Richard Anders: Das entzweite Gesicht

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Richard Anders: Das entzweite Gesicht

Anders/Tschernay-Das entzweite Gesicht

TRAUM VOM TOD GEORG HEYMS

Von einer Sekunde
von einer Eisscholle
zur anderen springend
während von einer Sekunde
zur anderen
eine Eisscholle von der anderen treibt
eine Sekunde von der anderen treibt
ein Himmelskörper vom anderen treibt
weiß er
daß zwischen Eisschollen
und Sekunden
und Himmelskörpern
der Abstand endlich
endlos wird
und er
wie weit er auch springt
über kurz oder lang
einmal zu kurz springt

 

 

 

Der Tisch tanzt übers Meer

Im Gedenkjahr des Surrealismus pfeifen es die Spatzen nicht gerade von den Dächern: die surrealistische Literatur hat auch in Deutschland seit den vierziger Jahren eine bescheidene Bastion. Weithin unbekannte Namen wie K.O. Götz, Johannes Hübner, Joachim Uhlmann, Lothar Klünner wären zu nennen. Ein Grüppchen, so klein und anfangs gänzlich unsichtbar, daß der Übersetzer Friedhelm Kemp nach 1945 meinte, einen deutschen Surrealismus erfinden zu müssen, um einer etwas tristen Nachkriegsanthologie mehr Pep und Farbe zu verleihen.
Als Friedrich Umbran dichtete er:

Unter den süßen Schenkeln
Wenn die Galle der Gärten im Nebel schläft
Und die Teiche wie Bienen sich umsehen…

Mit seinem eigenen guten Namen wollte Kemp dafür nicht geradestehen.
Kein Kryptosurrealist, sondern ein ganz und gar passionierter ist der in Berlin lebende Lyriker Richard Anders, 1928 in Ortelsburg/Masuren geboren. Ein Mensch von sanfter Schale aber rauhem Kern, wenn es darum geht, Breton und den Surrealismus in der Welt zu verteidigen.
Anders hat in den sechziger Jahren in Paris eine Weile als Sympathisant an den abendlichen Treffen der Surrealisten im Promenade de Vénus teilgenommen und den Meister unter anderem dabei ertappt, wie er ständig den großen Wandspiegel gegenüber wegen potentieller Attentäter in seinem Rücken observierte.
Nach dem Krieg debütierte Richard Anders mit Versen, die in der bereits erwähnten Nachkriegsanthologie De profundis auch gut und gerne hätten Anstoß erregen können:

Wenn das Maul der Luft
eine Möwe speit
fallen die Marmorlaken des Himmels
donnernd in die Brüste der See

Wenn Kemp davon gewußt hätte…
Ja, de profundis. Ein bißchen profund hat es der deutsche Geschmack schon ganz gern. Ein bißchen schwer, ruhig auch schwer verdaulich.
Nur nicht zu leicht! Dadaismus ja. Wo gehobelt wird, da fliegen Späne. Bei Dada fällt so viel Schredder, so viel Sprachschrott hinten raus, da merkt man schon, wie da gearbeitet wurde. Das spricht das deutsche Handwerkergemüt an. Aber Surrealismus? Ziemlich schräg, ziemlich französisch, ziemlich artistisch. Ganz schön, aber wozu das Ganze?
Mit solchen Sinnfragen wird dem Surrealismus hierzulande das Leben schwer gemacht. Nehmen wir zum Beispiel Anders’ Gedicht „Steinbläue über dem Dolchschatten“ vom Anfang der sechziger Jahre:

Weil das Fleisch mit
dem Knochen schläft
rollen Augen über den Tisch
tanzt löwenbeinig
der Tisch übers Meer
öffnet das Meer Fenster
über einem Meer von Gesichtern

