Raoul Schrott: Fragmente einer Sprache der Dichtung

Mashup von Juliane Duda zum Buch von Raoul Schrott: Fragmente einer Sprache der Dichtung

Schrott-Fragmente einer Sprache der Dichtung

EINIGE GANZ PRIVATE ÜBERLEGUNGEN ZUR LITERATUR UND DEN EIGENEN ANFÄNGEN

Ich habe früh Gedichte zu schreiben begonnen; warum, ist schwer zu sagen. Literatur war von Kindheit an etwas Selbstverständliches; was an den vielen Orten, an denen wir wohnten, gleich blieb, waren die Bücherregale im jeweiligen Haus und die abonnierten Zeitungen. Sprachen, das Französische und Arabische, waren in Tunis ebenfalls selbstverständlich, auch wenn sie sich nicht von selbst verstehen ließen. Um überhaupt erst das ABC zu lernen, mußte man zuvor Vokale und Konsonanten beherrschen, die anders waren und doch selbstredend; man mußte sie handhaben lernen wie Teile eines mechanischen Kreisels, es war ein Spielzeug mit vielen Zahnrädern, und es zu gebrauchen kostete Mühe, weil es weder gewohnt noch das eigene war. Sich mitzuteilen ging einem so vorerst nie ohne Denken über die Zunge, und wenn, war es ein Radebrechen, bei dem man meist Purzelbäume schlug.
Zu sprechen hieß, Fremdes sich anzueigenen, zu verstehen bedeutete, Regeln anwenden zu lernen, die kompliziert waren; eigentlich jedoch erlernte ich die Sprache nur über den Klang der Worte, die sich langsam festsetzten, sozusagen am Grunde dieser sich dauernd drehenden Bewegung. Doch der Vergleich trifft nur halb zu, der Kreisel schlug regelmäßig an der Hauswand an: Sprache war auch etwas, das sich in der Vorstellung zwischen einen selbst und die anderen schob, ein Paravent vielleicht, oder eine Glasscheibe; die Worte waren aufgemalte Zeichen, und ihre Fremdheit verlieh ihnen zusätzlich etwas Materielles. Der Abstand zu ihnen hatte etwas Statisches und damit Melancholisches an sich; was wohl eine natürliche Folge davon war, sich als Kind in einem fremden Land als Außenseiter zu empfinden. Abgesehen davon, daß man, wenn man jung ist, meist meint, Gedichte hätten mit dieser Stimmung zu tun, behielt die Sprache darüber hinaus lange für mich den Charakter jenes Rebus und jenes magischen Quadrates, die man auf Dürers Melencolia abgebildet sieht.
Aus Kindheitserfahrungen Bedeutungen ableiten zu wollen, läuft stets Gefahr, im nachhinein einer ungerechtfertigten Psychologisierung aufzusitzen, dessen bin ich mir bewußt; ich will sie daher nur als einen möglichen Ausgangspunkt anführen, von dem aus sich einige Linien ziehen lassen. Eine davon hat damit zu tun, daß ich mit neun, zehn Jahren begann, Gedichte zu schreiben, gerade nachdem wir von Tunis nach Österreich übersiedelt waren. Diesen Ortswechsel empfand ich nicht, wie der Eindruck sich vielleicht aufdrängt, als Rückkehr in eine gewohnte Sprachumgebung, im Gegenteil: das Hochdeutsch, das man uns in der Schule versuchte beizubringen, war im Grunde genauso fremd wie das Arabisch, das man auf der Straße oder beim Einkaufen hörte. Die Sprache, die einem eigen war, blieb der Dialekt: in ihm denke und fluche ich, er liegt dem unmittelbaren Ausdruck näher als das scheinbar kultivierte Paradigma einer Hochsprache.
Worauf ich damit hinauswill, ist, daß zwischen Dialekt und Hochsprache ein qualitativer Unterschied besteht, der auch mit meiner Auffassung von Literatur zu tun hat. Schriftsprachen haben – egal, was Linguistik meinen mag – etwas Zentralistisches, Hierarchisches und Rigides, sie sind Instrumente der Politik und einer Einheit, die über das Individuelle hinausgeht; sie setzen Regeln fest, die immer konservativ und deshalb der natürlichen, dynamischen Entwicklung von Sprache entgegenstehen. Nicht nur ihr Lexikon ist anders, auch ihr Klang: ob King’s English, das Pariser Französisch oder das Deutsch aus der Gegend von Meißen, alle haben ein Vokaldreieck gemeinsam, das höher liegt, näher an der Zunge und den Zähnen, als jenes des Dialekts, das eigentlich in allen Sprachen weicher ist, nicht unbedingt nur gutturaler, aber doch zumindest weiter unten, hinten im Hals. Der Dialekt ist die Sprache des Affekts; die Hochsprache dagegen verrät, daß man unter Kultur auch immer Kontrolle meint, die sich auch auf die Mimik überträgt: die steife Oberlippe der Engländer, das Nasale des Französischen, der Klangraum des Hochdeutschen, der die Resonanzen aus dem Bauch in die vordere Mundhöhle verlegt, so wird aus dem Affekt auch Affektiertheit.
Dagegen anzuführen, daß das Hoch im Hochdeutschen ein geographischer Terminus ist, weil die Lautverschiebungen in einem Sprachraum stattfanden, der eben hoch ist – im Gegensatz zur Flachheit des Plattdeutschen –, dieser Lokalpatriotismus dem Deutschen gegenüber nützt leider nichts. Doch der Vorteil, daß eigentlich in Österreich jeder zweisprachig aufwächst, ist für die Literatur nicht zu übersehen; der große Anteil österreichischer Schriftsteller in der deutschen Literatur mag damit zu tun haben, daß man das Schriftdeutsch als etwas Fremdes lernt und deshalb auch bewußt als eigenes Medium mit eigenen Gesetzen begreift, als Instrument, bei dem man sich eine Fingerfertigkeit erst erwerben muß. Damit meine ich nicht die Anstrengung, der es bedarf, um ein fixes Repertoire an Stil und Vokabular sich anzueignen, sondern auch die Fähigkeit, die sich in diesem ungewollten Abstand zum Schriftdeutsch entwickelt, Sprache zu manipulieren, ihre dogmatischen Strukturen zu unterlaufen und den eigenen Zwecken nutzbar zu machen: die Wiener Gruppe mit ihren konkreten und dialektalen Ansätzen ist ein mehr als sprechendes Beispiel dafür.
Meine eigenen Anfänge waren natürlich banal. Mein erstes Gedicht entstand jedoch in diesem Kontext; es war der spielerische Versuch, Verszeilen zu bilden, die auf denselben Vokalen aufbauten:

der tag war lang und alt

Was ich mit dem u darin tat, weiß ich nicht mehr, einen gewissen Perfektionsdrang hatte ich schon damals, und wahrscheinlich wird die nächste Zeile nur mehr aus u’s bestanden und sich mit lautmalendem Hundegebell – „a-u: a-u“ – zufrieden gegeben haben. Mit 14 oder 15 dann las ich an deutscher Literatur Celan, und schrieb dementsprechende Gedichte, die von der Lust an der obskuren Metapher getragen waren. Ich fand wahrscheinlich das Rätselhafte fremder Sprachen in der Diktion Celans wieder und auch die Lust daran, verbunden mit dem üblichen pubertären Weltschmerz; „der glaskörper im herzgestrüpp“ ist etwas, an das ich mich noch erinnere; damit war offensichtlich das Auge gemeint; wieviel jedoch schlicht abgeschrieben und neu montiert war, kann ich nicht mehr sagen. Nichts gegen das Kopieren, nur so lernt man das Handwerk, und die Literatur legitimiert jede Art von geistigem Diebstahl und nennt es dann Intertextualität.
Und auch die Kleinschreibung der Zeilen kam wohl daher, daß dies in den 70ern noch gang und gäbe war. Im nachhinein kann ich es wieder mit den hierarchischen Strukturen der Sprache begründen, denen eine konsequente Kleinschreibung viel an Raum abgewinnen kann, besonders in der Poesie, wo ja nicht einzusehen ist, weshalb Substantive Hauptworte sein sollten, denen man eine Dominanz gegenüber anderen, sozusagen minderen Wortarten zugesteht. Ich habe übrigens bis heute noch nirgendwo etwas darüber gefunden, woher diese weltweit einzigartige Großschreibung des Deutschen kommt, die mir nie sympathisch war, weder rational noch ästhetisch. Meine Annahme hat damit zu tun, daß zur Zeit des Buchdrucks die geistige Elite Europas aus Scholastikern bestand, die über Spanien viel über die jüdische mystische Tradition gelernt hatten, Gelehrte wie Agrippa von Nettesheim und Athanasius Kirchner, die sich in der Kabbala und der Gematrie auskannten, Systeme, die in Richtung einer Suche nach einer vollkommenen Ursprache gingen. Die Großschreibung als verborgenes Akrostichon oder Anagramm einer in sakralen Texten verschlüsselten Botschaft Gottes mag darin ihren Ausdruck gefunden haben; und da diese Art von Intellektuellen damals auch den Buchdruck monopolisierten, mag es zu diesem pseudo-logischen Chaos von groß und klein geschriebenen Lettern gekommen sein – aber das ist, wie gesagt, nur eine Vermutung.
Von der Schule her war für mich die Kleinschreibung das Normale, ebenso wie auch die deutsche Literatur mich nur am Rande interessierte. Das erste Buch, das ich besaß, war Asterix et Obelix auf Französisch, die Schulsprache war Französisch und auch die Bücher, die ich später las, waren französische Literatur. Mit 11 oder 12 stieß ich auf die Surrealisten und auf Camus. Nicht daß ich viel verstanden hätte, aber die Sprache, der Umgang mit ihr im Gegensatz zur deutschen Schwerheit und Behäbigkeit faszinierte mich. Auf Breton kam ich über seinen Romantitel Nadja, das klang geheimnisvoll nach Frau; und auf Camus ähnlich – ich kann mich noch daran erinnern, daß mir auf einer Zugfahrt nach Innsbruck ein hübsches Mädchen gegenübersaß, das mich überhaupt nicht beachtete, dafür aber umso vertiefter in einem roten Taschenbuch las, auf dem in großen Buchstaben eine Cognacmarke stand. Das erste Buch, das ich dann von Camus