Nicolas Born: Wo mir der Kopf steht (CD)

Mashup von Juliane Duda zu der CD von Nicolas Born: Wo mir der Kopf steht (CD)

Born-Wo mir der Kopf steht (CD)

 

 

 

 

 

 

 

 

LYRIK im Raum, aus dem OFF

Auf einer langen Autofahrt spiele ich die CDs ab: Wo mir der Kopf steht. Schalldicht abgeschottet gegen den Verkehrsstrom höre ich zu: Nicolas Born spricht aus dem Off, ein Vierteljahrhundert nach seinem frühen Tod, seine schönsten Gedichte, die ich zum Teil nicht kannte, aber ich kenne seine Stimme, sie klingt wie damals, der O-Ton ist stärker als seine preisgekrönte Gedichte es im Lyrikband sein könnten, lebendiger als die Interpretation durch einen hervorragenden Sprecher, Sylvester Groth, mit hellerer Stimme und rascherem Vortrag.
Welch ein klangvolles Hörbuch im Gestrüpp der Hör-CDs, die Gedichte sind traurig und fröhlich, frech und vertraut, skeptisch, politisch, zuversichtlich und „unpolitisch“, diese leidenschaftliche Lyrik aus einer anderen Zeit für uns alle jetzt!
Sein früher Erfolg scheint sich zu wiederholen, die Lyrik von Nicolas Born ist im Raum, wenn seine Tochter Katharina mit seinen Gedichten Konzertsäle füllt.

 