Hier werden Dinge behauptet, die nur schwer nachvollziehbar sind.
Das Gedicht kann sich nicht ausweisen, weder als Sinngedicht noch als lyrisches Stimmungsgedicht. Erst recht nicht als engagiertes, dazu fehlt ihm der angemessen freudlose Ton. Es hat keine Chance, in ein Lesebuch der sechziger Jahre aufgenommen zu werden, neben Versen von Kunert, Fried oder Enzensberger denn wo sind in diesem Gedicht die sechziger Jahre? Keine Chance, überhaupt in ein Lesebuch zu kommen denn was soll man hier herausinterpretieren? Es wirkt so leicht, so übermütig, als hätte es gar keine Arbeit gemacht.
„Weil das Fleisch mit dem Knochen schläft“ und weil überhaupt in der surrealen Sphäre das Prinzip hemmungsloser Promiskuität ohne jede Artschranke zwischen den Dingen herrscht, tanzt hier eben der Tisch wie ein Löwe übers Meer, tanzen alle Dinge in einer Springflut von Metaphern, paradoxen Bildern, nie gesehenen Schimären in bockshafter Ausgelassenheit umeinander.
Dieser kühne und kynische Humor, bei Autoren wie Benjamin Péret oder Dalí/Buñuel noch gesteigert bis zur Groteske, der animiertesten und animierendsten Form der Verneinung, ist das eigentliche Lustprinzip der surrealistischen Produktion. Und bietet, wenn man so will, auch eine Message. Was hier sabotiert wird, ist jede Ordnung, jede schablonisierte Sinnstruktur, die der Studienrat Mensch so gern entdeckt. Das große Tollhaus, das Absurde selbst in seiner Schönheit und Phantastik, um deren Idiom sich der Surrealismus bemüht, ist der Sinn. Aber dafür muß man einen Sinn haben, eine spezielle poetische Konstitution mitbringen. Diese Art von poetischem Humor kann man wohl nicht lernen, sowenig wie den Patriotismus.
Man hat ihn, oder man hat ihn nicht. Der Surrealist ist der Patriot des Absurden. „Die geballte Faust, die sich aus dem Bild streckt, enthält alle Geheimnisse. Aber wenn sie sich öffnet, wirst du nichts herausfallen sehen. Darum bewahre die in sich geschlossene Wut, das Wetterleuchten“, heißt es in einem Anders-Text.
Seit einigen Jahren erzeugt Richard Anders mit seinen Texten in Ostberliner Avantgarde-Kreisen den Zauber wieder, der sie erschuf.
Kleine interessante Zeitschriften und Orchideen-Verlage wie Herzattacke und Edition Maldoror bringen seit langem vergriffene und ungedruckte Gedichte in Liebhaberausgaben heraus. Zuletzt erschien der Band Schattenmundreden mit automatischen Texten. Jetzt gleich zwei ebenso aufwendige Künstlerbücher: Das entzweite Gesicht mit sieben farbigen Originalgraphiken von Rainer Tschernay und der Zyklus Weißes Entsetzen mit sechs Unikaten von Gerald Titius.
Natürlich läßt sich automatisches Schreiben, das ja gleichsam etwas Vegetatives ist, nicht rezensieren, auch nicht die lianenhafte Vegetation, die bei Anders mit tropischer, teils unwegsamer Üppigkeit aus dem Unbewußten hervorsprießt. Wüsten und Meere werden bewegt, Himmel und Hölle gegeneinander kontinentalverschoben. Und wie in den orientalischen Märchen die Dschinnen galoppieren hier die biblischen Helden und geflügelten Schutzgeister auf zügellosen Metaphern durch die Lüfte, die oft knurren unter den weiten Sprüngen, die sie vollbringen müssen mit ihrem schweren Gepäck von Adjektiven und Prädikationen.
Und das lyrische Ich? Das ist ja die große Verlockung, der Eros des Surrealismus: Erosion des Ich. Nicht nur die Uhren schmelzen, mit dem Strömen der Bilder verflüssigt sich auch das solipsistische Ich, transzendiert, rekreiert sich in der Macht seiner Imagination.
