Otto Nebel: UNFEIG. Eine Neun-Runen-Fuge. Zur Unzeit gegeigt

Nebel/Nebel-UNFEIG. Eine Neun-Runen-Fuge. Zur Unzeit gegeigt

G E F E I T   G E G E N   U N F U G

Gittert nie Ruinen ein
nur eure irren Regierungen gittert in neunzig
aaaaaErzgitter
eure Teig-Treter gittert ein
eure Enteigner
entgegnet nie euern Zier-Furzern
entfernt eure Triezer
fertig!

 

 

 

Otto Nebels „Neun-Runen-Fuge“ UNFEIG:

1924/25 in Teildrucken im Sturm erschienen, nun als Compact-Buch, das neben der erstmaligen zeichengetreuen Edition der Endfassung von 1956 eine Lesung durch den Autor und die vier ,Runenfahen‘ umfasst. Die Ausgabe folgt auch in ihrer – eigenwilligen – Gestaltung dem Text des Typoskripts. Das Nachwort der Herausgeber führt in Nebels Runen-Fugen-Poetik ein, die dem anagrammatisch strukturierten Werk zugrundeliegt. Oskar Pastior, selbst ein Meister der Literatur mit Einschränkungsregeln, erweist Otto Nebel mit trutzfinger neunrunenfuge seine Reverenz.

Urs Engeler Editor, Klappentext, 2006

„Ein U / Ein E / Ein I / Ein Enn / Ein Eff /

Ein Ge / Ein Zett / Ein Te / Ein Err / Neun Runen nur / neun nur / nur neun / neun Runen feiern eine freie Fuge nun“: Denkbar einfach scheint Otto Nebels Rezept zu sein, in das er einige wenige auserlesene Zutaten einzuspeisen und so eines der außergewöhnlichsten Gedicht-Gerichte des 20. Jahrhunderts zuzubereiten verstanden hat: die Neun-Runen-Fuge „UNFEIG“. Man nehme neun Buch-Staben, lege sie auf die „Goldwaage der Urdichtung“ und erwäge, ob sie einer „übersinnlichen Zuraunungs-Gruppe von Urgebilden des Wortes als Mitzeuger“ angehören. Sodann füge beziehungsweise fuge man das Ganze auf kleiner Flamme unter stetem lipo- und anagrammatischem Rühren zu einer Schrift-, Sinn-, Bild- und Lautebene umfassenden „harmonikalen Einheit makro- und mikrokosmischen Geschehens“ (Kurt Liebmann). Erstmals seit seiner „Zuraunung“ anno 1923/24 erscheint dieses Werk nun in seiner „druckreifen und endgiltigen“ Gestalt, mit einem Nachwort von Oskar Pastior („eine genial greinende findung … ein feigunfähiges zugefugtes stunden- und sekundenwunder“) sowie einer Lesung durch Nebel selbst auf CD und einer Reproduktion der vier so genannten „Runenfahnen“, die Otto Nebel in den Jahren 1924/25 dem Zyklus als, wie er sagt, „Tanzablauf-Darstellung“ beigegeben hat.

Urs Engeler Editor, Ankündigung, 2006

 

Unfeig. Eine Neun-Runen-Fuge, zur Unzeit gegeigt.

CD Track 1 (0:40)

UNFEIG. EINE NEUN-RUNEN-FUGE ZUR UNZEIT GEGEIGT. EINER ZEIGT EINE NEUN-RUNEN-FUGE.

U E I
N F G
T R Z
Neun Runen nur,
nur neun.
Neun Runen feiern eine freie Fuge nun.

Otto Nebel liest sein berühmtes Gedicht „UNFEIG“ – ein vergessener Dichter, ein vergessenes Werk. Umso größer das Verdienst des Verlags Urs Engeler Editor, der in diesem Frühsommer eine sorgfältige Ausgabe des UNFEIG herausgebracht hat, versehen mit einer Reihe von Beigaben: einem Original-Beitrag von Oskar Pastior, zweifellos ein Seelenverwandter Otto Nebels und vier Faksimiles von visuellen Umsetzungen aus der Hand des Dichters, der auch als Maler hervorgetreten ist. Schönstes Geschenk – die CD mit der kompletten Runen-Fuge in der unschlagbaren Interpretation ihres Schöpfers. Die Aufnahme, eine echte literarische Rarität, besorgte ein früher Pionier der Hörliteratur 1972 in Bern, ein Jahr vor Otto Nebels Tod.

CD Track 22 (0:37)

FREIZÜGIG

(gut gegen Fettnieren)
Einen Zentner reifer Entengrütze in eine Eiertüte tun
in eine reine Enteneier-Tüte tun
fünf feinzertretene Ziegen-Eier
einige Unzen Nierentee
gute, giftgrüne Ziertinte hinzufügen
Tigerfett rin
uff’t Feuer ruff
fertig!
Ein feinet Futter für Ringer.

Wie man hört, war Otto Nebel Berliner. 1892 in der Hauptstadt geboren, absolviert er zunächst ein Hochbau- und Architekturstudium, bevor er über den Schauspielunterricht am Lessing-Theater zur Literatur kommt. Ab 1919 lebt er als Maler und Dichter in Berlin, unterhält Kontakte zum Kreis um Herwarth Waldens Kunstzeitschrift „Der Sturm“, später steht er dem Bauhaus nahe. 1923/24 notiert er seine „Runen-Fuge“, der er den Titel UNFEIG gibt und sie größtenteils im „Sturm“ veröffentlicht. 1933 emigriert Otto Nebel in die Schweiz, für die Nationalsozialisten ist er ein „entarteter Künstler“.
Als er 1956 seine Runen-Fuge abschließend bearbeitete und mit „einweisenden und abschließenden Worten“ über „Sinn, Wert und Tragweite“ des Werks versah, stellte Otto Nebel befriedigt fest, bei ihrem erstem Erscheinen sei die Wirkung „eine wahrhaft erfrischende“ gewesen. Aus nur neun Buchstaben, die der Dichter zu Runen adelte,hatte er die Wörter und Sätze seines großen Gedichts gebaut – um in der Beschränkung die unbeschränkten Möglichkeiten sprachlichen Schöpfertums zu entfalten.

CD Track 21 (0:20)

GEGEN UNTIERE

Zett
zigitt
zett-zett-zigitt
tiri
zigitt-zigitt
turrr
zigitt-zigitt-zigitt
rugu-zigitt
turru
zigitt
Tier.

UNFEIGS gelegentliche Ausflüge in den scheinbaren Nonsens der Lautpoesie dürfen nicht darüber hinweg täuschen, dass Otto Nebel sich als Hoher Priester und Geburtshelfer des sprachlichen Schöpfungsakts verstand. Oberflächliche Nachahmer seiner Kunst drehten sich, wie er verächtlich schrieb, „albern im kleinsten Kreise um Zufälliges“ – während er seine neun Runen, die er „eine tragende Zeugergruppe“ nannte, von der Sprache selbst, durch demütiges Schauen und Lauschen empfangen habe, und keinesfalls „auf dem Schleichwege einer willkürlichen, vernünftlerischäußerlichen Zusammenklaubung von ixbeliebigen Buchstaben“. Schrift und Schriftbild waren für den dichtenden Maler Nebel von großer Bedeutung: So bilden die neun „berufenen“ Buchstaben eine Art magisches Quadrat: drei mal drei, die heilige Zahl der göttlichen Vollendung im Quadrat. In vier ein mal zweieinhalb Meter messenden „Runenfahnen“ schuf Nebel vier verschiedene visuelle Codierungen ein und derselben Passage des UNFEIG. Das Riesenformat, so hoffte der Dichtermaler, werde den Betrachter aufrichten und zum Tanz animieren, „gesetzt, dass sein Körper locker genug ist“.
Ihm ging es um die Aufhebung von Grenzen, zwischen den Künsten, zwischen den Genres, zwischen Schrift, Laut und Bedeutung, um die Kreation von Symbiosen, die neu erschienen, aber so uralt wie die Sprache selbst waren.
In Anlehnung an die altgermanischen Schriftzeichen mit ihrer magisch-zauberischen Aura nennt er die durch „Zuraunung“ empfangenen Buchstaben „Runen“ und setzt sie zu seiner „freien“ Fuge, in dem Bewusstsein, dass „der Tondichter dem Worte eine etwas andere, doch nicht widersprechende Bedeutung beizumessen gewohnt ist“. Der Laut- und Wortsetzer Nebel versichert seine Leser, ihn habe das „allerwachste Wahlbewusstsein“ geleitet, „die Grenze zu ziehen zwischen kunstwürdiger, geistheller Wortfügung“ und „einer bei Geisteskranken gelegentlich vorkommenden triebhaften Wortformerei“. Der Dichter lallt nicht, er gebietet aber auch nicht selbstherrlich über sein Material. Er ist ein Erfüllungsgehilfe, der „das Wunder der Laut-, Sinn- und Schriftbildung vollzieht.“ Am ehesten verwandt ist Otto Nebel mit dem russischen Dichter Velimir Chlebnikov, dem futuristischen Mathematiker und Mystiker, der in seinen kunstvoll regelwidrigen Sprachgebilden die russische Sprache in ihrer ganzen Tiefe auslotete.
Wie bei Chlebnikov verbinden sich in Otto Nebels UNFEIG Laut, Bedeutung und Schrift zu einem komplexen, quasi räumlichen, multiperspektivischen Kunstwerk, zu einer „pulsierenden“ Einheit, „der analytisch nur bedingt beizukommen ist“, wie die Herausgeber der Runen-Fuge bekennen. Das exkulpiert den reinen Genießer, der auch ohne zum Scheitern verurteilte Analyse-Mühen seine Freude an Otto Nebels grandioser Runen-Fuge hat – an ihrer bei allem Spiel dezidierten Zeit- und Sprachkritik und ihrem bei allem Runengeraune herzhaft diesseitigen Witz:

CD Track 13 (0:30)

GEFEIT GEGEN UNFUG

Gittert nie Ruinen ein
nur eure irren Regierungen gittert in neunzig Erzgitter
eure Teig-Treter gittert ein
eure Enteigner
entgegnet nie euern Zier-Furzern
entfernt eure Triezer
fertig!

Brigitte van Kann, Deutschlandfunkt, Büchermarkt, 25.7.2006

Kreative Sprachforschung.

Setzen Sie sich in einen Sessel, legen Sie die CD ein und hören Sie einfach nur zu: „Ein U / Ein E / Ein I / Ein Enn / Ein Eff / Ein Ge / Ein Zett / Ein Te / Ein Err / Neun Runen nur / neun nur / nur neun / neun Runen feiern eine freie Fuge nun / Unfug erfriert / Feuer fing Engen / Unfug zerfriert / Enge fing Feuer / neunzig Zentner runtertreten …“
Neun Buchstaben nur benötigt der 1892 in Berlin geborene Otto Nebel, um im Klang der Worte eine ebenso verblüffende wie irritierende, zuweilen auch abstrus-witzige Sprachwelt zu erschaffen. Zu entdecken ist diese musikalisch-sprachliche Forschungsreise in seinem Zyklus „Unfeig. Eine Neun-Runen-Fuge, zu Unzeit gegeigt“, aus dem auch die oben zitierten Zeilen stammen.
Entstanden ist „Unfeig“ in den Jahren 1923/24, als, so Otto Nebel, „Ergebnis umfangreicher Sprachforschungen“. Der Band umfasst 25 Texte mit unterschiedlichem Umfang, erdichtet allesamt mit dem Material der neun Buchstaben (siehe oben). Teile davon erschienen damals in der Zeitschrift „Sturm“.
Nebel, der in Berlin auch als Maler wirkte, musste 1933 in die Schweiz emigrieren, wo er bis zu seinem Tod 1973 in Bern lebte. Daniel Berner und Andreas Mauz haben nun den vollständigen Text nach der Endfassung von 1956 (inklusive einer Lesung des Autors auf CD) neu ediert – eine überaus lohnenswerte (Wieder-)Entdeckung nicht nur für passionierte Lyrik-Lesende. Im aufschlussreichen Nachwort erörtern die Herausgeber Nebels eigenwillige Runen-Fugen-Poetik, die für das dichterische Schaffen des Autors von grosser Bedeutung ist. Nebel selbst schreibt: „Der verbildete Mensch unserer Tage ist worttaub und bildblind. Was er liest, das hört er nicht. Was er schreibt, das sieht er nicht (…). Schon das schöne Wort „Buch-Stabe“ erlebt er nicht mehr. Sieht die Buche weder, noch den Stab. Hört die Buche nicht mehr rauschen (…)“.
Zwischen Text und Ton ereignet sich Welt. Nebels unkonventionelles Schreibverfahren zielt denn auch auf den klanglich-rhythmischen Sprachgebrauch, zwischen Wort und Klang entstehen Sinnebenen – unerwartet und neu. Oder anders: Nebels Texte offenbaren sich in ihrer Musikalität, dort ist das Ereignis, das über den buchstäblichen Wortgehalt hinausweist.
Bei allem Ernst der Sache: Die streng komponierten Fugen sind auch ein Spiel mit Buchstaben und Lauten, welches die Möglichkeiten von „neun Runen nur“, immer wieder anders feiert und dabei Klang- und Bedeutungsebenen findet – und neu erfindet.

Corina Lanfranchi, PROGRAMMzeitung, Juli/August 2006

Neun Buchstaben

– KINDERSPIEL – Otto Nebels wundersame Fugen-Dichtung UNFEIG. Eine Neun-Runen-Fuge, zur Unzeit gegeigt. –

Was kitzelt einen, jedenfalls einen „Unfeigen“ an Wortfolgen wie „in Regierungen gerinnen Neuerungen“ oder „Gegner retten nur Getue. Tintenfritzen triefen gerne“? Was um Himmels Willen soll eine „Neun-Runen-Fuge“ sein?
Ihr Schöpfer Otto Nebel wurde 1892 in Berlin geboren, floh als „entarteter“ Dichter vor den Nazis nach Bern und lebte dort bis zu seinem Tod 1973. Er gehört zur literarischen Avantgarde am Anfang des 20. Jahrhunderts, und in seinem Umfeld, dem „Sturm“-Kreis um Herwarth Walden, war man weniger daran interessiert, Inhalte mittels Sprache darzustellen; vielmehr versuchte man, Inhalte durch Sprache überhaupt erst zu gewinnen.
Nebel erklärte, dass ihm der Satz „einer zeigt eine Runen-Fuge“ quasi zu-fiel, und diesen sonderbaren Satz belauschte er. Er fand neun Buchstaben oder Runen = Geheimnisse. Wobei Nebel wegen des Wortes „Rune“ keinesfalls in eine restaurative, tümelnde Ecke gehört, im Gegenteil: Seine Dichtung Zuginsfeld von 1918/19 ist ein präzise aggressives antimilitaristisches Meisterwerk, und mit seinem späteren Interesse an der Mystik, speziell den Schriften Emanuel Swedenborgs steht er nicht allein; die Bewegung politisch wie ästhetisch revolutionärer Künstler in Richtung Mystik ist ein rätselhaftes Phänomen, das eine eigene Untersuchung verlangte.
Nebel findet also sechs Konsonanten und drei Vokale. Seine Runen-Fugen-Poetik folgt den Regeln der anagrammatischen Dichtung. Schlichter gesagt, handelt es sich hier um das arbeitsame Kinderspiel „gefüllte Gänsebrust“. Aus vorgegebenen Buchstabenfolgen oder Wörtern werden andere Wörter, dabei entstehen immer auch Neologismen. Neun Buchstaben werden zu einem neuen Alphabet, zum Schlüssel für eine Welt, die die Rezensentin als beglückend erlebt. Aber: „Feige nennen Fugen: Unfug“. Wie gut, dass es in Nebels wundersam bestrickenden Text eine Art Subjekt gibt, Herrn oder Frau „Unfeig“. An Unfeigs Hand wird man staunend verrückt; es gibt zwar noch Bedeutungen, Behauptungen und „Sinn“, aber er dominiert nicht mehr. Lautmalerische, rhythmische Elemente spielen eine gleichberechtigte Rolle in diesem Text. Wie bei der musikalischen Fuge wird ein zentrales Thema, werden die neun Runen umspielt. Die Kunst der Kombinatorik und der Permutation setzt eine Eigendynamik frei, bei der so ziemlich alle Stricke reißen. Wörter und Wortfolgen, mit denen man gurgeln und dann feuerspeien möchte. „Ein Tiefer fing Feuer tief innen“. „Nie geizt ein Feuerzeuger… Teifi Teifi / Zeiger irrt nie / Zigeuner reiten Ziegen fertig / Euterziegen / Tittenziegen / Nutten / gern greinen reizige Zierziegen / Tiere / Tiere greinen nie / Zeterziege / Zitzentier zurzeit / Ritter zeigen Eifer/ Ritter neigen zur Treue / Ziegen zertreten Enteneier / zur Ziegenreue Ritter geigen fein“. Ist das vielleicht keine Welt voll dramatischer Begebenheiten? Gehen einem da nicht Augen und Ohren auf?
Man macht hier eine ganz eigenartige Lese- und Hörerfahrung – dem Buch liegt eine CD bei, gelesen von Nebel selbst. Eigentlich könnte man doch vermuten, dass die Reduktion von 26 auf nur neun Buchstaben einen Autor fesselt, seine Sprache ausdünnt. Statt dessen hat man es mit Auf- und Ausbruch zu tun. Als erlaube erst die Einschränkung so etwas wie Freiheit und Exzess. „Nun tritt Regine Tietze ein / eine gute Nutte zur Unzeit / trifft rein nie einen guten Nutter unter Ziegenreitern.“ Otto Nebels Runenfuge umkreist verschiedene Inhalte: Koch- und andere Rezepte, Zurufe, Zaubersprüche, den Auftritt von fünfzig Irren, Polemik gegen Regierungen und Zeitungen, und immer wieder die Besinnung auf das Runenmaterial selbst.
Nebel setzt seinen Lesern kein fertiges Ergebnis vor, sondern lässt sie teilnehmen am Prozess des Suchens und überraschenden Findens. So findet, beziehungsweise schafft der beglückte Unfeig schließlich auch noch die „Unter-Rune“ ü: „UNFEIGEN genügt eine einzige ü-Rune, grüne Fernen zu treffen / RÜGEN in einiger Ferne zu erinnern“. Die Runen-Fuge entstand 1923/24; eine letzte Reinschrift des Autors im Jahr 1956 brachte kleine Änderungen, die Nebel selbst mit einem „gärtnerischen Betreuen“ verglich. Es sagt etwas über den Literaturbetrieb, dass es auch hier wieder ein kleiner Verlag ist, der den Mut aufbringt, nein, der die Lust hat, Lesern Lust auf Sprache zu machen. „UNFEIG entreitet zu neuen Ernten. / Neue Runen er rettet. Einen RING NEUER FUGEN er rettet für innige Freie. / Neue Zeiten reifen für Ernter!“

