Rudolf Bussmann: Zu Ernst Halters Gedicht „Grauen nach Mitternacht“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

− Zu Ernst Halters Gedicht „Grauen nach Mitternacht“ aus dem Lyrikband Ernst Halter: Englische Suite. −

 

 

 

 

ERNST HALTER

Grauen nach Mitternacht

Das Loch im Kopf
hirnoperiert.
Ich memoriere zur Sicherheit
Alpha Beta Gamma Delta –
‚unser Vater, der du bist im Himmel‘ –
‘to be or not to be’ –
zähle die Finger, die Stuhlbeine,
zehn und vier –
‚über allen Gipfeln ist Ruh‘
und hier rechts.
Nacht verstreicht die Fenster,
die Maschinen blinken auf stand-by.
In dieser Stunde lagen
zwei blaue Tiere, als wär‘s für immer.
Hier ist kein Licht.

 

 

Wochengedicht #51: Ernst Halter

Eine Krankenstation, im Bett ein frisch Operierter, dessen Zustand von Instrumenten überwacht wird. Die Überwachung wird nicht nur von den Maschinen besorgt, sie kommt auch vom Patienten selbst her, der fürchtet, sein zerebrales Kontrollzentrum, an dem der Eingriff erfolgte, könnte in Mitleidenschaft gezogen worden sein. Sein Kontrollorgan nimmt eine Generalkontrolle über sich selbst vor, getestet werden das Erinnerungsvermögen, das abrufbare Wissen, das Zählvermögen, die Orientierung im Raum („hier rechts“).
Ein offensichtlich belesener Mensch hat Panik, er könnte seine geistigen Fähigkeiten verloren haben, der Titel spricht darauf an. Die blinkenden Instrumente vermögen ihn nicht zu beruhigen, sie wachen lediglich über die organischen Vorgänge, während es ihm überlassen ist, sich über die geistigen Rechenschaft zu geben.

Der Ruf der Poesie
Er nimmt sich das Basiswissen vor, führt einfache Denkoperationen durch, was darauf schliessen lässt, dass er seit dem Eingriff zum ersten Mal bei klarem Bewusstsein ist. In die sachliche Bestandesaufnahme bricht ein poetisches Bild ein („zwei blaue Tiere“), das sich von der formelhaften Aufzählung abhebt und etwas Persönliches zum Gegenstand hat. Für Aussenstehende ist nicht zu entschlüsseln ob es sich um eine Liebesszene, um ein Gemälde, einen Traum handelt. Ebenso bleibt ungewiss, ob der Zusatz „als wär‘s für immer“ auf die Zeitlosigkeit eines schönen Moments oder auf den Tod anspielt.
Dennoch hängt über den zwei Zeilen eine Aura, die das vielleicht Tröstlichste in dieser bedrohlichen Lage bereit hält – die Gewissheit, dass neben den rein mentalen auch die emotionalen Teile des Bewusstseins unversehrt geblieben sind.

Rudolf Bussmann, TagesWoche, 25.3.2013

Fakten und Vermutungen zum Autor

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