Robert Frost: In Liebe lag ich mit der Welt im Streit

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Robert Frost: In Liebe lag ich mit der Welt im Streit

Frost/Leber-In Liebe lag ich mit der Welt im Streit

AN EINEN URMENSCHEN

Hast zweifach Anspruch auf Unsterblichkeit:
Den schufst du dir, der wuchs dir mit der Zeit.
Daß ich dich einfach Du nenn, tut mir leid.

Wie blind durchsuchten wir das ganze Land,
Den man im Delta eines Baches fand,
Den, wo dein Kochplatz, an der Höhle Wand.

Stößt man auf solche urzeitliche Spur,
So ist’s ein Zeichen unsrer Menschnatur,
Als träfe man lebendige Kreatur.

Wie alt du, Schlamm und Staub uns sagen müssen;
Erörtert wird, ob Tierart du besessen.
An welchem Punkt wir nicht mehr weiter wissen.

Den Eolith du schufst, der Knochen wuchs,
Der letztre mehr wohl noch dein Eigentum
Und schon als Fund genug für deinen Ruhm.

Frag mich, ob ich wie du unsterblich werde.
Wird mir Gewinn auch dichtende Gebärde?
Genügt des Knochens Staub, verwest zu Erde?

 

 

 

Nachwort

In Liebe lag ich mit der Welt im Streit – in dieser dialektischen Schlußsentenz eines Altersgedichts hat der amerikanische Lyriker Robert Lee Frost seine Grundhaltung gegenüber Natur und Gesellschaft formuliert. Frosts Dichtungen sind – mitunter verhalten-lakonische, aber darum nicht weniger eindeutige – Sympathieerklärungen an das Leben und zugleich Warnungen an den Menschen, sich seiner existentiellen Gefährdung, sei es durch Naturkräfte oder soziale Krankheitserscheinungen, bewußt zu sein und ihr entgegenzuwirken. Seinen Werken ist jeder romantische Gefühlsüberschwang, jede Überhöhung ins Hymnisch-Ekstatische fremd; das Dasein in all seinen Formen wird aus nüchtern-rationaler Sicht betrachtet: als Stätte der immer wieder neuen Identitätssuche und Bewährung des Menschen in der ständigen Auseinandersetzung mit seiner Umwelt, aber auch seiner Ohnmacht, seines Scheiterns, seiner Tragik. Neuengland, Frosts poetischer Mikrokosmos, ist vom Dichter bei aller emotionalen Verbundenheit – bereits 1632 hatten sich seine Vorfahren dort angesiedelt, und auch er selbst war von 1885, seinem elften Lebensjahr, bis zu seinem Tod im Jahre 1963 fast ständig in dieser Region ansässig – durchaus kritisch nachgezeichnet. Was uns in seinen Dichtungen entgegentritt, ist eine von Niedergang und Verfall gezeichnete Gegend, deren einstige wirtschaftliche und geistige Blüte nur noch historische Reminiszenz ist. Jenes traditionsreiche Gebiet im Nordosten der USA; im 17. Jahrhundert Zufluchtsstätte der aus England eingewanderten puritanischen „Pilgerväter“, später Zentrum der amerikanischen Freiheitsbewegung im Unabhängigkeitskrieg, hatte noch bis zur Mitte des vorigen Jahrhunderts eine führende Stellung in der amerikanischen Wirtschaft und Kultur eingenommen, nach dem Bürgerkrieg (1861 bis 1865) setzte jedoch eine allmähliche Abwärtsentwicklung ein. Mit dem unaufhaltsamen Vordringen von Technik und Industrie in fast allen Teilen der USA und dem großen Einwandererstrom in den Mittleren und Fernen Westen büßte Neuengland seine Bedeutung als Kernstück Amerikas ein. Seine dörflichen Regionen wurden durch die Landflucht der Farmer mehr und mehr entvölkert, die landwirtschaftliche Nutzfläche verringerte sich in den Jahren zwischen 1860 und 1910 um nahezu die Hälfte, der allgemeine Wohlstand sank, das Bild der Städte und die Lage ihrer Bewohner nahmen durch den fortschreitenden Ausbau der kapitalistischen Massenfabrikation düstere Züge an. Das geistige Leben Neuenglands verflachte zusehends, die meisten Schriftsteller zogen sich in eine provinzielle Goldschnitt-Idyllik zurück. Nichts war mehr von dem hohen Gedankenflug der aus demokratischen Traditionen des Puritanismus und aus der deutschen idealistischen Philosophie gespeisten Transzendentalisten-Bewegung zu spüren, die, wenn auch auf dem Boden eines romantischen Individualismus stehend, einst für die politische und geistige Befreiung des Menschen gestritten hatte, Ihr Glaube an die Göttlichkeit des Individuums war angesichts der Vernichtungsschlachten des Bürgerkrieges und der um sich greifenden kapitalistischen Korruption längst zerstört. Ralph Waldo Emerson, das Haupt dieser Bewegung, konnte 1866 in dem Gedicht „Terminus“ nur noch resigniert konstatieren:

Es ist an der Zeit, alt zu sein und die Segel zu streichen.