Sabine Peters, der Freitag, 9.3.2007

Poesie-Archäologie

– Zur Wiederentdeckung von Otto Nebels Ursonate Unfeig. –

Zum Gestus der Moderne gehört es, Prinzipien freilegen zu wollen: In principio principium erat, wer es kennt, kennt das Wesen dessen, worüber er räsoniert. „Logik des Produziertseins“ – das ist, was denn auch Otto Nebel (1892-1973) seine Ursonate verfassen ließ; wer aber heute die historisch gewordene Moderne nochmals reanimieren will, der geht zu derlei frühen Zeugnissen, die darüber belehren, wie es war, als die Moderne noch versprach, statt Fakten und Gebräuchen Funktionen und Strukturen zu geben, nein: sie bloß freizulegen.
Otto Nebel: Keiner, der heute im Zentrum der Aufmerksamkeit stünde, es aber verdiente. Vielseitig (Zeichner, Maler, Dichter, Schauspieler) und konsequent ist sein Schaffen, das hier wortkombinatorisch und konkret an die Wurzel geht.
Beides prägt diesen Band, worin der wieder entdeckte, wie zu ahnen ist, eben wieder-entdeckt, was im Laut alles geborgen ist: an Denkmöglichem, das auf das Gewisse gerichtet dieses dann als allenfalls denkwahrscheinlich, mehr oder weniger plausibel zeigt. So rekurriert Nebel auf Klanggebilde, die Sinn nicht etwa zerstören, sondern überhaupt erst generieren – im Zusammenspiel mit dem Leser. Die Herausgeber wiederum rekurrieren auf dieses Verfahren, das durch einen anschließenden Versuch des leider jüngst verstorbenen Oskar Pastior nochmals quasi geadelt wird. Der Sinnlichkeit gebührt dabei der Vorrang; so haben die Herausgeber denn auch eine Aufnahme der Lesung auf CD beigefügt, übrigens formschön am Buchdeckel befestigt, was doch unbedingt den CD-Tüten in Büchern vorzuziehen ist, denen den Silberling entnehmen zu wollen meist entweder das Kuvert oder den Geduldsfaden reißen lässt. Die CD enthält historische Aufnahmen der quasi a-historischen Lautarbeit, die archäologisch einen Anfang, ein Prinzip, eben: eine arche sucht.
Dabei zeigt sich in der Tat die Natur der Sprache, und sie ist: Unnatur, nämlich Kultur und Technik. „Es war die Nachtigall, und nicht der Wecker“, so wäre diese Natur in Abwandlung Shakespeares zu begrüßen, doch: Die Nachtigall singt so, dass der Hinweis, hier schrille kein Wecker, vonnöten ist. Jedenfalls: ein moderner Weckruf.
Der verklammert den Ernst mit dem Spiel; das Spiel, Silben Permutationen zu unterziehen, wird dabei vom Ernst ebenso kontaminiert, wie der Ernst umgekehrt von dem, was da auf den ersten Blick unsinnig ist: Denn das Spiel wird in der konsequenten Anwendung zum Generator von Realem, das aber als gemachtes nun dem Ernst gleichsam wegbricht. Das ist dann wohl die Engführung dieser Fuge, die von „Zeterenten“ zu „Zentner-Enten“ voranschreitet, Mikrodramen am Ort, wo Sinn der Form extrahiert und geschaffen, aber auch wieder ins Material eingeschmolzen wird. Lauter „Urgut-Rufe“ hallen da bis in die Vernunft und ihre Metaphysik.
Jenseits der Silbe sind es auch Symbole, die wie Hieroglyphen, freilich zentriert, Muster ergeben, Sinn suggerieren, befragbar machen, und zwar bis ins Letzte, nämlich die ästhetische Evidenz jener Ordnungswelten – kosmoi? – die sich über die mehrfach gefalteten Runenfahnen im Buch hin entwickeln. Freilich ist es, so Herausgeber Mauz, zugleich primär des Lesers „Begriffspragmatik“, die „alle möglichen ,Texte‘ ,sakralisieren‘“ kann – also eine Nabelschau, ein subtiler, konkret poetisch vollzogener Omphalozentrismus.
Der entdeckt dann eben das Faszinosum des Textes auch in sich – ohne, dass der Text im Lesen aufginge. Denn das Lesen zählt, schreibt Pastior in „Das Unding an sich“, dass hier „gezählt wird“, doch: „Texte sind generell Primzahlen. Je primer umso besser.“ Und so, wie in der Folge sich nur Thesen aufstellen lassen, welche Muster, welche sie generierenden Kombinatoriken hier unergiebig wären – eine totale, alle 26 Zeichen durcharbeitende, aber auch eine „nullrunenfuge[n]“ −, so bleibt auch der Text nur im Lesen jene Erfahrung, die ihm eigen ist.
So werden „(e)in Tee, ein Err, ein Zett“ zum Laut-Terzett, eine Methode, die sich blendend mit jener verträgt, die Pastior entwickelt, wobei immer wieder zu sagen ist, dass eine Methode als etwas hinterm Weg (meta & hodos) hier nicht besteht, es sei denn, man würde die Evidenz selbst zu etwas erklären, das metaphysisch hinter sich selbst steht. Die Form ist also Provokation, freilich nicht in dem Sinne, den die Bürgerlichkeit im Dadaismus vermutete; sondern hervorgerufen, provoziert und evoziert wird das Denken, das seine Materialität erlebt, sich über sich selbst beugt, indem es die Form als das Holz untersucht, aus dem es geschnitzt ist. Aus dem die „Gere“, von denen das lyrische Ich den „Ting-Zeugen“ erzählt, gedrechselt sind: die Speere, die die Kombinatorik hervorbringt, dabei Lexeme und ganze Lexika neu entdeckend.
Holz: Das ist dann das, was in dieser totalen Kunst doch das fühlbare Moment von Natur sein mag, dass diese Texte so unverbrauchbar sind, heute noch immer wie neu sich lesen. Mit etwas Patina zwar, wie sie das Holz kennt, weil es mit dem Gebrauchenden eine Synthese eingeht, kurz: vom Schweiß gebeizt wird; hier: vom Denken am Leben erhalten, das in solchem Wandel besteht. Denn die Überraschung bleibt, doch der Schock ist genommen, weshalb erst jetzt eine breite Leserschaft aufgeregt im Sinne erregter Neugier nun den Spuren jener Wortkunst folgen kann.
Folgen kann – – – und folgen soll, jetzt. Mit den Herausgebern:

Hat UNFEIG sein Werk getan, ist es am Leser, (…) das seine zu tun.