Schreyahner Nachtigallen 

Vor einiger Zeit wohnten wir ein Jahr im hannoverschen Wendland, einer spröden Gegend, einer der schönsten Gegenden in Deutschland, wenn auch nicht lieblich, sondern windig, flach und ohne besondere, optisch markante Punkte, abgesehen vom Höhbeck, der einzigen Erhebung. Die Kinder und Säuglinge sollen dort im 19. und auch noch im 20. Jahrhundert niederprozentiges Bier statt Wasser bekommen haben, weil das Wasser zu schlecht und voller Keime war. Viele behaupten, das habe auf den Landstrich abgefärbt. (Es wird noch heute viel dort getrunken.) Man sprach hier früher etwas, was niemand verstand außer den Sprechern, das so genannte Dravänopolabische. Das ist heute alles ausgestorben. Von der Kuriosität des Klanges jener Wenden aus dem Wendland zeugen noch die Ortsnamen, von Waddeweitz bis Reddebeitz, von Meuchefitz bis Satemin. Oder man geht ins Museum nach Lübeln, dort kann man vom Band die Rekonstruktion eines dravänopolabischen Vaterunser hören. Eine Sprache, von der nichts übrig geblieben ist als ein Gebet!
Der Ort, in dem wir wohnten, war typisch für die Gegend und hieß Schreyahn. Das ist ein Rundlingsdorf im Landkreis Lüchow-Dannenberg. Ein Rundling ist eine ehemalige Siedlungsform der Wenden, jahrhundertealt. Eine Handvoll Häuser wird um einen runden Platz herum gebaut, die Häuser stehen mit ihren Scheunentoren zum Mittelplatz hin. Dieser runde, freigelassene Platz heißt „Dorf“. Man geht aufs Dorf heißt: Man geht die 80 Schritte hinaus auf diesen Platz. Dort findet das soziale Leben der Dorfbewohner statt, wobei der Ausdruck „soziales Leben“ irgendwie unpassend ist, denn das „soziale Leben“ der Schreyahner ist viel älter als der Ausdruck selbst. Nennen wir es einfach: Leben. Im Sommer sitzen sie am alten Milchtisch unter den Eichen und trinken Bier und essen Würstchen. Erst mit der Zeit merkt man, wie wichtig ihnen das ist, da zu sitzen, Bier zu trinken und Würstchen zu essen. Das heißt, den Männern. Die Frauen können es mitunter nicht leiden, dass die Männer aufs Dorf gehen. Zu Hause schreien die Kinder, aber die Männer müssen aufs Dorf! Müssen es mähen, müssen die Zäune streichen, müssen die Straße fegen, das Laub zusammenklauben, müssen auf die Dorfversammlung (beim Milchtisch), müssen zum Frühschoppen. Oder müssen den Rasenmäher reparieren (Keilriemen kaputt), oder müssen nochmal zum Nachbarn. Oder müssen heute unbedingt noch ein Fass aufmachen.
Mit der Zeit haben wir Schreyahner Sprachkunde gelernt: „Ich habe mit dem noch ein Fass aufzumachen“ heißt: Man hat mit ihm noch was zu regeln. „Das ist ein anderer Schnack“ heißt: Das ist ein anderes Thema. Zur Begrüßung oder beim ersten Anstoßen sagt man: „Vertragen wir uns wieder.“ Die Antwort lautet: „War nicht so gemeint.“ Der Nachsatz: „Aber der alte Groll bleibt dennoch.“
Platt sprechen nicht mehr viele. Ulrich Teehand, halber Landwirt und in Uelzen bei einer Genossenschaft als Automechaniker beschäftigt, spricht noch platt, wenn er will, nur mit wem? Oder Herwald Schulze, der vorvormalige Dorfsprecher, ein Mann mit Hut, Sakko und blauer Schürze. Gepflegt wird das Platt nicht. Das mag mancher schade finden. Aber wenn eine Sache „gepflegt“ wird, ist es ohnehin mit ihr vorbei, das ist der Beginn des natürlichen Todes. Übrigens hat man im Wendland andere Sorgen.
Früher wurde meist noch eine Klapptheke mit Zapfanlage aus der Diele des Dorfsprechers geholt und beim Milchtisch errichtet, aber heute trinkt man meistens Krombacher-Elf-Liter-Fässer mit Schnellzapfanlage und Kühlgürtel. Das Dorf ist sommers voller Nachtigallen. Es ist das Dorf der Nachtigallen.
Vor unserem Fenster stand die Büste eines Mannes, den wir nicht kannten und den wir zunächst für einen Lokalmatador hielten, der Name des Mannes war schön, aber für uns unbekannt (so schnell kann man vergessen werden!). Der Mann hieß Born, wie der Brunnen, zum Beispiel wie der Maienborn, der Erinnerungsbrunnen in Wilhelm Raabes letztem und schönstem Werk Altershausen, auch einem Nachtigallengesang. Born, mit Vornamen Nicolas. Wir kannten ihn, wie gesagt, nicht. Der Mann, den die Büste darstellte, sah alt aus, nicht glücklich, vielmehr sorgenvoll. Dabei war er doch, wie wir heute wissen, ein lebensfroher Mensch gewesen. Aber davon wussten wir nichts, und auch nichts davon, dass der Mann, den die Büste darstellte, Lungenkrebs hatte wie unser Wirt in Wiepersdorf, und dass die Büste ihn vielleicht sogar in seinen letzten Monaten darstellte, als er unter anderem noch seinen letzten Urlaub im Leben machte, mit Günter Grass im Norden, der dann wenige Monate später einige Totenworte auf seinen Freund sprach auf dem Kirchhof von Damnatz, wo er heute liegt, Nicolas Born.
Schreyahn ist Sitz der Nicolas-Born-Stiftung. Wir begannen ihn zu lesen. Damals wanderten wir viel und waren mit einem Essay über unser „Verhältnis zur Natur“ beauftragt. Wir beobachteten Vögel, führten ein Blumentagebuch, und immer kamen wir an Born vorbei. Wir hatten damals zwei „Kategorien“ entwickelt, die erste nannten wir Blütenkategorie, die zweite hatte kein Wort für sich, sie zielte auf den menschlichen Handel und Verkehr und unsere ständige Veränderung der Welt.
Auch Nicolas Born war ein Spaziergänger. Mit ihm kann man durchs Elbholz gehen. Das Elbholz ist ein Gebiet in der Nähe des erwähnten Höhbeck, in Lüchow-Dannenberg. Nicolas Born hat dem Elbholz eines der schönsten Gedichte in unserer Sprache gewidmet (von dem wir bis dahin ein Leben lang nichts wussten), „Ein paar Notizen aus dem Elbholz“ heißt es in der Born eigenen Lakonie. Geschildert wird nichts weiter als ein Gang durch das Elbholz, ähnlich den Gängen in unserem Blumenbuch, aber unsere Notizen waren bloße Notizen, und Borns Gedicht „Ein paar Notizen aus dem Elbholz“ ist ein Gedicht, ein Gesang aus Worten.