Die allgemeine Misere Neuenglands erscheint geradezu leitmotivisch im poetischen Œuvre Frosts, beginnend mit seiner 1913 in England veröffentlichten Sammlung Eines Knaben Wille über den ein Jahr später herausgegebenen, seinen dichterischen Ruhm begründenden Band Nördlich von Boston bis hin zu den stärker philosophisch akzentuierten Alterswerken. In einer wirklichkeitsgesättigten Diktion, die sich konsequent von dem abgestandenen Romantizismus der „genteel tradition“, der „vornehmen Tradition“, abgewandt hat, wird eine poetische Bestandsaufnahme der Verfallssymptome vorgenommen: Gedichte wie „Anweisung“ oder „Der Volkszähler“ führen uns in menschenentleerte, schon beinah aus dem Gedächtnis der Umwelt entschwundene Anwesen und Ortschaften, „verbrannt, gelöst, zerbröckelt wie eine Marmorplastik unterm Wetter“. Verfallene, Steinbrüchen gleichende Straßen verschwinden in der Ödnis, die Wälder ergreifen von den brachliegenden Feldern erneut Besitz, die Zeichen der Zivilisation werden von der vordrängenden Wildnis erbarmungslos getilgt. Viele der noch ausharrenden Landleute sind verarmt, vom zähen Ringen mit dem kargen Boden körperlich und seelisch erschöpft. In dem Dialoggedicht „Der Tod des Tagelöhners“ ist das bedrückende Los eines alten Landarbeiters beschrieben, der nach einem Leben voller Entbehrungen noch in der Stunde des Sterbens um Obdach betteln muß, und in einem anderen wird eine vom harten Existenzkampf zermürbte Farmersfrau durch den Verlust ihres Kindes an den Rand des Wahnsinns getrieben; Oft scheint der Mensch Neuenglands auf sich selbst zurückgeworfen, sein Dasein ist überschattet von Einsamkeit und Abgeschlossenheit: Er trägt die Wüste in der eigenen Brust.
Die Misere Neuenglands steht zugleich – und damit erhebt sich die Lyrik Frosts weit über das Niveau einer bloßen Regionalkunst – mindestens indirekt als poetische Chiffre für die Krankheitserscheinungen ganz Amerikas. Sie ist darüber hinaus Paradigma für die disproportionierte Struktur und Organisation der modernen kapitalistischen Gesellschaft, die zunehmende Frustration des Menschen und die Gefahr seiner äußeren wie inneren Zerstörung.

Hab Haß erfahren, selbst gehaßt:
Die Welt zu enden, reicht auch Eis,
Das kalt erfaßt
Den Erdenkreis.

