühnheit. Doch diese Liebe war nicht auf Dauer angelegt, und bald darauf verlor Marina Assja, als diese Andrej Bely heiratete.
Marina war jetzt siebzehn, trug einen Bubikopf und hohe Absätze und hatte zu rauchen angefangen. Zuerst verheimlichte sie es, um die Gefühle ihres Vaters zu schonen. (In der Tat war er über die Art, in der sie sich entwickelte, ziemlich besorgt.) Obwohl er, als er im Sommer 1910 mit ihr nach Deutschland aufbrach, andere Sorgen als die mangelnde Disziplin seiner Tochter hatte.
Nilenders Verbindung mit Ellis hatte dazu beigetragen, daß Professor Zwetajew dem weiteren Umgang Marinas mit ihrem früheren Verehrer ablehnend gegenüberstand. Und auch Marina hegte keine romantischen Gefühle für Ellis, der bald im Zentrum eines Skandals stehen sollte, in den ihr Vater verwickelt war und der ihn beinahe ruinierte. Die Tatsachen sind nicht ganz klar. Im Sommer 1909 wurde entdeckt, daß aus Zwetajews Museum eine Anzahl von graphischen Blättern gestohlen worden war, als ein Großfürst in einem Moskauer Kunstantiquariat ein paar davon aufstöberte und bemerkte, daß die Museumsstempel nicht gänzlich entfernt worden waren. Die Spur führte zu Kosnow, einem Freund des Museumskurators Schurow. In der Folge gelang es Zwetajew, die Rückgabe von Dreivierteln des Diebesgutes zu erwirken. Nichtsdestotrotz ordnete der Volksbildungsminister Alexander Nikolajewitsch Schwarz an, eine spezielle Untersuchungskommission einzusetzen. Dahinter verbarg sich eine persönliche Feindschaft, ein Überbleibsel aus der gemeinsamen Studienzeit beider Männer. Die Bestände des Museums wurden überprüft und gegen Zwetajew zahlreiche Anschuldigungen erhoben. Diese Vorwürfe gelangten in die Presse, und Zwetajew verfaßte eine lange Erwiderung, die er veröffentlichen wollte. Seine Pläne wurden durchkreuzt, als er einen Brief von Schwarz erhielt, in dem er aufgefordert wurde, innerhalb von drei Tagen zurückzutreten. Zwetajew weigerte sich.
Im Dezember desselben Jahres (1909) folgte ein Bericht des Senats, des Inhalts, es gebe keinen Anlaß zum Rücktritt Zwetajews von seinem Amt als Direktor des Rumjanzew-Museums. Als er das hörte, schrieb Zwetajew glücklich an R.I. Klein, den Architekten des neuen Museums: 

Lieber Iwanowitsch,
gestern abend erhielt ich Nachricht von den Beschlüssen des Senats und von meinem moralischen Sieg aus Petersburg. Der Senat hat einstimmig erklärt, die Anschuldigungen seien grundlos… das macht mich sehr froh, trotz der Betäubung, die mich angesichts solch bösartiger und in die Länge gezogener Verfolgung durch Verwaltung und Zeitungsreporter befallen hat. Irgendwie muß ich, für mich völlig unerwartet, Gegenstand von Arglist und Verleumdung geworden sein… Sie haben an meiner Unschuld nie gezweifelt
6