Hier bin ich, wo die gestanzten Horizonte
nicht sind
(…)

Im Elbholz, überhaupt im Wendland, wo Born hinging, als hätte er dort Ruhe und die Abwesenheit menschlichen Handels finden können. Mit den gestanzten Horizonten meinte er vielleicht die Stadtsilhouetten seiner Herkunft im Ruhrgebiet. Dafür ging er ins Wendland, und kaum war er da, kam Gorleben, und heute sind die gestanzten Horizonte immer noch nicht da, aber wir sind da, unsere strahlenden Stoffe, mit denen nichts mehr so ist, wie es vorher war, auch nicht das Elbholz, für die nächsten hunderttausend Jahre nicht. 


Augenblicklich nach dem Wiederlesen
der Idyllen von Geßner rausgefahren
Auto in den Graben bei den wurzelnden Füßen
des Höhbecks und ins Elbholz gegangen
für fünf sechs Stunden wie auch die folgenden Tage
Ende November 77

So beginnt das Gedicht. Es handelt von Eichen, von Schilf, von Schauern, „Die jungen Birken halten immer noch das Laub“, von den Seelen der Bäume, der Entengrütze an den Stiefelschäften. Man kann noch heute, Jahrzehnte danach, alles wiederfinden, wovon Born schrieb, auch die drei am Deich knienden Häuser sind noch da. Man kann, mit dem Gedicht in der Hand, wie Born durch das Elbholz gehen und dasselbe sehen, mit seinen Augen, als eine große Bewahrung. Nicolas Born hat den Dingen ihr Sein gelassen und in seiner Sprache für uns aufgehoben. Borns Gedicht ist das Gegenteil von Vernichtung. Man müsste Borns Gedicht „Ein paar Notizen aus dem Elbholz“ schildern wie einen Vogelgesang. Es ist tatsächlich eine Ähnlichkeit da, mehr als das. Dieses Gefühl haben wir oft bei Werken, die uns nahe sind. Es sind Gesänge ,ohne Warum‘. Vielleicht machen wir zwischen Nachtigallen und Zaunkönigen und Rotkehlchen und ihrem Gesang und Raabe und Born und anderen keinen so großen Unterschied wie zwischen, sagen wir, den Büchern Raabes und einer bundesdeutschen Autobahn.
Alles oben Genannte gehört zu den Menschen und Dingen (unseretwegen „der Natur“), insofern sie sind, singen, blühen, leben, welken und sterben und die Welt sein lassen, sie vielleicht nur ansingen. Das ist die Blütenkategorie. In die zweite Kategorie gehören die Menschen, insofern sie handeln und ihre Taten rechtfertigen wollen, ihren Handel, ihren Verkehr, ihr Wachsen. Damals wurde uns klar, dass es das war, was wir bei unseren Spaziergängen suchten: die Abwesenheit von uns. Von uns als Kategorie zwei. Vielleicht suchten wir überhaupt in den Dingen, im Ehrenpreis, im Zaunkönig, in Raabes Romanen oder in Borns Gedicht „Ein paar Notizen aus dem Elbholz“ genau das: die Abwesenheit von uns, insofern wir die Welt verändern mit unseren Gründen und unserem Warum. 

Kein Mensch könnte das in Unordnung halten
dies klare Durcheinander des Wachsenden
übereinander Hergefallenen
. (…)

Vielleicht war das unsere Sehnsucht und ist es bis heute: Dass die Welt ohne unser Handeln sein könnte und trotzdem noch wäre, was aber nicht der Fall ist. Jeder Ehrenpreis ist vielleicht das Gegenteil des Menschen in seinem Tun, sein Gegenbild, ein Bild dessen, wie wir gewesen wären, wenn unser Tun gut und gerecht gewesen wäre. Deshalb ist jeder Spaziergang eigentlich immer das Gegenteil von beschaulich. Jeder Spaziergang, jede Blume darauf ist das Gegenstudium zu unserem Tun (der Kategorie zwei). Vielleicht ist das unser Verhältnis zur „Natur“.