Richard Anders hat in seiner physischen und psychischen Konstitution genügend Gründe gefunden, dieses Ich loswerden zu wollen. Leicht hätte aus ihm ein problematischer Dichter, der die Sinnfrage stellt, werden können, wie er in seinem autobiographischen Roman Ein Lieblingssohn (Ullstein 1981) beschreibt.
Ein ängstliches Kind, ein Hans-guck-in-die-Luft. Früher Verdacht, beim test of ridicule auf dem Laufsteg der Eitelkeiten nicht gut abzuschneiden. Vor dem Einschlafen sieht er Gespenster mit glühenden Augen aus den Zimmerecken stieren. Das sind die Eltern, Großmütter und Tanten, die ihn so furchtbar liebhatten, daß er tagsüber tüchtig in die Reihen seiner Pappsoldaten schießen mußte, um dann tot mit ihnen umzufallen.
Immer träumt er, daß er fällt. Wie ein Sack, wie ein Fallschirmspringer, dessen Schirm nicht aufgeht, in die Tiefe stürzt, in den morastigen Krater der Mutter, ins Zyklopenauge seines Vaters, der bei Kriegsende – und dies träumt er nicht, dies ist Wirklichkeit – von den Russen erschossen wird, während sein verlorener Sohn – auch dies kein Traum – wie ein Hase über die Felder gejagt wird, mit Handgranaten und Gewehren im Arm, ein Nie-und-nimmer-Held, und beinahe wirklich tot liegenblieb mit den anderen Pappkameraden des Volkssturms.
Bei einem Spaziergang über Land wurde er geschnappt und, zum Tode verurteilt, blieb dann aber in der Unordnung des historischen Augenblicks versehentlich doch am Leben.
Richard Anders brachte aus dem Krieg alle Voraussetzungen mit, um sich vom Surrealismus entdecken zu lassen. Die Dinge lagen ja wieder ganz ähnlich wie schon einmal zwei Generationen zuvor.
Der Schock, die Wut über den Skandal des Krieges, die erlittene Dressur – alles zusammen schuf ein inneres Reizklima für eine „Ästhetik des Schreckens“, wie sie der Surrealismus in Adaption an den Fortschritt des Schreckens ein halbes Jahrhundert nach Baudelaire und Lautréamont weiterentwickelt hatte.
Die erlebten Schrecken und Todesängste kehren als beharrliche Reminiszenzen in den Gedichten wieder. Besonders die Halluzination zu stürzen, im endlosen Raum immer weiter und tiefer zu fallen.
Der Schwindel der Existenz, der in den automatischen Texten zum kosmologischen Rausch wird, ist sein Thema auch in den spätesten Gedichten. Am kunstvollsten und kühnsten aus einem Bild entwickelt, dem Bild eines hüpfenden Kindes, das sich verspringt, ist die Vision des verunglückten Lebens im „Traum vom Tod Georg Heyms“:

Von einer Sekunde
von einer Eisscholle
zur anderen springend
während von einer Sekunde
zur anderen
eine Eisscholle von der anderen treibt
eine Sekunde von der anderen treibt
ein Himmelskörper vom anderen treibt
weiß er
daß zwischen Eisschollen
und Sekunden
und Himmelskörpern
der Abstand endlich
endlos wird
und er
wie weit er auch springt
über kurz oder lang
einmal zu kurz springt

Man müßte einmal nachsehen, ob die sieben Gedichte, die Benn zufolge den Dichter zur Unsterblichkeit qualifizieren, bei Richard Anders zusammenkommen. Dieses hier dürfte dabei sein.

Gabriele H. Killert, Die Zeit, 23.8.1996

 

Zum 70. Geburtstag des Autor:

Cornelia Jentzsch: Denkbilder nach dem Absturz
Berliner Zeitung, 25.4.1998

Gabriele Killert: Der letzte Surrealist
Neue Zürcher Zeitung, 25.4.1998

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Beitragsbild von Juliane Duda zu Richard Pietraß: Dichterleben – Richard Anders

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