Martin A. Hainz, literaturkritik.de, November 2006

Otto Nebel – UNFEIG. Ein Gespräch

Dieser verkürzte Lesetext basiert auf einer O-Ton-Collage des NDR, „Otto Nebel und die Neunrunenfuge UNFEIG“.1 Redaktion, Regie und Schnitt: Uwe Friesel, Erstausstrahlung: 3. Februar 1973.

Otto Nebel: Ich ließ dann diese Arbeiten ruhen und war unter anderem Angestellter in einer chemischen Fabrik, mit Acht-Stunden-Dienst. Und als ich eines Abends nach Hause kam, hörte ich einen merkwürdigen Satz. Den Satz „Einer zeigt eine Runenfuge“. Ich schrieb auf einem Zettel die Buchstaben auf, aus denen dieser Satz bestand, und stellte fest, dass es neun waren: uei / nfg / trz. Und damit kam die ganze Sache ins Rollen.

Funfzig Irre treten ein,
Treffen nur Irre.
Treten ein in irre Unzeit.
Irre gittern Irre ein.
Irre zertieren, Irre zerfetzen.

Nie irret Erretten.

Zeitig feien gute Retter
Innen-Tiefennetze gegen Irreneingriff
Fünfzig Irre unter neun Runen:

Nur fuer Unirre geeignet,
Einigen Freien zugeeignet.
Funfzig Irre treffen zu
In einer reinen Runenfuge.

Erster: 1892 geboren, als Bürgersohn zum Hochbaufachmann ausgebildet, was immer wieder in seinen späteren Bildern zum Ausdruck kommt, in der Genauigkeit, mit der er malt und zeichnet. Zeit seines Lebens bleibt er ein Sprechexperimentator und Bürgerschreck.

Zweiter: Eigentümlich, dass so viele dieser neuen Künstler aus der Architektur stammen. Die Brücke-Gründer Kirchner, Heckel, Bleyl, Schmidt-Rottluff waren alle Architekturstudenten in Dresden und haben sich autodidaktisch mit Malerei beschäftigt. Nur Kirchner hatte zwei Semester Kunststudium hinter sich.

Erster: 1913 oder 1914 ist er dann zu Blümner gegangen, an die Lessingbühne, bis er in den Krieg musste – „freiwillig-ehrenhalber“, wie er sagt. Ist dann gegen Kriegsende von den Engländern für vierzehn Monate interniert worden und hat in dieser Gefangenschaft angefangen, sich künstlerisch zu betätigen. Von 1919 bis 1924 war er Kunstlehrer in Berlin, an der „Sturm-Schule“, wo er dann auch erste theoretische Aufsätze veröffentlichte.

Dritter: Außerdem war er ja Schauspieler. Er ist also zunächst sehr viel hin- und hermäandert zwischen den Künsten, bis er nach Weimar ging, wo er enge Freundschaft mit Klee und Kandinsky schloss.

Zweiter: Das äußerst Merkwürdige ist nun aber: Durchforstet man die gängigen Namensregister des Expressionismus, findet man nirgends einen Otto Nebel verzeichnet.

Dritter: Na gut, die Blütezeit des Sturm2 war längst vorbei, als Nebel 1920 das erste Mal dort veröffentlichte, und die Kontakte zwischen den einzelnen Künstlergruppen waren nach dem Krieg nicht mehr so engmaschig.

Erster: Warum haben Sie nur relativ selten und dann sehr begrenzt Ihre Werke publiziert? Lag es am mangelndem Verständnis bei den Lektoren oder beim Publikum? Hatten Sie Angst vor Kritik?

Nebel: Die Gründe sind rein geschichtlicher Art. Die Wirtschaft in Deutschland und der zweite Unterwelt-Krieg haben mich veranlasst beziehungsweise gezwungen zu schweigen. Was Sie über Verleger fragen, das kann ich mit einem Spruch, der auch noch nicht veröffentlicht ist, beantworten: „Verleger sind und bringen in Verlegenheit!“

Zweiter: Immerhin hat er mehrere Bücher mit Linolschnitten herausgebracht, darunter sein wichtigstes: Die Goldene Spur.

Dritter: Aber immer nur in kleinen Auflagen und Eigendrucken! Man kann sich leicht denken, warum: Die Sprache als sinnstiftende Übereinkunft hat er letztlich negiert oder völlig umgekrempelt, und das wurde vom Publikum eher als bedrohlich empfunden.

Zweiter: Wieso kann heutzutage ein Gerhard Rühm Leser finden oder ein Arno Schmidt mit Zettels Traum? Sind wir heute unvoreingenommener?

Erster: Sicher. Eben weil Otto Nebel und die Dadaisten vorher da waren!

Dritter: Er war ganz einfach seiner Zeit voraus. Wenn ich heute zum Beispiel einen O-Ton von Ernst Jandl höre, der ihm unter den Gegenwartslyrikern vielleicht am nächsten kommt, dann muss ich sagen, beim Hören von Otto Nebels Text kommen wesentlich konsistentere Zusammenhänge zum Vorschein.

Zweiter: Was denn für Zusammenhänge? Er hat sich doch nach dem Krieg gerade mal so durchgeschlagen. Er hatte seinen Sold gespart, um in Friedenszeiten ganz der Kunst leben zu können.

Nebel: Die Entwertung des Geldes hatte fürchterliche Folgen. Alles, was man angespart hatte, verschwand einfach.

Zweiter: Und wie lebt er heute?

Erster: Nun, ich habe ihn ja in Bern besucht – eine schöne Villengegend. Auf mein Klingeln öffnete mir ein Mann, der sehr klein und schmächtig war und graue Haare hatte und mich etwas unentschlossen ansah. In Wirklichkeit war er aber sehr zugänglich und wohl auch froh darüber, dass er Besuch aus Deutschland bekommen hatte, von einem jungen Menschen, der offenbar seine Werke kannte. Und sehr schnell kam Begeisterung in ihm hoch, als er mir seine Graphik zeigte: eine enorme Sammlung, ich schätze mal um die siebentausend Zeichnungen, Bilder, Graphiken – alles genauestens katalogisiert.

Dritter: Was produziert er denn jetzt?

Erster: Das sind zum Teil ganz neue Techniken von Linoldrucken, mit denen er experimentiert: Ätzungen, Kratzbilder, Acrylfarben. In Öl malt er kaum noch.

Zweiter: Gegenständlich?

Erster: Nein, gar nichts ist mehr so gegenständlich wie noch die Dom-Bilder und die Porträts seiner Jugend.

Dritter: Hier lese ich: Das Guggenheim-Museum besitzt einen Großteil der abstrakten Produktion des Malers aus den Jahren 1924 bis 1951. Das heißt, vor dem Zweiten Weltkrieg beziehungsweise Unterwelt-Krieg, wie er ihn nennt, malte er sowohl gegenständlich als auch ungegenständlich…

Zweiter: … und schrieb kurz nach dem Ersten Weltkrieg, von 1920 bis 1924, „Die Neunrunenfuge“, die erstaunlicherweise bereits vollgestopft ist mit Anspielungen auf die kommenden Schrecken.

Nebel:

Trend Nutzer tritt nun eifrig ein,
Zitterer zu Rittergut.
Zerfingert Geigen, zerfetzt Zeitungen,
Zerfetzt Tinten-Irenen Unterzeuge
in Unter-Unterzeuge, ferner fein –
Ein Neuerer in Erinnerungen:
Nie geizig!