las, war Der Fremde, den ich mir in der Stadtbücherei auslieh, und viel später war es der erste Entwurf dazu – Der glückliche Tod –, den ich mehrmals, zuerst in einer englischen Übersetzung, las. Ich war ein bißchen früh dran mit diesen Sachen, ich weiß, aber ich war mir dessen nicht unbedingt bewußt; natürlich las ich auch Karl May; und das wirklich unter der Schulbank, oder Der Pirat von Carthagena, der mir genügend Stoff für viele Erlebnisaufsätze bei den Schularbeiten lieferte. Aber die Schwierigkeiten dieser Prosa überging ich einfach; was ich wahrscheinlich suchte, und, weil es mir vertraut war, jedenfalls auch fand, war eine Sprache, die nichts mit der alltäglichen zu tun hatte, sondern  ihre Zeichen einsetzte, als wollte sie sich über etwas ganz anderes verständigen. Es überraschte mich nicht und stieß mich auch nicht ab; mit derselben Selbstverständlichkeit, kaum etwas zu verstehen, aber mir meinen Teil zu denken und es mir so zu eigen zu machen, hörte ich auch Zwölftonmusik, Klaus Schulzes Synthesizer, Keith Jarrett und Freejazz, neben Gentle Giant und Genesis, Joni Mitchell oder Leonard Cohen: es war Neugierde auf irgendein obskures Objekt der Begierde, das ich nicht im entferntesten nennen oder auch nur umschreiben hätte können.
In der Reminiszenz standen die Surrealisten und Camus für gegensätzliche Auffassungen von Literatur, die ich mich auch heute noch bemühe auf einen Punkt zu bringen. Die Surrealisten rückten einen Aspekt in den Vordergrund, der mit Lust an der Sprache zu tun hatte, reine Poesie war und einen ästhetischen Ansatz verkörperte, bei dem das Erotische und Schöne wirklich unmittelbar war – und nicht berechnend, didaktisch und moralisch wie in den Schulbüchern der deutschen Literatur. Camus dagegen verankerte diese Ästhetik in einer existentiellen Prämisse, die meiner diffusen Vorliebe für das Melancholische – in der sich im Grunde nur eine Kindheit unter fremden Menschen widerspiegelte – die scharf umrissenen Konturen des Absurden gab. Als ich fünfzehn war, hielt ich Vorträge im Deutschunterricht über den Mythos von Sisyphos und Sie können sich vorstellen, wie oft ich dieses Buch wohl gelesen haben muß, um auf irgendetwas für mich Zugängliches zu stoßen; die Mühe lohnte sich auch in bezug auf meine Noten übrigens kaum, dazu hatte ich immer zuviele Beistrichfehler.
Was mir heute jedoch klar wird, ist, daß der Grund, weshalb mir diese beiden grundverschiedenen Literaturbegriffe so lange zum Denken gaben, darin bestand, daß sie Haltungen verkörperten, einen état d’esprit, der mir immer noch wichtiger ist als die Literatur selbst. Sie waren poetische Akte und nicht bloß Entwürfe vom Schreibtisch aus. Und sie hatten trotz aller Unterschiedlichkeit nicht nur die Genauigkeit ihrer Sprache – obwohl auf verschiedenen Ebenen – gemein, sondern darüber hinaus einen Entwurf, der sich mit einer nihilistischen Auffassung der Welt auseinandersetzte. Nur ihre Reaktionen darauf waren anders: der Surrealismus stellte seine poetischen Metaphern, seine ganze Romantik gegen das Absurde, um es zu überwinden, Camus einen lakonischen und stoischen Realismus, um es nicht aus den Augen zu verlieren. Und bei beiden war der Verfremdungseffekt der Literatur deutlich: die Möglichkeit, Wirklichkeiten damit ebenso gerecht zu werden, wie man