(…)
du gehst als gingst du unter Freunden
du gehst mit tiefen Schritten durch dich selbst

So ging Born durchs Elbholz. Übrigens protestierte er damals zugleich, Ende der 1970er Jahre, gegen eine Wiederaufbereitungsanlage und ein atomares Endlager, kaum wenige Kilometer vom Elbholz entfernt. In seinem Gesang, seinen paar Notizen aus dem Elbholz kommt nichts davon vor. Und zugleich wurde dieses Gedicht vielleicht nur so möglich, wegen der Menschen und ihres Tuns. Letzte Schritte, letzte Gänge, am Rande der Entsorgung. Born selbst beschreibt unsere Kategorie eins, die Blütenkategorie, genau mit dem Vers:

Alles nicht aus Ideen gemacht (…)

Das ist das Ganze eines wilden, ungekauften Ehrenpreises: Nichts an ihm ist aus Ideen gemacht. Er hat kein ,Warum‘, er lässt die Dinge in ihrem Sein.
Dagegen stecken schon in jeder Schnittblume tausende Flugkilometer. Auch im Elbholz sah Born nichts aus Ideen gemacht (aber einige Kilometer weiter!).
Nur einmal treten die Landvermesser ins Gedicht. Auch hier eine seziermäßig genaue Beschreibung, und zwar unserer Kategorie zwei:

(…) In ihrer [der Landvermesser] Optik
ist alles zu schade, um nur dazusein. 

Der letzte Spaziergang geht immer nach Gorleben. Auch Nicolas Born musste nur wenige Kilometer hinüberwandern, um in den Wald der großen Entsorgung zu kommen, den Wald bei Gorleben. Heute steht dort das so genannte zentrale Zwischenlager, eine überirdische Halle, in der die Behälter mit dem Namen „Castor“ für die nächsten Jahrzehnte eingelagert werden, bevor sie vielleicht einmal in den Salzstock, der unter dem Wald liegt, hinuntergelassen werden für die nächsten hunderttausend Jahre. Dahinter liegt die Pilotkonditionierungsanlage, eine Art Umverpackungsanlage zum Öffnen und Umverpacken der strahlenden Stoffe aus den Castor-Behältern. In dem Augenblick, wo sie, diese Anlage, die Arbeit aufnehmen wird, wird sie selbst binnen einem Augenblick zu einem riesigen Haufen verstrahlten Materials werden. Alles ist bewacht wie Armee-Gelände. Einige hundert Meter weiter kommt die riesige Anlage des geplanten Endlagers. Betonwände, patrouillierende Sicherheitswachmänner, Polizisten, Ferngläser, Gewehre, Stacheldraht. Alles aus Ideen gemacht. Hier bewacht sich die Zivilisation vor sich selbst.
Hier geht niemand, als ginge er unter Freunden.
Die Wendländer, denen von ihrer alten Sprache nur noch ein Gebet geblieben ist, wissen das. Im Wendland ist man der Wahrheit näher.

Andreas Maier / Christine Büchner, aus TEXT+KRITIK, Nicolas Born – Heft 170, edition text + kritik, April 2006

 

Ausstellung Unter Tage vom 7.10. bis 18.11.2023 in der Galerie Amalienpark und im Kabinett ZeitMaschine. Eine Erinnerung an Nicolas Born, Lyriker

Zum 50. Geburtstag des Autors:

Friedrich Christian Delius: Einer fehlt, mehr denn je
Literaturmagazin, Heft 21, 1988

Peter Handke: Wenn ich an Nicolas Born denke,…
Literaturmagazin, Heft 21, 1988

Rolf Haufs: Jugend und Weiße Blume
Literaturmagazin, Heft 21, 1988

Reinhard Lettau: Für Essen für Nicolas
Literaturmagazin, Heft 21, 1988

Hans Joachim Schädlich: Nicolas Born
Literaturmagazin, Heft 21, 1988

Zum 80. Geburtstag des Autors:

Ingo Plaschke: Nicolas Born: Der politische Poet, der viel zu früh starb
Neue Rhein/Neue Ruhr Zeitung, 28.12.2017

Hilmar Klute: Eine Welt für alle
Süddeutsche Zeitung, 21.12.2017

Ruth Johanna Benrath: RUNDLING ANERDE, Schreyahn an Damnatz
fixpoetry.com, 31.12.2017

Axel Kahr: „Weh mir“ – Nicolas Borns erste „Hälfte des Lebens“
literaturblatt.de, Januar/Februar 2018

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Nachrufe auf Nicolas Born:

Dieter Wellershoff: Die Fremdheit des Lebens
Literaturmagazin, Heft 21, 1988

Günter Grass: Nicolas Born stirbt…
Günter Grass: Kopfgeburten, 1980

Bernd Jentzsch: Lieber Nicolas
Literaturmagazin, Heft 21, 1988

Günter Kunert: Alle Worte der Trauer…
Literaturmagazin, Heft 21, 1988

Heinrich Maria Ledig-Rowohlt: Worte am Grab
Literaturmagazin, Heft 21, 1988

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