Die Affäre hätte hier zu Ende sein können. Doch Anfang 1910 ordnete der Kustos des Museums eine neue Bestandsaufnahme an, die auf die Denunziation zweier Angestellter des Museums zurückging. Im März wies der Senat abermals alle Anschuldigungen gegen Zwetajew zurück, doch Schurow schickte einen bösartigen Bericht an den Senat, und im Mai berichteten die Zeitungen wiederum über den Skandal. Warum Ellis genau diesen Zeitpunkt wählte, um aus mehreren Büchern, die dem Museum gehörten, Seiten herauszutrennen, ist absolut unklar. Es könnte sich um eine Art Sympathieerklärung für den Anarchismus gehandelt haben, mit dem er ebenso liebäugelte wie Bely, der darin keinen böswilligen Akt gegen die Familie Zwetajew zu sehen vermochte. In seiner Weltfremdheit glaubte Bely, Ellis habe einfach vergessen, welche Bücher ihm und welche dem Museum gehörten. Keines der Bücher war besonders selten oder kostbar. Zwetajew selbst mochte nicht glauben, daß Ellis in verbrecherischer Absicht gehandelt hatte. Indes war die Sache in der Presse inzwischen zu einem cause célèbre geworden, und obwohl man die Anklage gegen Ellis in der Folge mangels ausreichender Beweise fallen ließ, wurde Professor Zwetajew von seinem Amt als Direktor entbunden. Von diesem Schlag erholte er sich nie, wenn er ihn auch mit großer Standhaftigkeit ertrug und weiterhin pflichtbewußt an der Errichtung eines neuen Museums, das er plante, arbeitete. Aber er war ein gebrochener Mann.
Die Begleitumstände der Entlassung ihres Vaters waren für Marina doppelt schmerzlich, weil jemand darin verwickelt war, den sie einmal für einen wichtigen Freund gehalten hatte. Mit Nilender hatte sie bereits jeden Kontakt abgebrochen: Jetzt sollte eine Reise mit ihrem Vater nach Dresden helfen, den Bruch endgültig zu machen. Aber sie dachte weiterhin an ihn, und ihr erstes Gedichtbuch enthält eine Anzahl lyrischer Episteln, die an ihn gerichtet sind, als stünden sie stellvertretend für die wahren Briefe, die zu schreiben ihr verboten worden war.
Marinas Frühreife als Dichterin geht aus dem Abendalbum unmißverständlich hervor: dieser Gedichtband, den sie 1910 auf eigene Kosten veröffentlichte, enthielt viele Gedichte, die sie geschrieben hatte, als sie erst fünfzehn Jahre alt war. Viele davon befassen sich mit dem Tod:

Auf ewig tot zu sein. Rührt’s vielleicht daher,
Daß das Schicksal mich soviel verstehen ließ?
7

Doch die meisten sprechen ein Verlangen nach einer vulkanischen Leidenschaft aus, deren Qualen sie gern erdulden wollte als den „süßesten Schmerz“.
Nach dem Druck trug sie die ganze Auflage in eine Buchhandlung und ließ die Sache auf sich beruhen; trotzdem schickte sie Widmungsexemplare an die Dichter Brjussow und Woloschin, denen sie noch nicht begegnet war. Unter den Dichtern, deren Aufmerksamkeit sie bereits jetzt erregte, war Cumiljow, der Führer der akmeistischen Bewegung in der russischen Dichtung. Er schrieb über sie:

Marina Zwetajewa ist von Natur aus talentiert und originell. Es spielt keine Rolle, daß ihr Buch dem strahlenden Andenken Maria Baschkirzewas gewidmet ist, das Motto von Rostand stammt und das Wort ,Mama‘ fast auf jeder Seite auftaucht – all das verrät nur die Jugend der Dichterin, die durch ihre eigenen Bekenntnisse bestätigt wird. In diesem Buch ist vieles neu: die kühne (manchmal exzessive) Intimität des Tons; die Themen, wie zum Beispiel, die kindliche Verliebtheit; die spontane unreflektierte Bewunderung der Dinge des Alltags. Und wie zu erwarten war, sind hier die wichtigsten Gesetze der Dichtkunst instinktiv erraten worden, so daß dieses Buch nicht nur das reizende Zeugnis eines mädchenhaften Bekenntnisses, sondern auch ein vorzüglicher Gedichtband ist.8