In diesen Schlußzeilen aus „Feuer und Eis“ artikuliert sich die tragische Lebenserfahrung ebenso erdrückend wie in etwas später entstandenen, „Des Schicksals Absicht“ betitelten lyrischen Versen. Auf den ersten Blick glaubt man, es handle sich nur um ein poetisches Miniaturgemälde einer abnormen, mit makabren Details ausgestatteten Naturszenerie, bei genauer Betrachtung jedoch zeigt sich, daß hier der moralische Zustand einer ganzen Welt symbolhaft umschrieben ist. In der beklemmenden Vision der albinohaft degenerierten Natur – auf der weißen, wie ein Altar wirkenden Braunwurz hält die fette, weiße Spinne wie der Priester einer Teufelsmesse einen Falter mit toten Schwingen als Kultopfer empor – wird gleichnishaft die Pervertierung aller ursprünglichen Werte, die Vertauschung von Sein und Schein offenbar, von denen das moderne bürgerliche Leben geprägt ist.
Doch Frost läßt es bei einer Konstatierung der Krankheitssymptome nicht bewenden, er macht vielmehr sichtbar, daß der hier abgebildeten Welt noch Kräfte und Wertvorstellungen innewohnen, die sich dem allgemeinen Abbau widersetzen oder die Möglichkeit einer bessernden Wirkung in sich tragen. In der Sammlung Nördlich von Boston wie auch in anderen Werken begegnen uns Menschen aus dem einfachen Volk – Farmer, Tagelöhner und Arbeiter –, die mit der dem Neuengländer eigenen Unbeugsamkeit ihre Existenz und ihre Individualität verteidigen und trotz ihrer gefährdeten Lage den Blick für die heiter-komischen Seiten des Lebens nicht verloren haben. In diese Gestalten ist oft ein Stück von der Person Frosts selber eingegangen, der sich bereits während seiner Jugendzeit in den verschiedensten Berufen, als Schuster, Tagelöhner und Arbeiter in einer Textilfabrik, versucht hatte und später die Profession des Dichters und Lehrers mit der Tätigkeit des Farmers aufs glücklichste zu verbinden vermochte. Hinter der realistischen Lebenshaltung, dem Selbstbewußtsein und Behauptungswillen vieler Frostscher Figuren steht der Glaube an die Kraft des Menschen, allen Bedrohungen zum Trotz auszuharren und zu überdauern. Eine wesentliche Voraussetzung, die innere und äußere Integrität des Individuums zu schützen, sieht Frost in einer dialektisch aufgefaßten Grenzziehung des Menschen zwischen sich und dem „Zuviel“ der Welt, wie sie etwa in dem Gedicht „Dreifacher Panzer“ vorgenommen wird. Indem der einzelne sich inmitten einer auf Ausbreitung bedachten Wildnis und einer in Verwirrung geratenen Gesellschaft seinen eigenen Bereich absteckt und kultiviert, vermag er seine Persönlichkeit zu wahren und von dieser gefestigten Position aus in ein auf Respekt und Verständnis gegründetes Verhältnis zur Umwelt einzutreten. Bisweilen verkehrt sich allerdings das Streben nach Selbstbehauptung in ein hartnäckiges Beharren auf der Eigenständigkeit des Ich um jeden Preis. Hier offenbart sich letztlich die Mentalität des am Altererbten hängenden Farmers, der nach der Devise „Zäune machen gute Nachbarn“ lebt. Daß dem Dichter im Grunde eine egozentrische Attitüde fernliegt, beweist der Tenor solcher Schöpfungen wie „Der Tod des Tagelöhners“ und „Kurze Rast an einem Winterabend“, in denen – konkret wie sinnbildhaft verallgemeinert – die Frage der menschlichen Verantwortung und Solidarität behandelt wird. Seine Auffassungen sind ein später Nachklang des sozial orientierten, utopischen Individualismus der TranszendentaIisten-Bewegung, dessen Quintessenz einst Emerson mit den Worten „Nur derjenige, der allein steht, ist reif für die Gesellschaft“ formuliert hatte. Frosts Verteidigung der Persönlichkeit bleibt allerdings häufig auf ethische und mitunter etwas abstrakte allgemeinmenschlich-philosophische Aspekte beschränkt. So kritisch er typische Phänomene der amerikanischen Wirklichkeit sieht, verharrt er doch grundsätzlich auf der überholten Position des bürgerlichen Liberalen, der jeden „Kollektivismus“ ablehnt und das Prinzip des laissezfaire, laissez aller, des freien, ungehemmten Spiels aller Kräfte, für den gesellschaftlichen Bereich noch am angemessensten hält.
In Frosts Naturauffassung ist zumindest teilweise das Erbe seiner neuenglischen geistigen Vorfahren Henry David Thoreau und Ralph Waldo Emerson integriert. Im Prozeß der Besinnung und Bewährung des Menschen tritt die Natur als eine Art ethischer Katalysator in Erscheinung. Als unberechenbare, elementare Gewalt bleibt sie eine ständige Herausforderung für den Menschen, sich mit ihr zu messen und die von ihm geschaffene Kultur zu verteidigen. Andererseits bietet sie sich jedoch als eine Sphäre dar, in der der Mensch seinen eigentlichen Ursprung erkennt, zu sich selbst findet und, seine Entfremdung wenigstens für einige Zeit überwindend, das schon verloren geglaubte Gefühl der Liebe zum Leben und damit zum Mitmenschen wiederentdeckt – denn „Erde ist der Liebe Ort. Ich weiß nicht, wo man besser lieben könnte“. Frosts Naturwelt, trotz ihrer Gefährdung durch die Fehlentwicklung Neuenglands noch teilweise unversehrt und in dieser teilweisen Unversehrtheit ein positives Gegenbild zur kranken kapitalistischen Zivilisation, ist kein der Wirklichkeit völlig entrücktes idyllisches Refugium wie in der georgianischen Lyrik des frühen 20. Jahrhunderts, die Frost bei einem seinen eigentlichen dichterischen Durchbruch bewirkenden Aufenthalt in England (1912–1915) kennenlernte. Der Mensch in Frosts Lyrik wird sich durch die Begegnung mit der Natur der Bedingungen seines Seins im universellen Ganzen bewußt und durch dieses realistische Begreifen seiner Stellung befähigt, aus seiner Verwirrung und Resignation herauszutreten und eine aktive Beziehung zum Leben wiederzugewinnen. Frost faßt die Natur nicht als statischen Zustand auf, sondern als einen Prozeß des Werdens und Vergehens. Hier zeigen sich Affinitäten zu den Anschauungen einiger antiker Philosophen, mit denen sich der Dichter als Freund des klassischen Altertums vor allem während seines zweijährigen Studiums an der Harvard-Universität befaßt haben dürfte – so zu der Auffassung des Lukrez von der „steten Verwandlung und Veränderbarkeit“ der Welt wie auch zu der noch älteren dialektischen Bewegungslehre des ionischen Philosophen Heraklit, der in einer seiner Thesen verkündete:

Ein und dasselbe ist Lebendiges und Totes und Wachsendes und Schlafendes und Junges und Altes; denn dieses schlägt um und ist jenes, und jenes wiederum schlägt um und ist dieses.

Als Teil der Natur ist auch der Mensch diesem permanenten Wandel unterworfen, und doch trägt er, wie der Dichter in „Der Westwärts-Bach“ und anderen Gedichten zeigt, bei aller unaufhebbaren Vergänglichkeit in sich das Element des zumindest zeitweise Dauerhaften: den – bei Heraklit mit dem Urstoff des Feuers bezeichneten – Geist, den Willen, die Liebe, die eine Gegenkraft zur allmählichen Auflösung des Körperlich-Stofflichen bilden. Ganz gleich, ob der Bauer der Wildnis ein Stück Ackerboden entreißt, der Handwerker das wild gewachsene Holz in ein Werkzeug verwandelt oder der Poet die Vielzahl der Eindrücke und Empfindungen in die Gestalt eines Gedichtes bannt – durch diese schöpferischen Leistungen schafft sich der Mensch bei Frost „eine momentane Stütze gegen die Konfusion“ der Welt. So wie sich der Farmer und Handwerker Frost beim Zurechtschneiden etwa eines Axtstiels nach der Struktur und Maserung des Holzes richtet, damit die herausgearbeitete Krümmung „keine falsche Krümmung sei“, betrachtet der Künstler Frost nur jene Gedichte als vollendet, die bei aller ästhetischen Verdichtung und Stilisierung unmittelbar naturhaft wirken. Ein poetisches Werk, bei dem der gedankliche Aufbau schon apriori festgelegt ist und die besten Ideen für die Schlußzeilen aufbewahrt werden, ist für Frost keine echte Kunst-, sondern eher eine „Kunstgriff“-Dichtung. Ein Gedicht muß aus sich selbst heraus wachsen oder – wie es der englische Romantiker Wordsworth einmal formulierte – „aus einem spontanen Überfließen starker Gefühle“ hervorgehen. Während aber Wordsworth’ Lyrik einer im Ruhezustand wiedererweckten und sich dabei allmählich zur ursprünglichen Intensität und Spontaneität steigernden Emotion entspringt, also ihren Impuls aus der bewußten, glückhaften Erinnerung des Vergangenen bezieht, nimmt Frosts Dichtung ihren Anfang in einem gegenwärtigen Erlebnis, das eine schon scheinbar vergessene Erfahrung wieder ins Bewußtsein zurückruft und durch sie schlagartig erhellt wird. Frost hat diesen Vorgang einmal so beschrieben:

Für mich liegt das ursprüngliche Glück in der Überraschung des Micherinnerns an etwas, wovon ich nicht wußte, daß ich es wußte. Ich befinde mich an einem Ort, in einer Situation; als wäre ich körperlich aus einer Wolke herabgestiegen oder aus dem Boden aufgestanden. Da ist ein frohes Wiedererkennen des lang Verlorenen, und das Weitere ergibt sich von selbst. Schritt für Schritt wächst das Wunder des unerwarteten Hinzukommens. Die für meinen Zweck nützlichsten Eindrücke scheinen stets jene zu sein, deren ich mir nicht bewußt war und denen ich zu der Zeit, da ich sie aufnahm, keine Beachtung schenkte…