im selben Augenblick wußte, daß sie dennoch verfälscht wurden. Was ich in der Gegenüberstellung beider lernte, war, sie, und jede Perspektive, die Anspruch darauf erhob, gültig zu sein, zu relativieren. Das Maß dieser Skepsis war das Leben; die Kongruenz mit ihm legitimierte sie erst und verlieh der Literatur ihre Relevanz. Sich ihm zu stellen war eines, ein anderes, ästhetische Formen zu finden, um es begreifbar und auch lustvoll zu machen; das war die Konkretheit in der Literatur, nach der ich suchte, über die ich auch noch ein zweites lernte – nämlich nicht nur von ihr, sondern auch von mir zu abstrahieren.
Die Sprache hat dazu, seit ich denken kann, Vorschub geleistet. Sie verlieh die nötige Distanz. Das war mit einer der Gründe, weshalb ich lange Jahre, wenn ich überhaupt so etwas wie ein Tagebuch führte, auf Englisch schrieb. Der Anlaß dazu waren die ersten Reisen mit vierzehn per Autostop oder mit der Bahn durch Europa: man unterhielt sich auf Englisch, man lernte täglich dazu und begann schließlich auch in dieser Sprache zu denken. Die einfache Syntax, ihre klaren Subjekt-Objekt-Beziehungen und der ungleich ausdifferenzierte Wortschatz halfen, was man sah und dachte zu objektivieren, einen Überblick zu gewinnen. Derselbe Gedanke auf Deutsch klang zu dieser Zeit in meinen Ohren immer zu abgenutzt, zu banal: das halte ich zum einen immer noch für korrekt, weil die deutsche Sprache durch ihre ganze geistesgeschichtliche Entwicklung hindurch und zuletzt durch das Dritte Reich viel an affektivem Sprachgehalt verloren hat. Zu verkopft oder zu prüde, hat sie weder ein Vokabular für das Erotische, noch intakte Worte für das Metaphysische übriggelassen: von Heimat bis Sehnsucht, von Geist bis Seele sind die Wortfelder der Poesie nur mehr in Paraphrasen überhaupt verwendbar.
Eine andere Sprache hilft anfangs beim Schreiben, man hat dann weniger mit sich selbst zu tun – aber dann gerade wieder nicht. Wenn man zu schreiben beginnt, braucht man erst einmal hunderte von Seiten, weniger um den eigenen Stil zu finden, als sich die ganzen Klischees, die man für Literatur, und den Kitsch, den man für Gefühle hält, vom Leib zu schreiben. Eine fremde Sprache hat da einen anderen Effekt. Da man anfangs ohnehin nur zwei Drittel beherrscht, erschließt man sich beim Lesen oder Zuhören den Rest über den Kontext; die Vokabeln, die man nicht versteht, füllt man mit eigenen Projektionen an, die wiederum durch den Klang der Buchstaben eine eigene musikalische und emotionale Prägung erfahren. Von den Comics angefangen, deren Sprechblasen ich mir zum Großteil selbst erfand, bis zu den englischen Büchern, die ich las, wenn mir eines in die Hände fiel – wahllos, von Thrillern bis Tolkien, Henry Miller oder Nabokovs Lolita –, las ich zwischen den Zeilen: nicht ganz mich selbst aber etwas das irgendwie meinen Erwartungen entsprach. Eigentlich las ich so das, was ich gerne gelesen hätte, geschrieben von einem alter ego, ohne daß es wirklich so dastand.
Natürlich war das ein Mißverständnis, doch zugleich ein kreatives. Eines der schönsten, an das ich mich erinnere, war eine Zeile aus einem Lied. Ich brachte mir das Gitarrespielen bei, indem ich endlos dieselben Lieder laufen ließ und mir so die Tonleitern und Akkorde heraushörte und mir dazu den Text notierte:

… hungry as an orangetree through which the troops have passed

Jedes Mal, wenn ich dieses Lied höre – obwohl ich heute weiß, daß es nicht „orangetree“, sondern „archway“ heißt –, sehe ich immer wieder dieses Bild eines Orangenbaums in einem dürren Landstrich, ein staubiger Weg den Hang hinunter, die Blüten ebenso staubig weiß, und die Sonne irgendwo von rechts, abends. Ein anderes ist ein französischer Vers, bei dem ich statt „Venus se leve à l’horizon“ dauernd „Venus se lave à l’horizon“ las: Nicht der Stern, der sich erhebt, sondern Venus, die sich am Horizont wäscht, und zwar sehr langsam und sorgfältig, ein Bildtitel wie von Max Ernst.
Tagebuchaufzeichnungen liegen mir nicht, dazu ist der Glaube an die Bedeutsamkeit meiner Person und meiner Empfindungen zu gering. Was mich allein veranlaßte, etwas aufzuschreiben, hing zuerst mit dem Reisen zusammen. Meine erste Reise ging nach Griechenland, von dem ich nur die Vorstellung hatte, daß sich dort eine Akropolis an die andere reiht. Was mich dann überraschte, war ein déjà vu: die weiß gekalkten, geometrischen Häuser, die ich seit meiner Kindheit von Sidi Bou Said kannte, das helle Blau, das Meer und die Brechung des Lichts. Ich saß jeden Abend in einer Bar auf einer alten venezianischen Festungsmauer, trank Gin mit Zitrone, weil das noch am ehesten nicht nach Alkohol schmeckte, rauchte zwei Zigaretten, ohne sie zu inhalieren, nur um etwas mit den Händen zu tun zu haben, ein Vorwand, um ungestört und unbeteiligt zu bleiben, und schaute. Es war ein Augenblick seltenen Glücks, wie man so sagt, und schwer zu beschreiben; als wäre man plötzlich ganz durchlässig, eins mit dem was man sah, als wäre man nur mehr im Blick vorhanden, und die Sprache kam wie von selbst, sie war nicht die eigene – aber was war das in diesem Moment schon –, sie hielt es fest, als ob nicht ich sie sagen würde:

afternoon burns upon the wires ofthe sea

Besser läßt es sich nicht beschreiben, und darüber hinaus ist es auch ohne Bedeutung, aber ich denke mir, daß man solche Vorgänge Inspiration nennt, das Ereignis der Musen, wie es in der Antike hieß, oder das, was die Dadaisten l’écriture automatique nannten. Die Sprache verselbständigt sich, die Schwelle des Bewußtseins ist angehoben oder abgesenkt, je nachdem, wieviel Raum man primären Prozessen zugestehen will. Und der Satz, der sich im Kopf materialisierte, kristallisierte, wie aus einer gesättigten Lösung, war nichts eigenes und war es doch – darin lag für mich eine Schönheit, die ich auch selbst empfinden konnte; an dem, was man selbst produziert, spürt man so etwas selten, weil man es zu genau kennt: die Schönheit muß immer auch etwas Fremdes haben.