Von diesem Augenblick an muß Marina gewußt haben, daß sie sich, wer immer es ihr auch bestreiten mochte, unerschrocken unter die Dichter einreihen konnte.
Ihr Heranwachsen vollzog sich weiterhin ungehemmt auf ungestüme Weise, nur einmal kurz durch die Aussicht auf eine neuerliche Heirat ihres Vaters bedroht. Zwetajew glaubte irrtümlicherweise, die Kinder bräuchten eine Mutter, die sich um sie kümmere, doch auf Druck Ilowajskis ließ er von dem Vorhaben ab, und die Familie blieb wie sie war.
Marinas literarischer Bekanntenkreis begann sich zu erweitern. Max Woloschin, einer der schwärmerischsten Kritiker ihres ersten Buches, wurde bald ihr Freund. Er leitete ihre Beziehung ein, indem er Marina einfach zu Hause aufsuchte: er trug einen Zylinder, und sein großes Gesicht wurde von einem kurzen gekräuselten Bart umrahmt. Sie hatte seine Besprechung über das Abendalbum noch nicht gelesen, und er kam, um sie ihr selbst zu bringen. Marina nahm das uneingeschränkte Lob mit scheinbarer Gelassenheit entgegen. Woloschin zeigte sich erstaunt, als er erkannte, daß sie eine Schuluniform trug, worauf Marina ihm erklärte, offiziell besuche sie immer noch die Schule, tue aber nichts anderes als Gedichte zu schreiben. Sie zeigte keine Scheu. Woloschin sah, daß sie eine Kappe trug, um ihren kahlen Kopf zu verbergen, und bat um die Erlaubnis, sie abzunehmen, damit er die Form ihrer Schädelhöcker befühlen könne. Marina willigte ohne Zimperlichkeit sofort ein. Woloschin untersuchte sie sorgfältig und erklärte, ihr Schädel gleiche dem eines römischen Seminaristen. Die Kahlköpfigkeit war versehentlich zustandegekommen. In diesem Sommer war sie für ein paar Tage in Moskau zurückgeblieben, während die Familie nach Tarussa fuhr. Um eine vollere Haarpracht zu erreichen, hatte sie sich eine Flüssigkeit in die Haare massiert, die, ohne daß sie es wußte, Wasserstoffsuperoxyd enthielt. Das Ergebnis war kein üppiger Haarwuchs, sondern hellgelb gefärbte Haare.
Um diese Entstellung zu beseitigen, hatte sie zum äußersten Mittel gegriffen.
Sie und Woloschin gingen in das alte Kinderzimmer hinauf, ein Raum von der Größe einer Schiffskabine mit einer Tapete, die goldene Sterne auf rotem Grund zeigte. Woloschin zwängte seinen massigen Körper in den Raum und betrachtete Marinas Idole, besonders die Bilder von Napoleon. Er musterte die schmale Couch, die von einem Schreibtisch eingeengt wurde. Dann begannen die beiden, fast als Ebenbürtige, über das Schreiben zu reden; über die Bücher, die sie noch lesen sollte und über die, die sie am meisten bewunderte. Woloschin war über ihre Wissenslücken erstaunt, doch als er ihr am nächsten Tag ein Bücherpaket sandte, empfing Marina es entrüstet, weil sich ein Werk von Henri de Regnier darunter befand, das sie für anstößig hielt. Woloschin war nicht sonderlich zerknirscht. Er war es auch, der Marina mit den Memoiren von Casanova bekannt machte, und zumindest diese fand sie ungemein fesselnd. Sie las sie in Französisch, und die leidenschaftliche Vielseitigkeit von Casanovas Charakter versetzte sie rasch in Entzücken.
Woloschin wußte genau, wie er das junge Mädchen behandeln mußte. Er hatte ein besonderes Talent, Frauen, die zu Dichterinnen geboren waren, aus der Reserve zu locken. Außerdem war er jenen gegenüber besonders freundlich, die die „unschönen Günstlinge der Götter“ waren. Viel später noch erinnerte sich Marina daran, daß niemand die Gedichte ihrer Reifezeit mit solcher verehrenden Sorgfalt betrachtet habe, wie sie der sechsunddreißigjährige Woloschin ihren frühen Versen hatte zuteil werden lassen.
Bald wurde Marina zu literarischen Abenden eingeladen, wo sie unter anderen Adamowitsch und Chodassewitsch begegnete. Unter Dichtern und Schriftstellern wurde die talentierte Dichterin rasch berühmt, und durch Woloschin wurde sie in den Mussagetes eingeführt (eine Mischung aus literarischem Salon und Verlag); bald lud man sie ein, öffentlich zu lesen. Mit dem erwachenden Interesse für das andere Geschlecht waren sich Marina und ihre Schwester Anastassja nähergekommen. Marina vertraute Assja nicht nur, sondern erfuhr durch sie auch Unterstützung ihrer dichterischen Arbeiten. Deswegen bat sie Assja, mit ihr gemeinsam zu rezitieren. Die beiden traten in ihren Schuluniformen auf und lasen nebeneinanderstehend, wobei sie so intonierten, daß jedes Heben und Senken der Stimmen so verschmolz, als sprächen sie mit einer. Marina hatte ihr noch nicht geschnittenes Haar zurückgebunden, um die Stirn zu entblößen, während Assjas dickes Haar ihr bis auf die Schultern fiel. Sie rezitierten nicht, sondern nutzten den natürlichen Rhythmus der Stimme und vermieden jedes Pathos. Als sie geendet hatten, war ein Augenblick Stille, und dann brach der ganze Saal in Beifall aus, obwohl Applaus eigentlich verpönt war. Die beiden Mädchen standen verwirrt da und verbeugten sich linkisch. An dieses Erlebnis erinnerte sich Anastassja Jahrzehnte später mit Stolz und sah darin einen Höhepunkt, der die Richtung der Entwicklung ihres eigenen Talents bestimmte. 