Erster: Sein Atelier liegt außerhalb seiner Wohnung in derselben Straße. Und außerdem hat er noch einen Keller in der Altstadt, wo er seine Bilder lagert.

Zweiter: Also, ich bitte dich: ’ne Villa, ’n Atelier und noch ’n Lager – hätte ich auch gern, muss ich sagen.

Dritter: Was ich nicht ganz verstehe: Wenn er also seine ständigen Ausstellungen heutzutage hat – und du sagst ja, an drei Stellen…

Erster: … ja, in Bern fast jährlich, in Paris und auch in New York…

Dritter: … wieso hat er dann eine so große Menge Zeichnungen ständig bei sich zu Hause ’rumliegen?

Erster: Also, er hat jetzt gerade eine große Anzahl von Kunstwerken als Stiftung an das Kunstmuseum in Bern übergeben – aber die Motive für seine private Sammelwut? Schwer zu sagen. Vielleicht die Tatsache, dass während des Ersten Weltkriegs etliche hundert Blätter kaputt gegangen oder verschwunden sind. Und von den zwischen 1924 und 1936 gemalten Bildern sind auch nur wenige erhalten geblieben, hauptsächlich durch die Guggenheim-Sammlung.

Dritter: Hast du denn den Eindruck, dass er sich selbst und die eigene Entwicklung in der Malerei wichtig nimmt? Also ganz bewusst die verschiedenen Stadien verfolgt?

Erster: Zumindest nimmt er sie sehr ernst. Als erstes hat er mir ja seine frühen Werke aus den Zwanzigerjahren gezeigt.

Zweiter: Hat er denn nicht auch mal an Rückkehr gedacht? Ich meine, heute könnte er doch in der Bundesrepublik als ein geachteter Künstler leben und arbeiten, womöglich sogar in den Genuss von Wiedergutmachung kommen.

Erster: Sie leben in der Schweiz heute, Herr Nebel. Da wir gerade von gegenwärtiger Politik und gegenwärtigen Parteien sprachen: Was meinen Sie, welche davon würde Ihre Interessen am ehesten vertreten?

Nebel: Meine Interessen würde NIEMAND jemals vertreten! Da ist nichts mehr zu vertreten. Man kann es nur zertreten.

Dritter: Als Schriftsteller müsste er bei uns eigentlich schon auf Grund der beiden Gedichte „Die Neunrunenfuge“ und „Zuginsfeld“ längst rehabilitiert sein, oder? Ich meine, August Stramm, um einen seiner Zeitgenossen zu nennen, hat doch keineswegs besser geschrieben!

Erster: Er hat einfach zu wenig publiziert. Sagte ich doch schon. Und zu spät: Das Rad der Titanen erst 1957, Zuraunungen noch später, dann Das Wesentliche und Goldene Spur. Das beschränkt sich im Wesentlichen auf acht bis zehn Werke. Dann noch Aufsätze, Kritiken, Essays in Zeitschriften, etwa im Sturm, die aber in diesem Zusammenhang wohl nicht zählen.

Zweiter: Stimmt. Harald und ich waren nach unserer detektivischen Suchaktion in der Staatsbibliothek übereinstimmend der Ansicht, dass Der Sturm so doll gar nicht war. Vielmehr war da oft ein etwas euphorisches Gesinge über die neu aufbrechende Kunst, zum Teil mit mystifizierenden Hintergründen.

Dritter: Das siehst du so, weil man heute bestimmte Aversionen gegen das expressionistische Pathos hegt. Guck dir doch mal die Ergebnisse im Bereich der bildenden Kunst an! Man kann doch nicht ohne weiteres erwarten, dass Maler und Bildhauer sich sprachlich so gut ausdrücken können. Letztlich ist doch nicht entscheidend, was für Gedanken sie sich gemacht haben, wenn sie malten, sondern die Bilder selbst, die dabei ’rauskamen. Und dass diese Künstler im Sturm eine Plattform gefunden haben zu einer Zeit, wo das Publikum beim Anblick ihrer Werke wirklich nur spuckte und schimpfte, das ist doch ein großes Verdienst von Herwarth Walden und eben seinem Sturm.

Zweiter: Gab es denn noch andere Zeitschriften dieser Art?

Erster: Ja, zumindest Die Aktion. Ob auch Die Weißen Blätter dazu zu rechnen sind, weiß ich nicht zu sagen.

Dritter: Doch, natürlich. Da waren ganze Dramenausschnitte von Sternheim, Tolstoi oder Hasenclever abgedruckt.

Zweiter: War nicht auch Else Lasker-Schüler eine sehr aktive Mitarbeiterin?

Erster: Die hat gleich in allen drei Zeitschriften veröffentlicht! Wobei Die Aktion eher ein Kampfblatt war. Aufrufe der Dritten Internationale und so weiter. Besonders in den letzten Nummern. Übrigens haben sowohl Die Aktion als auch Der Sturm immerhin zweiundzwanzig Jahre überdauert, und das in Berlin, bei derartigen historischen Umwälzungen!

Zweiter: Um noch mal auf Otto Nebels ganz persönlichen Stil zurückzukommen: So etwas wie „Unfeig“ haben die Leute damals schlicht noch gar nicht verstanden.

Dritter: Sagte ich doch: verfrühtes Genie.

Zweiter: Wenn wir uns also hier an der Frage festbeißen, warum kennt man ihn nicht?

Dritter: Die Frage stellt sich natürlich, weil man als Gegenbeispiel die bildende Kunst vor Augen hat. Und da sieht man eben, dass die bildenden Künstler des Sturms und auch des Blauen Reiters durchaus ihren Durchbruch gehabt haben, in eben diesen Zwanzigerjahren.

Erster: Bildende Kunst wird immer schneller aufgearbeitet, behaupte ich hier mal ganz ungeschützt, als freier Autor. Abgesehen davon, dass bildende Kunst politisch sehr viel harmloser ist als Wortkunst.

Nebel: Darf ich jetzt eine Frage an Sie richten? Weshalb haften Sie eigentlich so an diesem „Unfeig“? Ich habe doch danach ein viel gewichtigeres Werk geschrieben: „Die Zwölfrunenfuge – Das Rad der Titanen“? Warum fragen Sie darüber nicht?

Erster: Diese Fuge ist in den Zwanzigerjahren geschrieben.

Nebel: Ach, Sie meinen, weil sie zum Sturm gehört? Ach so. Na gut, das verstehe ich.

Zweiter: Man könnte versucht sein, inhaltliche Dinge, die in der „Neunrunenfuge“ gegeben sind, in etwa auch in der Musik zu reproduzieren – Vergleichbares findet sich in frühen Schönberg-Liedern, auch Hindemith hat so etwas gemacht.

Dritter: Von seinen alten Bekannten lebt nur noch die Nell Walden?

Erster: Nein, es lebt auch noch der Muche, am Bodensee, und der Ring, in einer Burg Steppenfels. An sich wollten wir auch noch Nell Walden besuchen. Aber Nebel meinte, erstens wohne sie in einem Haus, das einem Regierungspalast gliche, und zweitens hingen überall ihre schlechten Bilder herum.

Nebel:

Nun tritt ein Unirrer
Gegen Regierungen – trifft!
Funfzig Gegentritte gegen einen Freien
Treffen nie.
Einen guten Gegner
Treffen Regierungen nie.

Zweiter: Wieso ist er dir als Deutschem gleich so offen entgegengetreten?

Erster: Das hat mehr astrologische Gründe. Er sprach mich auf Astrologie an, auch auf Thomas Ring, und hat mir sofort einige Bücher von ihm gezeigt. Ich stand dem etwas skeptisch gegenüber und fragte ihn dann, wenn es zutreffe, dass man bestimmte Dinge Vorhersagen oder wissen könne, welches Sternzeichen ich denn nun sei? Da stellte er mir einige Gegenfragen, zum Beispiel, welche Körperstelle am empfindlichsten sei… ja, und dann kam sehr prompt, dass ich Skorpion sein müsse. Das hat mich sehr erschüttert, muss ich sagen. Er kannte ja nicht mal mein Geburtsdatum. Ich hab mir das später auch noch weiter erklären lassen. Er selbst hat sich von bekannten Astrologen Horoskope stellen lassen. Das Einzige, was ihn dabei aus der Fassung brachte: dass Nell Walden schon mehrfach prophezeit hatte, seine Frau würde sterben. Zum Glück war das aber bis dato nicht eingetreten. Wir sind dann abends noch zum Essen gefahren, in ein Hotel, wohin er mich eingeladen hat. Dort war er auch bekannt. Vielleicht lag es ja auch daran, dass er kurz zuvor diese Stiftung fürs Kunstmuseum Bern gemacht hatte.