 

 

 

Über dieses Buch

„Wenn ich heute anfangen könnte, würde ich gerne dort weitermachen, wo er ist. Ja, ich beneide ihn“, so äußerte sich H.C. Artmann über den jungen Tiroler Dichter Raoul Schrott. In dieser Anerkennung von poetisch höchster Ebene schwingt nicht nur das Lob eines dichterischen Talents mit, sondern auch die Wahlverwandtschaft mit einem Wortreisenden, der in vielen Sprachen beheimatet ist:
Schrott übersetzt aus mehreren Sprachen, darunter so entlegenen wie Gälisch, Baskisch oder Okzitanisch, und legte auch eine neue Sappho-Übersetzung vor. Ein Autor, dessen Kenntnisse der Weltliteratur – und dieser Begriff umfaßt nicht nur das aktuelle Romanschaffen der Gegenwart, sondern altsumerische Gesänge genauso wie provençalische Volksdichtung – fundiert und sehr oft durch eigene Nach-dichtung erworben sind, ein solcher Autor eignet sich wie wenige andere dazu, über ,Dichtung‘ in all ihren Facetten zu sprechen.
Was in Schrotts bescheidenen Worten nur Fragmente einer Sprache der Dichtung sind, sind die Poetikvorlesungen, in denen der Autor genauso eloquent zeitgenössische Ästhetiktheorien wie Interpretationen einiger Sappho-Fragmente vortragen kann. Und vor allem sein Bekenntnis, daß Dichtung nicht Eingebung von oben ist (in welch verborgenen Formen auch immer), sondern machbar, Handwerk mit materiellem Boden: Poesie und Physis.

Literaturverlag Droschl, Ankündigung

 