*

Im Herbst des gleichen Jahres verließ Marina ihr Zimmer mit dem Sternenplafond im Zwischengeschoß und bezog das ehemalige Mädchenzimmer im Parterre. (Später wurde es eine Vorratskammer.) Sie schlief nun dicht neben dem kleinen Tisch, auf dem in ihrer Kindheit ein Paraffin-Öfchen gestanden hatte, auf dem in einer blau-weiß gestreiften Kasserolle die Milch für die Kinder gewärmt wurde. Ihr neuer Raum war quadratisch, mit einer niedrigen Decke. Sie schmückte ihn mit Zimmerpflanzen (besonders üppig blühenden, wie Begonien) und hielt sich eine Katze. Sie erwarb auch ein Grammophon, aus dessen uraltem Trichter die Serenaden Schuberts, die Musik Glinkas und alle Melodien ertönten, die ihr die Mutter und die Kindheit wieder ins Gedächtnis riefen.
Marina war auf Abenteuer aus, und als Woloschin ihr begeistert von seiner Datscha in Koktebel auf der Krim erzählte, wo er und seine Mutter Pra ein offenes Haus führten, beschloß sie, seine Gastfreundschaft in Anspruch zu nehmen. Obgleich sie noch nicht älter als achtzehn Jahre war, gelang es ihr, den Vater zu überreden, sie vor dem Ende des Schuljahres auf die Krim reisen zu lassen und außerdem seine Einwilligung für einen Besuch in Koktebel zu bekommen. Inzwischen war auch Assjas Leben aufregend geworden: beim Schlittschuhlaufen war sie dem Mann begegnet, den sie später heiraten sollte: Boris Truchatschow. Marinas Programm für die Reise wurde immer umfangreicher – zum Beispiel wünschte sie Puschkins Gursuf zu besuchen – so, als wolle sie ihr ganzes russisches Erbe auf einmal in sich aufnehmen.
Aus Gursuf schrieb Marina an ihre Familie über den Zauber des Alleinseins, über Spaziergänge im Mondschein und über die Freude, am Meer zu sein. Sie erwähnte auch einen Tartarenjungen, der ihr so zugetan war, daß er ihr überallhin folgte, aber so, wie sie darüber schrieb, ließ sie keinen Zweifel darüber, daß ihr Herz davon unberührt blieb.
Nach einem Monat der Einsamkeit auf den Ruinen einer Festung kam Marina am 5. Mai 1911 in Koktebel an. Woloschins Mutter, eine bemerkenswerte Frau, die ihr graues Haar zurückgebunden trug, um ihr Adlerprofil zu betonen, empfing Marina in einem langen weißen, mit Blau und Silber bestickten Kaftan. Ihr Kosename „Pra“ war von „Pramater“ abgeleitet, was „Mutter dieser Gefilde“ bedeutete. In der Tat stand Pra in Koktebel einer matriarchalischen Gemeinschaft vor. Das einsam gelegene Haus, das einzige an diesem Stück der Schwarzmeerküste, war von einer kimmerischen Landschaft umgeben, die man von alters her für die Heimat der Amazonen hielt. Max, der Freude an Mythen hatte, ersann selber viele über die Landschaft, die Grotten und die Küste in der Umgebung seines Hauses. Er hielt auch Hunde; einige davon gehörten der Rasse der Krim-Schäferhunde an und ähnelten riesigen Wölfen. Doch in erster Linie war Koktebel wegen seiner ungezwungenen Freundlichkeit und Gastfreundschaft berühmt, die Max mit Freuden besonders jungen Schriftstellern gewährte, und dort, in Woloschins Datscha in Koktebel, traf Marina den Mann, der ihr Gatte werden sollte.
Marina war achtzehn und Sergej Jakowlewitsch Efron siebzehn Jahre alt, als sie sich zum ersten Mal an einem einsamen Strand in der Nähe von Koktebel begegneten, das Geräusch des Meeres in ihren Ohren. Der Strand war voll von kleinen Bergkristallen; Marina war dabei, einige besonders schöne Steine zu sammeln, und Sergej begann ihr zu helfen. Er war ein ausnehmend schlanker Junge, weniger hübsch als von einer traurigen und sanften Schönheit, mit erstaunlich großen Augen. Marina spürte sofort, wie ungeheuer groß sein Verlangen war, geliebt zu werden. Mit jäher, verwegener Entschiedenheit (an die sie sich oft erinnerte) sagte Marina voraus:

Wenn dieser Junge eine Karneolperle findet und mir schenkt, werde ich ihn heiraten.9

Er fand die Perle auf der Stelle.
Sergej, sechstes von neun Kindern, entstammte einer außergewöhnlichen Familie. Seine Mutter, Jelisaweta Petrowna Durnowo, kam aus einem alten Adelsgeschlecht, worauf Marina später stolz war. Jelisaweta war die einzige Tochter eines Armeeoffiziers, der Adjutant von Zar Nikolaus I. gewesen war. Ihr Gatte Jakow Konstantinowitsch Efron stammte aus einer weitverzweigten literarischen Moskauer Familie jüdischer Herkunft, die einige Rabbiner hervorgebracht hatte. Sergejs Vater war Student an der Moskauer Technischen Hochschule gewesen, und nur die Politik hatte ihn und Sergejs Mutter zusammengeführt. Sie gehörten beide einer revolutionären Partei an (seit 1879), die eine gerechtere Neuverteilung des Grundbesitzes zum Ziel hatte. Sergejs Mutter war zu der Zeit ein schönes, schwarzhaariges Mädchen, das bei revolutionären Treffen im Ballkleid und mit Samtcape erschien. Aber wie aristokratisch ihre Erscheinung auch sein mochte, ihre politischen Ansichten waren radikal und standen unter dem Einfluß von Kropotkin, und sie war Mitglied der Ersten Internationale. Überdies war sie außerordentlich mutig. In der Anfangszeit ihrer Freundschaft führten Jakow und Jelisaweta zahlreiche terroristische Aktionen durch. Zum Beispiel hatte Jakow, zusammen mit zwei anderen, am 26. Februar 1879 den Polizeispitzel Reinstein umgebracht – dem es gelungen war, sich in ihre Moskauer Organisation einzuschleichen –, bevor er als agent provocateur enttarnt wurde. Der Verantwortliche für den Mord an Reinstein wurde nicht entdeckt, doch im Juli 1880 wurde Jelisaweta wegen der Verarbeitung von illegalem Material verhaftet und in die berüchtigte Peter-Pauls-Festung in St. Petersburg gebracht.
Sie hatte mehr Glück, als zu erwarten war. Obwohl ihr Vater (ein unerschütterlicher Monarchist) darüber entsetzt war, daß seine Tochter anarchistische Neigungen hatte, verfügte er doch über weitreichende Verbindungen und konnte ihr die Flucht ins Ausland ermöglichen; Jakow folgte ihr. Dort heirateten sie und verbrachten sieben Jahre im Exil, in denen ihre ersten drei Kinder geboren wurden.
Als die Efrons nach Rußland zurückkehrten, stellten sie fest, daß die meisten ihrer Freunde im Gefängnis saßen oder deportiert worden waren. Jakow selbst wußte, daß er unter ständiger Polizeiüberwachung stand. Er hatte nur die Möglichkeit, als Versicherungsagent zu arbeiten, eine Tätigkeit, die ihm weder Freude machte, noch Aussichten bot, und die geringe Entlohung reichte kaum, seine große und ständig wachsende Familie zu unterhalten. Jelisawetas Eltern, die wohlhabend waren, hätten leicht helfen können, doch sie mißbilligten das Leben ihrer Tochter ganz entschieden. Da Jelisaweta das wußte, verbot ihr Stolz es ihr, sie um Hilfe zu bitten, und die Efrons schlugen sich allein durch.
Das alltägliche Elend der Familie Efron wurde noch vergrößert, als sie drei der jüngsten Kinder durch Krankheit verlor. Hirnhautentzündung und erbliche Herzschäden waren die Ursachen. Ihr Familienleben war harmonisch und liebevoll; ihre idealistischen Ziele gaben sie nie auf. Ende der 9oer Jahre nahm Jelisaweta Kontakt zu einigen ihrer alten Gefährten auf und begann abermals beim Drucken von Flugblättern zu helfen, sie beteiligte sich an der Herstellung von Sprengstoffen und versteckte sogar Waffen.