Erster: Sie schreiben: „Nur einige feine Erneuerer / Errieten einer reinen Neunrunenfuge / Ferneren Nutzen.“ Könnte es nicht auch heißen: „Nur einige feine Eiferer / Errieten…“?

Nebel: Doch, doch. Das könnte es auch heißen!

Dritter: Wieso hatte er zunächst in der Schweiz Arbeitsverbot?

Zweiter: Aus Neutralitätsgründen.

Erster: Das ging ja da noch viel weiter, in den Bergen. Das ging bis zur Judenauslieferung. Es gab ja auch ein Versammlungsverbot für Emigranten. Fest steht, dass Otto Nebel bis 1952 nicht an seinen Sachen arbeiten beziehungsweise sie nicht ausstellen oder publizieren durfte, jedenfalls nicht öffentlich. Daran wird die Schweiz heutzutage gar nicht so gern erinnert. Und da hat er eben sehr viele andere Sachen machen müssen, um zu überleben.

Zweiter: Ein Riesenglück, dass Guggenheim ihn die ganze Zeit unterstützt hat! Und dass Nebel dann wenigstens vier Jahre, von 1951 bis 1955, an den Kammerspielen arbeiten konnte. Oder eben musste. Erst danach gelang es ihm ja, sich einbürgern zu lassen.

Erster: Um noch mal darauf zurückzukommen: Können Sie sich daran erinnern, an die Jahre um 1920, wie damals Ihre weltanschauliche Position war?

Nebel: Ja nun, ich kam – als ein aus englischer Kriegsgefangenschaft entlassener, schwer geprüfter Frontsoldat – nach Deutschland zurück. Und während dieser Jahre, auch kurz vorher, schoss man noch von den Dächern. Also von Frieden keine Rede. Und Deutschland war im schlimmsten Zustand, nicht wahr?
Also, man rechnet mich gerne fälschlich zu den Pazifisten. Erstens mag ich das Fremdwort nicht, und außerdem muss ich dazu Folgendes bemerken: Ich bin nicht der Ansicht, dass ein Volk, das von irgendeinem Nachbarn plötzlich angegriffen wird, die Pflicht hätte, sich nicht zu verteidigen. Es gibt ein Recht auf einen Verteidigungskrieg. Insofern ist das nicht Pazifismus, nicht wahr? Sie würden sich auch, wenn ein Gangster mit einem Dolch auf Sie zukommt, nicht hinstellen und sagen, mein Lieber, ich bin ein Pazifist. Sondern Sie würden sich verteidigen.
Sie wissen ja, dass wir uns sozusagen freiwillig melden mussten, damals, das war Ehrensache, hatte man uns eingeredet, das Vaterland sei in Gefahr. In Wirklichkeit war dieses Vaterland für andere eine Gefahr!

Zweiter: Er war übrigens einer der Aktivsten.

Dritter: Ja, Abend für Abend in der Potsdamer Straße, als Vortragskünstler. Oder auch in der Galerie. Er hat sich regelrecht exponiert. Vorgelesen hat er hauptsächlich aus „Zuginsfeld“ und auch aus der „Neunrunenfuge“. Somit hat er sich gewissermaßen selbst zum Abschuss freigegeben.

Erster: All diese Künstler sind ja sehr früh geächtet und verfemt worden. Das Bauhaus zum Beispiel wurde geschlossen.

Dritter: Wann?

Erster: Soweit ich weiß, 1932. Ein Jahr später wurde auch sein Mitglied Otto Nebel vertrieben. Aber ich wollte noch ein paar Ausstellungen von ihm erwähnen, die er für wichtig hält. 1921/22 fing es an, beim Sturm in Berlin, Deutsche Kunstgemeinschaft im Berliner Schloss sowie Große Berliner Kunstausstellung.

Zweiter: 1921 Einzelausstellung im Folkwang-Museum Hagen.

Erster: „Der große Bär“ in Ascona.

Zweiter: 1930 Beteiligung in der Galerie Ferdinand Moeller.

Erster: 1931 Haus der Juryfreien Berlin.

Zweiter: Und jetzt der Sprung: 1935 Beteiligung an der Großen Kunstausstellung in der Kunsthalle Bern, mit Sechsundsechzig Werken, darunter große Leinwände.

Erster: 1938/39 Beteiligung an der Ausstellung der Sammlung Guggenheim in Charleston, Baltimore und New York.

Zweiter: 1944 Einzelausstellung Kunsthalle Bern: 200 Gemälde, Blatt-Bilder und Zeichnungen.

Erster: 1946 Einzelausstellung in Zürich und Beteiligung in Indianapolis.

Zweiter: 1947 Einzelausstellung in Bern.

Erster: 1948/49 Einzelausstellung bei der Guggenheim Foundation New York.

Zweiter: 1950 schon wieder eine Einzelausstellung: Galerie Marbach, Bern, Galerie De la Paix, Lausanne, Galerie in St. Gallen.

Erster: Dann, 1951, wieder Guggenheim-Museum New York und Kunstmuseum Bern, und jetzt auch erstmals wieder in Deutschland, nämlich Beteiligungen in den Museen Düsseldorf und Wuppertal-Elberfeld.

Dritter: Also das wundert mich jetzt! Wir hatten doch gerade gesagt, er habe…

Zweiter: Und dann in rascher Folge in Kopenhagen, Beteiligung an der „Xylon“ in Hongkong, Zürich, Ljubljana, und wieder Japan.

Erster: Und 1955 schließlich auch in Paris.

Zweiter: Also bis in das Jahr 1967, wie in etlichen Aufsätzen über ihn ausgewiesen, fast jedes Jahr eine Einzelausstellung.

Erster: Der Katalog, der ihm am wichtigsten ist, stammt jedoch von der großen Ausstellung in der Galerie Nierendorf in Berlin aus dem Jahre 1966. Das war die einzige Einzelausstellung in Deutschland nach dem Krieg. Danach hat er nur noch einmal kurz im Berliner Schloss, genauer: in der Orangerie, mit ausgestellt. Also dieser Mann, der ja immerhin achtzig ist, hat eine Arbeitsintensität, die mich alt aussehen lässt.

Dritter: Na ja, du hast ja noch mehr als fünfzig Jahre Zeit.

Erster: Nach eigener Aussage arbeitet er immer noch fast sechzehn Stunden täglich. Meistens wacht er nachts gegen drei Uhr auf, und dann fängt er halt an zu arbeiten. Das können auch die Tagebücher sein: Er hat fünfundzwanzig druckfertige Bände da stehen, DIN A 5 Format und drei Zentimeter Buchrücken, und außerdem noch einen laufenden Meter unveröffentlichter Schriften.

Dritter: Auch Literatur? Ich meine, Primärliteratur?

Erster: Ja. Jedenfalls hatte ich den Eindruck – bei einigen Texten dass er sie gewissermaßen an mir ausprobieren wollte. Er ist ja auch Schauspieler und trägt seine Sachen sehr effektvoll vor.

Dritter: Was macht er denn jetzt? Schreibt er noch?

Erster: Nein. Seit seine Frau im Krankenhaus liegt, hat er mit dem letzten Text, der „Sechzehn-Runen-Fuge“, völlig aufgehört und malt nur noch.

Zweiter: Wenn du nun sagst, er hat da einen laufenden Meter unveröffentlichter Schriften – aus welcher Zeit stammen die denn dann?

Erster: Ganz verschieden. Die ersten Texte stammen aus der Periode 1920 bis 1924, also aus der Zeit der „Neunrunenfuge“, die letzten sind Mitte der Fünfzigerjahre entstanden. Die Tagebücher sind sämtlich unveröffentlicht.