Raoul Schrott: Fragmente einer Sprache der Dichtung

Was Raoul Schrott in seinen Fragmenten einer Sprache der Dichtung als Kardinaltugenden der Poesie formuliert, wächst sich gelegentlich zu den geläufigen kapitalen Mißverständnissen aus, die man ihr entgegenbringt. Das umfaßt vor allem drei Bereiche: die Rolle der figurativen Sprache, speziell der Metapher, als Grundlage der Poesie; das Verhältnis von Poesie und Naturwissenschaft; das Verhältnis von Poesie und einer unabhängig von ihr angenommenen Wirklichkeit.
Zurückgreifend auf Nietzsches Diktum von der Wahrheit als einem beweglichen Heer von Metaphern, Metonymien und Anthropomorphismen, sieht Schrott die zentrale Rolle der Metapher für die sprachliche Repräsentation der Welt darin, daß sich in ihr die wörtliche und die übertragene Bedeutung derart überlagern, daß keine hierarchische Beziehung zwischen den beiden besteht: weder dominiert der Ursprungszusammenhang des metaphorisch verwendeten Wortmaterials den Übertragungszusammenhang noch umgekehrt. Die Konnotationen zu diesen beiden Bereichen interagieren und schaffen ein selbständiges Drittes (das tertium comparationis). Dieses erkenntnistheoretische Konzept der Metapher überträgt Schrott auf die Sprache der Naturwissenschaften und deren Gegenstandsbereich. Weil wir in Metaphern und Analogien denken, seien diese die Grundlage der naturwissenschaftlichen Theorien.
Indem Schrott die Metapher als Basis favorisiert, führt er für die Betrachtung des Sprachgebrauchs in der Naturwissenschaft gerade jene Hierarchisierung ein, die er für die Metapher an sich bestritten hat: er betont das Übertragene der naturwissenschaftlichen Formulierung zuungunsten ihres Wörtlichen. So analysiert er z.B. Schrödingers berühmtes Experiment mit der Katze, die zugleich tot und lebendig ist, insofern, als er Schrödingers Sprachgebrauch als metaphorischen bloßlegen will. Schrotts Analyse der Textstruktur des Katzenexperiments soll qua Analogsetzung Metapher – Quantentheorie den Komplex der Quantenphysik näherbringen, ohne sich auf physikalische Kompetenzen berufen zu müssen. Schrödingers Experiment wird als Poesie betrachtet.
Diese universale und mißverständliche Bewertung der Metapher – quasi als ein Deus ex machina der Kognition – führt zur nächsten Annahme in Schrotts Ausführungen: Er argumentiert für einen vertrackten erkenntnistheoretischen Realismus: es gebe Dinge in der Welt unabhängig von ihrer Wahrnehmung; wenn die sprachlichen Begriffe bislang nicht ausreichen, diese Welt hinreichend zu beschreiben, so liegt das nur daran, daß diese Begriffe eben noch nicht gut genug sind. Grundsätzlich aber gebe es die Möglichkeit, solche passenden Begriffe und Beschreibungen zu finden („aus realen Fragmenten Sinn zu machen“). Mittler und Weg zu diesem Zweck sei die Poesie eben wegen ihrer Fähigkeit zu einem figurativen, bildlichen Erkenntnismodus. Denn: menschliche Kognition erfolge in Bildern und Similes, wie naturwissenschaftliche Experimente bewiesen. Bei der visuellen Wahrnehmung (z.B. von geometrischen Formen) würden Neuronen im Hirngewebe so organisiert, daß sie diese (z.B. geometrischen) Formen nachbildeten. Eine solche in der Neurobiologie wie Cognitive Science umstrittene Repräsentationstheorie paßt Schrott in sein realistisches Konzept. Sie beruht auf der Substantialität des Wahrnehmbaren und des wahrnehmenden Apparates. Von dieser – sich selbst nicht eingestandenen – Bastion des Realismus gelangt Schrott zu weiteren problematischen Annahmen: zur Erklärung der sogenannten Wirklichkeit aus der Etymologie (indem er die Geschichte eines Wortes mit substantieller Realität versieht); zur „Enttäuschung darüber, daß die Literatur reale Fakten verfälschen muß, um ihren Effekt zu erreichen“ (demgegenüber sind die Gedichte in Schrotts Gedichtband Hotels von dem Anspruch getragen, „man müsse die Orte so wiederfinden können, wie sie beschrieben sind“); zur Vorstellung schließlich, die poetische Sprache sei den Chiffren der Natur verhaftet (etwa in der Analogie, die er zwischen der Struktur einer Metapher und der Symmetrie eines Kristalls behauptet).
Was Schrott in diesen Annahmen voraussetzt, was ihm die Basis für seine Dichtung und Poetik abgibt, das steht in anderer Dichtung, die die Poesie als Erkenntnisinstrument betrachtet und zugleich hinterfragt, auf dem Spiel.

Thomas Eder, Literaturhaus Wien, 17.12.1997

Weitere Beiträge zu diesem Buch:

Ralph Dutli: Lauter von leichter Hand aufgestossene Schatzkammern
Die Weltwoche, 9.10.1997

Thomas Steinfeld: Wo jeder Tag an Licht gewinnt
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.10.1997

Jürgen Engler: Poetische Kartographien
Neue Deutsche Literatur, Heft 6, 1997

Paul Jandl: Poesie und Pose
Neue Zürcher Zeitung, 28.2./1.3.1998

 

 

 

Fakten und Vermutungen zum Autor + DAS&D + ÖM + KLGIMDb +
PIA
Porträtgalerie: Autorenarchiv Isolde Ohlbaum + Keystone-SDA +
Brigitte Friedrich Autorenfotos
shi 詩 yan 言 kou 口

 

Raoul Schrott im ORF Interview bei Treffpunkt Kultur am 24.10.1997, Teil 1/2.

 

Raoul Schrott im ORF Interview bei Treffpunkt Kultur am 24.10.1997, Teil 2/2.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00