Timo Berger und Gustavo López (Hrsg.): Neue Argentinische Dichtung

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Timo Berger und Gustavo López (Hrsg.): Neue Argentinische Dichtung

Berger und López (Hrsg.)-Neue Argentinische Dichtung

ARAMBURU (FRAGMENT)

Hier kommt der Sohn der weißen Barbarei,
steuert durch den Weltraum in seinem Sonnenballon.
Dem Prinzip der Kernfusion unterworfen,
glaubt er und glaubt wieder nicht, schreibt in seine
aaaaaKladden:
„Wenn diese Lektüren zu einem Ende kommen…“, ah
er und die kleine Deutsche, die aus einem Kohlkopf
aaaaakroch,
die kleine Tochter von Papas Sahne.
Er ist wie der Motorenwärter der Alliierten:
bringt, wie Ezequiel den von Luis, den Stein und die Hinterlist.
Sie fährt im Seitenwagen mit, ihre große Motorradbrille glänzt,
Mit dem roten Fieber und der feuchten Wut der Frauen,
das gelbe Pergament ihrer Haare
mit einer Spange aufgesteckt und eine violette Blume
als Zeichen der Décadence. Musik, langsame Musik:
ihr Vater verwöhnt sie, weiter weg, vom Boot aus,
auf einer aufgestauten Tränke, wo er denkt:
wir sind Andeutungen, wir sind Metaphern…
Sie gehen am Ufer des Stausees entlang, wie
kleine Astronauten. Lesen Steine auf,
drehen Runden, immer entschlossen.
Ihr Vater erinnert sich, genau dort,
an den Geschmack von Granatapfelsirup auf den Brüsten
einer Halbwüchsigen, mit der er die Liebe praktizierte
in den Kornspeichern, auf dem Dach des Schweinestalls
im Heu, das
in der Kabine eines Wagens
mit Zugtierantrieb lag. Genau
dort, einige Jahre zuvor
als die Frucht reif war, hinterließ er seine Inschrift
aus schwarzer Sahne im Disagio
des „Fensters“, das den Blick auf die Wolken freigab…
Ach, eine Szene in Las Rabonas…
Dein Tod, Aramburu, dein Tod
war eines Generals nicht
würdig, Aramburu,
von denen, die dich umbrachten, Aramburu,
konnte die eine Hälfte nicht schießen
und die andere, nun, die andere
labte sich an der gleichen geistigen Kost…
Aramburu, Aramburu,
dein Tod war eines Generals nicht
würdig. Hart, hart,
hart, Aramburu, hart. Wenn die Nacht
länger gewesen wäre, wenn die Grillen
die die Nacht besangen, Aramburu,
wenn das Pampaland einer Kolonie
bakischer Bauern in Timote, wenn,
Aramburu, wenn, wenn die Nacht und der Tag
und der Keller und die Asche, die sich in ihrem
matten Glanz verlor, dort,
wenn die Hufe eines Pferdes, das rechtzeitig
losgaloppierte, Aramburu, wenn, Aramburu,
wenn in der sternenklaren Nacht, die
auf ihre Schiefertafel zeichnete, wenn eine Stimme, mitten
auf dem Land, allein, wenn, Aramburu, wenn,
die, die dich umbrachten nicht jung und fanatisch
gewesen wären, Aramburu, wenn du dir die Fragen,
die du dir nicht stelltest, Aramburu, Aramburu,
wenn du sie dir gestellt hättest, wenn du sie gestellt, wenn jene daraus
gelernt hätten, wenn sie nichts gelernt hätten,
wenn ihre informellen Heere, wenn die Mündung
eines Gewehrlaufs, wenn, wenn, Aramburu,
wenn eine Grille in der Nacht, wenn wir, die wir Überraschungen
lieben, Aramburu, ach, Aramburu,
Aramburu, Generalleutnant
Pedro Eugenio Aramburu, wenn wir, die wir
Überraschungen lieben … 

Santiago Llach
Übertragen von Timo Berger

 

 

 