Einige der älteren Kinder beteiligten sich ebenfalls an diesen Aktionen. Auf Photographien aus dieser Zeit wirkt Jelisawetas Gesicht grau und müde. Obgleich die Härten des Lebens, denen sie ausgesetzt gewesen war, sie nicht zerbrochen hatten, war ihre schmale hohe Stirn nicht mehr glatt und in den Mundwinkeln nisteten Falten. Ihre bescheidenen Kleider waren zu weit geworden und der Glanz aus den Tagen der Ballkleider und Capes war einer augelaugten Zähigkeit gewichen. Auf einer Photographie, die das Ehepaar Efron zeigt, erkennt man bei Jakow Züge, die auch Sergejs Gesicht prägten. Jakows Gesicht ist schlicht, offen, schutzlos und er hat sehr helle, klare Augen. Er und seine Frau sind umringt von ihren Kindern, von denen viele in späteren Jahren die revolutionäre Tätigkeit gegen den Zaren fortsetzen sollten.
Jelisawetas revolutionäre Aktivitäten erreichten in der Revolution von 1905 ihren Höhepunkt. In diesem Jahr wurde die Familie durch Zwangsmaßnahmen der Polizei zerstört. Jelisaweta kam mit der Bedrohung, zur Zwangsarbeit verurteilt zu werden, in das Butyrkij-Gefängnis, doch Jakow gelang es, ihre Freilassung zu erwirken, indem er als Kaution eine riesige Geldsumme hinterlegte, die er mit der Hilfe seiner Freunde zusammengebracht hatte. So konnte er seine Frau ins Ausland bringen; sie war krank und erschöpft und sollte Rußland nie mehr wiedersehen. Beide starben im Exil, zuerst Jakow, und als kurz darauf sein jüngster Sohn, der ihnen ins Exil gefolgt war, erkrankte und starb, verließ auch Jelisaweta der Lebensmut. Am folgenden Tag beging sie Selbstmord.
Sergej war 1905 erst zwölf Jahre alt. Er nahm keinen direkten Anteil an der Revolution, wahrscheinlich machte er sie für die Zerstörung seiner Familie verantwortlich. Als seine Eltern Rußland verlassen mußten, verlor seine ganze Existenz ihren Mittelpunkt. Sein Zuhause war verloren. Noch als Knabe erkrankte er zum ersten Mal an Tuberkulose, und die Krankheit sollte ihn sein Leben lang begleiten. Seine Krankheit und seine Sehnsucht nach der Mutter, von der er glaubte, daß sie ihn im Stich gelassen habe, lösten in ihm eine solche Bitterkeit und Qual aus, daß seine Familie es für klüger hielt, die Tatsache, daß seine Mutter tot war, vor ihm zu verbergen – eine irrige Ansicht, wenn auch eine verständliche. Als Sergej schließlich die Wahrheit entdeckte, konnte er nicht mehr um sie trauern.
Das war Sergejs tragische Geschichte. Auch er hielt sich für einen Schriftsteller und hatte unter den Dichtern in Moskau und St. Petersburg viele Freunde. Trotz seiner dauernden Schwermut gehörte er zu der Gruppe junger Leute, die regelmäßig nach Koktebel kamen. Doch erst in Marina fand er einen Menschen, der imstande war, ihn von dem einsamen Elend zu erlösen, das ihn seit seinen frühen Jahren erfüllt hatte… und sie genoß ihre Rolle als Retterin.
Während des Herbstes 1911 führten die beiden ein sonderbares, kindliches, verspieltes Leben, obgleich sich Marina sehr bald als Sergejs Verlobte ansah. Als Anastassja auf die Krim reiste, um ihre Schwester in Woloschins Datscha aufzusuchen, führten Marina und Sergej sie auf sorgfältig geplante Weise hinters Licht, und alle Gäste Woloschins spielten mit. Marina war nicht nur Teil der Gruppe, sondern eines ihrer dominierenden Mitglieder geworden, und sie kleidete und benahm sich jetzt auch ganz anders als in Moskau. Sie sah wie ein Junge aus. Ihr Haar war dicht gekräuselt und hatte von der Sonne einen goldenen Glanz; ihr Gesicht, ihr Nacken und die bloßen Waden waren fast schwarz. In Moskau hatte Marina hohe Absätze getragen, doch auf der Krim trug sie Sandalen und weite jungenhafte Pumphosen. Sie sah jünger und viel ungezwungener aus als Assja, die sorgfältig gekleidet aus Moskau angekommen war und einen passenden Reisemantel und einen breitkrempigen Strohhut trug. Vielleicht war es dieser Gegensatz, der