Nebel: Ja, ich war in großer Bedrängnis. Ich lebte in der Wohnung meiner Eltern, und man sah mir mit einem gewissen Unbehagen zu, weil man die schöpferische Arbeit und ihre Bedeutung nicht verstand und nicht ahnte. Ich hatte den „Zuginsfeld“ geschrieben und veröffentlicht und an „Sturm“-Abenden des öfteren vorgetragen, aber das alles und auch mein Erfolg in der Öffentlichkeit war für meine Angehörigen etwas eigentlich Unbedeutendes. Aus all diesen Lagen kam man eigentlich nur heraus durch eine etwas dumpfe Hoffnung, die sich darin äußerte, dass man alles in der Zukunft erwartete. Und so war es ja dann auch. Sie haben vorhin gesehen, dass ich zehn druckreife Bände von meinen Tagebüchern fertig habe – ohne deshalb in der Gegenwart angekommen zu sein! Wenn man diese Sachen drucken wollte, müsste man zusätzlich einen Band drucken, der diesen Tagebüchern voranginge. Meine Tagebücher beginnen mit dem Jahre 1924, mit meiner Ehe. Bis dahin geht ein anderes Buch. Und deshalb kann ich mich jetzt nicht so präzis darüber äußern. Da sind diese inneren Zustände, die ich zwischen 1920 und 1924 durchmachte, genau beschrieben.

Unfeig
Eine Neunrunenfuge, zur Unzeit gegeigt.
Einer zeigt eine Runenfuge:
Uei / nfg / trz.
Neun Runen nur. Nur neun.
Neun Runen feiern eine freie Fuge nun.
Gefeit gegen Irre.

Zweiter: Fünfzig Irre treten ein,
Treffen nur Irre.
Treten unter Irre.
Treten ein in irre Unzeit!

Dritter: Treten Irrengitter ein.

Erster: Irre gittern Irre ein.

Zweiter: Retter gittern Irre nie in Gitter ein!

Dritter: Retter entgittern.

Zweiter: Erretten irrt nie.

Erster: Retten ringt in Feuerfirnen.

Dritter: Irre zerringen in Eigennetzen!

Zweiter: Retten entgittert Eigengrenzen.

Dritter: Retten erufert Runenufer.

Erster: Irre entufern Unfug.

Zweiter: Retten greift ein zu geeigneter Zeit.

Dritter: Irre zerzerren.

Zweiter: Retten erzeugt nie Unfug, nie.

(im Chor): Fünfzig Irre treten ein
Zu einer reifen Runenfuge.

Erster: Damit man das Folgende auch versteht, nicht wahr? Wenn er nämlich nur die funfzig Irren aufzählen würde, müsste man sich fragen, was soll das alles? Zumal der „Unfeig“ ja nicht nur aus dem Auftritt der Irren besteht.

Dritter: Woher weißt du das alles?

Erster: Aus dem Sturm.

Nebel:

Nun tritt Eugen Neter ein
Reuiger Eigennutz in Irrungen
Trutzt unfrei: rettet Euern feinen Eugen!

Zweiter: Man kann hier schon ziemlich genau erkennen, was er ernst meint und was nicht. Eigennutz ist ja ein denkbar negatives Wort. Dieser Eugen Neter befindet sich auch in Irrungen. Das einzig Positive an dem Mann ist, dass er reuig ist. Und er trutzt unfrei, das heißt, weil er unfrei ist, trutzt er. Und schreit schließlich verzweifelt: Rettet euren feinen Eugen! Das ist auch dringend nötig, denn Irre gittern hier Irre ein. Wogegen Retter niemals eingittern: Retter sind also offenbar etwelche utopische Gestalten, die es geben müsste, die es aber nicht gibt. Dann kommen hier Vokabeln wie „zerneinen“, „erufern“, „zertieren“, „zerteigen“, „zertuffen“ – eindeutig expressionistisches Vokabular.

Erster: Wer erklärt mir bitteschön dies hier mal: „Zeitig feien gute Retter / innen Tiefennetze gegen Irreneingriff“?

Zweiter: „Zeitig“, also „rechtzeitig“, ja? „Feien“, also, sie wappnen sich, nämlich wer? „Gute Retter“, und zwar in ihrem Innern mit Tiefennetzen gegen den Eingriff von Irren.

Erster: Ja eben, diese Tiefennetze.

Dritter: Das ist der Abschirmmechanismus. Innere Emigration, gewissermaßen.

Nebel:

Tritt Enriette Gutentrutz ein,
Gefeit gegen Reue.
Eifert nur gegen Teeterrinen.

Ter Tegen tritt ein,
Terenz in Gent,
Erntet nur Teer.

Tritt Reni Trettin ein,
Trine zu Trier,
Freit nur fette Furiere.

Inf Uru tritt ein,
Ferge zu Regier,
Rennt innig gegen Riffe.

Tritt Ernie Neuntuter ein,
Furie zu Fingerfing:
Feuert nur Enteneier.

Segu Uru tritt ein,
Nigger zu Urutiritei:
Futtert nur Gnu-Euter.

Zweiter: Was sind Teeterrinen? Das sind doch an sich Porzellanschalen? Oder sind das alte Damen beim Teeklatsch oder…?

Dritter: Das wären dann Tee-Trienen.

Zweiter: Und dann dieser „Ferge zu Regier“: ausgerechnet der rennt innig gegen Riffe!

Erster: Das könnte einem Fährmann durchaus passieren, siehe Loreley.

Zweiter: Etwas ungewöhnlich, finde ich. Geht jedenfalls über das normale Verhalten eines Fährmanns hinaus. Doch trotz dieser scheinbar abwegigen Formulierungen kommen immer wieder kritische Töne auf.

Erster: „Gnu-Euter“ fallen aber nicht darunter, oder?

Nebel:

Nun tritt ein Unirrer gegen Regierungen:
Trifft!
Funfzig Gegentritte gegen einen Freien treffen nie.
Einen guten Gegner treffen Regierungen nie.

Erster: Es gibt aber auch schlechte Gegner.

Nebel: Ja, da war ein Gegner, der nicht gut war. Da war ein böser Gegner. Ich glaube, ich brauche nicht seinen Namen zu nennen; jedenfalls bin ich nicht dazu da, diesen Namen noch zu verbreiten.

Zweiter: Wobei ja interessant ist, dass hier die ganze Zeit nicht politisch argumentiert wird, sondern moralisch. Es kommt auf die Ausrichtung des Einzelnen an. Wer keinen Eigennutz hat, innerlich nicht „zerfetzt“ oder „vertiert“ ist, der ist eben gut.

Dritter: Ja, einer gegen alle: „Einen guten Gegner / treffen Regierungen nie.“

Erster: Ich glaube nicht, dass er hier moralisiert. Eher wird eine metaphysische Skala zwischen Gut und Böse aufgefächert.

Zweiter: Man müsste das Wort „Moral“ hier vielleicht ein bisschen aufwerten. Es kann ja nicht damit gemeint sein, dass man keine Tangas oder zu kurze Röcke tragen darf. Man müsste vielmehr von einer Moral des gesellschaftlichen Zusammenlebens ausgehen.

Nebel:

Nur in Regierungen
Gerinnt Gift zu Irrenfett:
Regierungen nie zu retten, nein!
Teute in Tinten entgiften!

Erster: Sie schreiben: „Nur in Regierungen / gerinnt Gift zu Irrenfett / Regierungen nie zu retten.“ Heißt das, dass Sie Regierungen, egal in welcher Gesellschaftsordnung, ablehnen? Das wäre anarchistisches Gedankengut. Oder heißt es, in einem anzustrebenden gesellschaftlichen Endzustand sind Staat und Regierungen nicht mehr notwendig?

Nebel: Ich konnte mit Hilfe der neun Runen nicht das Wort „Staat“ bilden. Deswegen musste ich etwas Entsprechendes finden und habe das Wort „Regierungen“ benutzt Da ich alles andere bin als ein Ordnungsfeind – denn die Kunst der Fuge ist Ordnung – und da ich es ablehne, dass man mit Gewalt Dinge ändert, so ist Folgendes darunter zu verstehen: Ein guter Staat ist notwendig. Eine schlechte Regierung ist das Gegenteil davon.

Erster: „Regierungen nie zu retten“ – damit komme ich nicht klar. Auf der einen Seite sagt er, es gibt gute und schlechte Staaten. Warum sind sie also nicht mehr zu retten? Es gibt doch Regierungen, die nicht mehr gerettet zu werden brauchen. Für mich ist das reiner Anarchismus. Passt aber nicht zur Form der Fuge. Sagt er ja selbst.