Um eine möglichst große Variabilität innerhalb eines poetischen Œuvres zu erreichen, bedarf es nach Frosts Meinung nicht neuer äußerer Mittel wie etwa des Verzichtes auf jegliche Interpunktion, einer konsequenten Kleinschreibung oder der Einführung eines springenden Rhythmus; vielmehr kommt es darauf an, die strenge metrische Form durch mannigfaltige klangliche Abstufungen und vor allem durch eine reichhaltige Auswahl an gewichtigen Stoffen und Themen aufzulockern, denn – um mit Frosts Anreger Emersen zu sprechen – „nicht das Metrum, sondern ein metrumschaffendes Thema macht ein Gedicht aus“.
Ein wesentliches Ingrediens der Dichtung Frosts ist der Humor, der trockene, lakonische, auf die praktischen Dinge des Lebens ausgerichtete Humor, wie er für den Neuengländer typisch ist. Dieser den oft düsteren Hintergrund etwas aufhellende Humor hat nicht nur im Inhaltlichen; sondern mindestens ebenso stark in der formalen Prägung des Frostschen Werkes seine Wurzeln. Das konventionelle poetische Dekorum der noch um 1900 in Amerika nachgeahmten viktorianischen Lyrik verwerfend und auch die georgianische Naturdichtung in der Kraft des natürlichen Ausdrucks weit übertreffend, orientiert sich die Diktion Frosts an der Alltagssprache der neuenglischen Region. In den bisweilen verhalten-humorvollen oder bissig-ironischen umgangssprachlichen Wendungen, in der Wortwahl und Wortstellung wie in der Intonation ist die Redeweise des Volkes literarisch eingefangen, doch nicht platt-naturalistisch, sondern poetisch verdichtet. Es ist eine Lyrik, die trotz ihrer metrischen Gebundenheit den freien Fluß der Prosa aufs glücklichste bewahrt hat. Viele Dichtungen, vor allem aus den Sammlungen Nördlich von Boston, Zwischenspiel in den Bergen und New Hampshire, tendieren in ihrer Anlage zum Epischen oder Dramatischen. Häufig dialogisch aufgebaut, wirken sie wie kurze Storys oder knappe, szenenartige Darstellungen, die in den Blankvers, jene traditionsreiche, schon von Dichtern wie Shakespeare, Milton oder Wordsworth benutzte Form, gegossen sind. Ihnen ist eine erstaunliche Konkretheit und Unmittelbarkeit eigen, sie werden, so drückte es der Literaturkritiker Mark Van Doren einmal treffend aus, unversehens zu „Leuten, die sich unterhalten“. Den Blankversschöpfungen stehen neben Gedichtformen wie Sonetten und Balladen eine ganze Reihe epigrammatisch-didaktischer Werke gegenüber. Abgesehen von einigen, vorwiegend aus der späteren Schaffenszeit stammenden Beispielen, in denen das Lehrhafte etwas vordergründig und aufgesetzt erscheint, sind diese Gedichte durch eine bemerkenswerte Prägnanz ihrer Sprache und ihrer Aussage gekennzeichnet. Mit ihren aus einer sachlichen Realitätsbetrachtung erwachsenden pädagogischen Intentionen weisen sie Robert Frost als modernen Nachfahren der antiken Dichtung eines Äsop und Martial, zugleich aber als Fortsetzer der einst vor allem von Neuengland ausgehenden didaktischen Strömung in der amerikanischen Literatur aus. Diese wie auch andere Schöpfungen bekunden das Verlangen des Dichters, dem Menschen zur Selbsterkenntnis und zur Einsicht in das Dasein zu verhelfen, sie sind Zeugnisse eines skeptischen, aber doch lebensbejahenden Geistes, der in Liebe mit der Welt im Streit lag.

Günter Gentsch, Nachwort

Traditionell in der Form,

von den Ismen seiner Zeit kaum berührt, wirkte der amerikanische Dichter Robert Frost (1874–1963) durch den realistischen Gehalt und den schlichten Ton seiner Verse bahnbrechend auf die Lyrik der Vereinigten Staaten. Ausgangspunkt seiner dynamischen Daseinsdeutung waren die regionalen Besonderheiten und der Wandel in der ländlichen Gemeinschaft Neuenglands. Sein gesamtes Schaffen kreist um die Suche nach Harmonie von Körper und Geist, Mensch und Natur, innerer und äußerer Welt. Volkstümlichkeit, Natursymbolik und ironische Distanz verbinden sich in seinen lyrischen Gedichten, Sonetten und Blankversen zur prägnanten Aussage über die Welt, wie er sie sah, zu bleibenden, aus der Objektivierung eigenen Erlebens gewonnenen Mustern vom Werden und Vergehen.

Verlag Volk und Welt, Klappentext, 1973

 

 

Fakten und Vermutungen zum Autor + IMDb + Pennsound +
MAPS 1, 2 & 3Internet Archive + Kalliope
Porträtgalerie: Keystone-SDA

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00