Marina in Versuchung führte, doch der Streich, den sie ihr spielte, war unfreundlich und töricht. Er beruhte darauf, daß man kunstreiche neue Identitäten für die anderen Gäste erfand, von denen einer so tat, als sei er schwachsinnig, und ein anderer sich als taub und stumm ausgab. Marina täuschte vor, Sergej lächerlich zu finden. Später war Assja sehr aufgebracht, daß sie sich dazu hergegeben hatte, dabei mitzuwirken, sich über den unbekannten jungen Mann lustig zu machen; und als sie am nächsten Morgen Marina und Sergej dicht beieinander beim Frühstück sitzend fand, so sehr voneinander in Anspruch genommen, daß sie ihr Eintreten kaum bemerkten, war sie überaus peinlich berührt. Ihr Stolz hielt sie davon ab, ihren Schock zu zeigen, doch sie empfand es als grausam, daß alle ihr einen solchen Streich gespielt hatten. Viel später merkte sie, daß das einzige, was an diesem Spiel stimmte, die Beschreibung von Sergejs Aussehen war – zwar hübsch, aber ein wenig einfältig.
An diesem Abend vertraute Marina ihrer Schwester an, daß sie in eben diesen Sergej verliebt sei, und daß er ihr wegen der Tragödie seines Lebens um so teurer sei. Weil er, nachdem er vom Selbstmord seiner Mutter erfahren hatte, nur um Haaresbreite dem Tod entgangen sei, wolle sie ihn nun für immer lieben und beschützen. Besonders liebe sie seine körperliche Zartheit. Indessen blieb Marina, obwohl sie zu dieser Zeit durch und durch glücklich war, eigensinnig und quälerisch; so forderte sie ihre Schwester auf, die Liebe, die sie für Boris empfinde, mit der ihren zu Sergej zu vergleichen. Anastassjas Antwort war steif und kühl, sie machte sich Sorgen, denn Boris, der versprochen hatte, auf die Krim zu kommen, war noch nicht eingetroffen.
Wie allen anderen, blieb auch Anastassja Sergej Efrons Charme nicht verborgen. Alle Russen lieben Kosenamen, doch nur wenige Leute verkürzten Marinas Namen, nachdem sie erwachsen war. Sergej jedoch kannte jedermann als Serjoscha, eine Verkleinerungsform, die ihn sein Leben lang begleitete. Sie war ein Teil seiner ewigen Jungenhaftigkeit.
Serjoscha und Boris begegneten einander zum ersten Mal auf dem Bahnhof von Koktebel, als Anastassja und Boris kamen, um sich von Marina und Serjoscha zu verabschieden, die vor ihnen nach Moskau zurückkehrten. Die vier jungen Leute standen auf dem Bahnsteig, betrachteten die Wolken über der Stadt und warteten auf den Zug. Die beiden Jungen waren etwa gleichaltrig. Die Schwestern sprachen über ihren Vater, der krank war, und dem die Ärzte eine Kur in Bad Nauheim verordnet hatten. Er wollte nur ungern gehen, weil das neue Museum noch nicht fertiggestellt war. Schließlich schüttelten die beiden jungen Paare sich die Hände, anstatt sich zu küssen, und Marina und Serjoscha fuhren zum Haus an der Drei-Teiche-Straße.
Im Juli reisten Marina und Serjoscha zusammen in den Ural; als sie nach Hause zurückkehrten, war Marinas Vater abgereist, und sie bezogen zusammen das Haus der Familie. Später zogen sie zu Serjoschas Schwestern.
Marinas Heirat im Januar 1912 dürfte ihrem Vater kaum behagt haben. Sie war erst neunzehn, und Serjoschas Familiengeschichte gab Anlaß zur Besorgnis. Ganz abgesehen vom Antisemitismus der Ilowajskij-Familie, wären auf der Durnowo-Seite, falls Professor Zwetajew sich für eine große Hochzeit entschieden hätte, eine Gefängnisstrafe und ein Selbstmord geheimzuhalten gewesen. Dementsprechend wurde die Hochzeit in aller Stille gefeiert. Anschließend fuhren die Neuvermählten nach Sizilien und machten auch einen kurzen Abstecher nach Paris, bevor sie nach Moskau zurückkehrten, um ihren eigenen Hausstand zu gründen.