Nebel:

Nun einen neuen Irren
In einer reinen Fuge fuer Unirre zeigen:
Einen Finnen,
Einen feinen Unteut,
Nit Tinen in Tunren.
Turnte Ringe, einzig
Einzig turnte er einzig Ringe
Nie Ringer, Ringe-Turner nur.
[…]
In Regierungen gerinnt Irrenteer
Unter Furzfeuern zu Zeitungen-Teer.
Zeitungen-Teer erzeugt Tintengier.
Tintengier nur neuen Zeitungenteer.

Meine Beziehung zur Presse ist eigentlich sehr früh bestimmt worden durch die Fackel von Karl Kraus, der sein ganzes Leben lang gegen die Presse gekämpft hat und ein großer Mann war, der den Krieg voraussah. Und behauptete – die Tatsachen haben ihm Recht gegeben –, dass die Zeitungen den Krieg sozusagen angeheizt haben. Ich bin nicht ganz dieser Auffassung, und es gibt da auch Unterschiede. Die Zeitung in einem freien Staat ist notwendig, um Einfluss auszuüben auf die Regierung. Eine gewisse Angst der Regierenden vor der Meinung der Presse ist außerordentlich erzieherisch.

Erster: Inzwischen haben wir Weimar und den Faschismus und zwanzig Jahre Bundesrepublik Deutschland hinter uns. Ist heute, 1973, die geeignete Zeit, den „Unfeig“ zu geigen?

Nebel: Tja, also ich bin heute der Auffassung, dass nach dem, was wir erlebt haben – jedenfalls wir, die wir um 1890 oder etwas später geboren sind –, dass für uns jetzt die Zeit besser ist. Denn es ist eine Jugend da, die diese Dinge wissen möchte. Es ist besser jetzt.

Zur Zeit
Ringt nur Interiufu zu Nimuze
In Erinnerungen:
Interiufu… eine feine Irre,
Eine Tee-Irre.
Eine Urnen-Irre unter Irren
[…].
Inti geigt einen Reigen fein.
Ein Teut eifert gereizter
Gegen innigere Geigerinnen.

Interiufu geigt inniger.
Ein Teut zetert gegen Innenreife in Ninguzen.

Ein Untier tritt gegen eine teure Feierurne.
Inti geigt, geigt, geigt.

Ein Teut zertritt eine Inti-Geige,
Ein Untier zerfetzt einen Feen-Gurt.
Nun greint in Erinnerungen
Eine irre Geigenfee
Zu Ninguzen.

Ich habe den Verdacht, dass in Europa die gesamte Irren-Behandlung noch sehr – wenn man so sagen darf – in den Kinderschuhen steckt. Dieses Schlagen mit Stromwellen und so weiter… Gesetzt, ich würde in eine furchtbare Lage kommen und in die Hände von solchen Leuten geraten: Ich wäre verloren. Ich glaube nicht, dass es so geht. Es hat bei den Indianern Mittel gegeben, die Irren zu heilen. Und zwar mit Farben. Ich kenne die Forschungen von Gertrud Grüner, der Frau, die am Bauhaus die Leute erst mal zu Menschen gemacht hat, ehe sie auf die Kunst losgelassen wurden. Da sind die Grundlagen für das, was ich hier nur andeute, alle vorhanden, und zwar bis ins Letzte gewusst und gekonnt.

Grunzteute in Tigerfett entgiften,
Fette Reizer enteignen.
Ein Trienter tritt ein:
Fernini Tintoretti.
Teute nennen Trienter Trientiner.
Trienter nennen Teute Tuttinutti.
Freie nennen Teue nie!
Teuteroitoi,
Teitei!
[…]
Ein Irrer!
Zeitungen retten nie
Einen irren Tinten-Geier.

Erster: In der Hansestadt Hamburg haben wir einen beherrschenden Zeitungsherausgeber. Dieser Mann hat achtzig bis neunzig Prozent der gesamten Presse Hamburgs unter seinem Pantoffel. Was sagen Sie zu so einem Monopol?

Nebel: Das halte ich auch für eine Form von Gewaltherrschaft, über die ich mich schon ablehnend genug geäußert habe. Mag er es tun! Wenn er die Gewaltherrschaft mit Hilfe der Presse ausübt, so ist er genau als einer von denen zu verstehen, die in der Fuge als „Tinter“ von mir abgelehnt werden.

Nun Inge Gutzeit zu Tinfort:
Eine unreine Gnitze,
Eine fertige Niete,
Ein Reff unter Irren!
Erregt Gegen-Eifer,
Nennt Nerz Erz,
Erz Terz,
Ernte Grete.
[…]
Grete Niger,
Niger fett, Fett frigid!
Entfettet Finger in Nierentee,
Zergeunert in Tenten.
Nennt Inge Gutzeit gute Gezeiten-Rinne:
Zur Zeit eine fette Irre,
Nur unter eifernden Geiern zu retten!

Zweiter: Der Unterschied zur Lyrik konkret oder konkreten Poesie scheint mir doch zu sein, dass er Sinnzusammenhänge nicht sprengt.

Erster: So? Also dann, was ist das hier: „Ein Frierer in Eigengrenzen“ oder „Einfrierer in Eigengrenzen“?

Dritter: Oder hier: „Feine Netze treffen reine Ringe“?

Zweiter: Na gut, das verselbständigt sich vielleicht manchmal. Ich meine aber den Zusammenhang:

Der tote Grunzer
zu Urten-Reifen in Unzig:
Nie zu retten!
Zertufft innen, nur Untier –
In unteren Tiefen zu irr.
Ein Zentner unguter Gier nur,
Eine unreine Gruft nur.

Ein Greifen in teigige Futter
Regnete nur Runen runter.

Ferntreffer, regt eure Gere!
Feine Netze treffen reine Ringe.

Erster: Bemerkenswert, zumindest aus heutiger Sicht, ist doch auch diese Stelle:

Gutizeff Nurugin zu Rusg:
Gutizeff ging unter Nenin
Zur Eiferer-Zunft.
Unter Truzki ging er
Zu Gegen-Eiferern.
Unter Gegnern
Ging er zur Eigen-Zunft.
Zunft Nurugin
Ging unter Eignereien ein!
Gutizeff ging zur
Neuerer-Innung. In Innungen
Treten Zerneiner.

Nurugin ging. Ging zur Zeitung.
Zeterte gegen Neuerungen:
Truski gegen Nenin, Nenin gegen Truski!
Eiferer gegen Gegen-Eiferer.
Zeterte gegen Zunft, gegen Innungen, ging.

Ging zur Gegen-Zeitung.
Zerging unter Zerrereien
Zu Irrenteig.
Nun rette ein Eiferer
Einen irren Gutizeff!

Nebel: Ich glaube, dass unter denen, die dort in „Unfeig“ Freie genannt werden, jene zu verstehen sind, die den Unterschied zwischen einer abgebrauchten Sprache und einer durch die Kunst der Fuge erneuerten Wortkunst fähig sind zu hören:

Rettet ein Firner in Runen
Eine Erinnerung nur?
Nein! Er ertrug ein Tiefen-Erzittern
Entfernter Erregter
In einer Reiniger-Fuge
Erneuerter Runen.

Dritter: Das ist sozusagen der ästhetische Schlüssel zum Ganzen: eben explizit nicht der Elfenbeinturm! Eine Selbstaussage, wie sie deutlicher von ihm nicht in den Text eingebaut werden konnte. Wie aber ist sein Verhältnis zum politischen Umfeld?

Erster: Herr Nebel, welche Regierungen sind schlecht?

Nebel: Eine Regierung ist dann schlecht, wenn sie nicht vom Volk geprüft werden kann, das heißt, wenn sie nicht absetzbar ist, sobald sie sich auf Irrwegen bewegt.

Erster: Was würden Sie dagegen tun?

Nebel: Ich würde mich immer auf die Seite derer schlagen, die ohne Gewalt Änderungen wollen.

giu / fen / rtz:
Neun Runen nur, nur neun.

Uwe Friesel, aus Gabrielle Alioth und Hans-Christian Oeser (Hrsg.): Im Schnittpunkt der Zeiten. Autoren schreiben über Autoren. Synchron Wissenschaftsverlag der Autoren, 2012

 

 

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