(…)

Elaine Feinstein, aus Elaine Feinstein: Marina Zwetajewa. Eine Biographie, Frankfurter Verlagsanstalt, 1990

 

 

AN MARINA ZWETAJEWA

Jetzt bin ich kein schüchterner Junge mehr.
Erwarte dich nicht an der Twerskaja klopfenden Herzens,
Dich ungeschickt dort zu umarmen. Auch trägst du nicht mehr
Dein knitterndes Gymnasiastinnenkleid.

Erster Mai neunzehn: Moskau geschmückt mit kubistischen Pferden.
Und Tatlins Plakaten. Wir drängen entgegen dem Strom der Marschierer
Zurück an das Grab unsrer Kindheit.

Und immerfort rempeln wir arglos-erschrockne Passanten.
Wie traurig das ist: Gleich dem Kutscher im Regen,
Die eigene Seele zuschanden zu hetzen…

Andreas Kárpáti

 

 

Hans Gellhardt: Achmatowa – Pasternak – Zwetajewa

 

Zwiesprachen VI: Katharina Schultens spricht über Marina Zwetajewa am 24.1.2016 im Lyrik Kabinett, München

 

 

Katharina Kohm: Die Begegnung an der Naht. Zu der Vortragsreihe Zwiesprachen VI: Katharina Schultens über Marina Zwetajewa am 25.1.2016 im Lyrik Kabinett
signaturen-magazin.de

Zum 70. Todestag der Autorin:

Bettina Wöhrmann: Der Granatapfelkern Persephones
Ostragehege, Heft 64, 2011

Zum 75. Todestag der Autorin:

Doris Liebermann: Vor 75 Jahren – Dichterin Marina Zwetajewa gestorben
Deutschlandfunk Kultur, 31.8.2016

Fakten und Vermutungen zur Autorin + NachlassInternet Archive +
Kalliope

 

1. Erlanger Literaturpreis für Poesie als Übersetzung 2005 an Felix Philipp Ingold.

 

Jan Kuhlbrodt: Versuch über Ingold
poetenladen.de, 28.10.2012

Jan Kuhlbrodt: Vom Abtragen der Monumente oder das Wesen der Chronologie

Zum 70. Geburtstag des Herausgebers:

Ulrich M. Schmidt: Das Leben als Werk
Neue Zürcher Zeitung, 25.7.2012

Zum 80. Geburtstag des Herausgebers:

Magnus Wieland: Der Autor, der die Autorschaft hinterfragt
Berner Zeitung, 25.7.2022

Fakten und Vermutungen zum Herausgeber + PreisKLG +
Kalliope + Viceversa + Forschungsplattform + slavistik-portal
Porträtgalerie: Autorenarchiv Isolde Ohlbaum + Keystone-SDA +
deutsche FOTOTHEK
shi 詩 yan 言 kou 口

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00