Vorwort

In den vergangen fünfzehn Jahren hat die Dichtung Argentiniens einen bis dato unbekannte Aufschwung erfahren. Die Koexistenz verschiedener ästhetischer Richtungen und Stile, der Austausch zwischen den Dichterinnen und Dichtern über die Grenzen jener Richtungen und Stile hinweg hat die Stärke und Präsenz der argentinischen Dichtung im lateinamerikanischen, gar spanischsprachigen Kontext entschieden befördert. Neben dem Aufbruch in der Kulturszene, den das Ende der Militärdiktatur Anfang der 1980er-Jahre ausgelöst hat, muss man den unermüdlichen Einsatz unabhängiger Verlage und literarischer Zeitschriften hervorheben. Unter letzteren sticht besonders die Zeitschrift Diario de poesía hervor, das Autorinnen und Autoren, die aufgrund ihres Exils oder der Zensur der dunklen Jahre zum Schweigen verdammt waren, wieder ins Zentrum der öffentlichen Wahrnehmung gerückt hat: Gedichte von Leonidas Lamborghini, Joaquín Giannuzi, Ricardo Zelarayán oder Juana Bignozzi wurden so Teil eines Prozesses der Métissage, der Vermischung, dem die nachwachsende Dichtergeneration die Tradition der argentinischen Poesie unterworfen hat. Gleichzeitig bezogen sich diese auch auf die zeitgenössische amerikanische Dichtung, etwa die objektivistische nordamerikanische Poetik und den Neobarock, der vor allem in Kuba, der Karibik und Brasilien gepflegt wurde. Man kann feststellen, dass auch anderen Sprechweisen und Disziplinen des kulturellen Feldes Tribut gezollt wurden: den Codes der Massenmedien, der Dynamik des Internets, den Sprachregelungen der Politik, dem Slang des Stadtviertels und vor allem dem persönlichen „System“ der Dichterin oder des Dichters, das sich aus individuellen Obsessionen, dem Bildungshintergrund und sowohl der gelebten als auch der inszenierten Subjektivität speist. Die argentinische Literaturkritik hat dieser neuen Bewegung vorschnell das Etikett „Generation der 90er“ verpasst. Doch jenseits der Schwierigkeit, diesen Aufbruch in einem generationalen Raster zu fassen, sollte man dieser Bewegung eine vielschichtigere und wechselnde Genealogie zugestehen, die auch anerkennt, dass ihre Bedeutung bis zum heutigen Tag reicht. In den vergangenen Jahren haben sich mehr und mehr – neue – Dichterinnen und Dichter in Argentinien etabliert, weswegen diese Anthologie – wie viele „Blütensammlungen“ dieser Art – nur ein unvollständiges und kapriziöses Panorama bietet. Dennoch handelt es sich dabei auch um ein notwendiges und erstmaliges Unterfangen im deutschsprachigen Raum.
Die Übersetzung ins Deutsche war – auch wenn die Namenszeichnung unter den Übersetzungen etwas anderes suggeriert – ein kollektives und teilweise jahrelanges Unterfangen. Erste Versionen der Übersetzungen erschienen auf dem Latin.Log (www.latinlog.de) oder wurden anlässlich des mobilen lateinamerikanischen Poesiefestivals latinale erstellt. Die verschiedenen Übersetzer und Übersetzerinnen lasen und kommentierten sich gegenseitig, und es bewahrheitete sich von Neuem: Vier, sechs, acht Augen sehen mehr. So spiegelt sich in dem Übersetzungsprozess auch ein Merkmal des argentinischen Poesieaufbruchs. Jenseits von Authentizitätsmythen und der romantisch verklärten Gestalt des Genies spielt die zeitgenössische Dichtung aus dem südamerikanischen Land ironisch mit der Figur des Dichters, zeigt die Durchlässigkeit individueller Schreibweisen für die der Kollegen, in einem Wort: Nie zuvor wurde in Argentinien Literatur mehr als kollektive Anstrengung und Lustgewinn verstanden als heute.
Wir möchten allen danken, die diese Anthologie ermöglicht haben, die Übersetzerinnen und Übersetzer in erster Linie, die Autoren und Autorinnen, die großzügige Förderung durch das Programa SUR des Organisationskomitees Argentinien als Ehrengast 2010 (COFRA), das die Aktivitäten des südamerikanischen Landes auf der Frankfurter Buchmesse koordiniert, und last but not least dem Verlag luxbooks, der einen seit 1999 geträumten Traum einer Anthologie zeitgenössischer argentinischer Dichtung in deutschen Übertragungen wahr werden ließ.

Gustavo López und Timo Berger

Zum Buchmesseschwerpunkt Argentinien

erscheint in der Reihe luxbooks.latin die erste und einzige repräsentative Anthologie der argentinischen Lyrik der Gegenwart. Der Herausgeber und Übersetzer Timo Berger fußt seine Auswahl auf der im argentinischen Verlag Perceval Press des US-Schauspielers Viggo
Mortensen (Herr der Ringe) erschienenen Anthologie Antologie de la Nueva Poesia Argentina (herausgegeben von Gustav López). Die argentinische Lyrik der letzten zwanzig Jahre ist atemberaubend vielfältig und markiert eine in der Literaturgeschichte des Landes einzigartige Blüte. Ein faszinierendes Nebeneinander verschiedener ästhetischer Linien und ein harter Bruch mit der argentinischen Lyrik des 20. Jahrhunderts sind die kennzeichnenden Merkmale der hier versammelten Dichter. Die Allgegenwärtigkeit der Medien, die gesellschaftlichen Umbrüche, das Leben in der Metropole Buenos Aires werden zum Thema dieser Generation. Deutlich sind dabei die Einflüsse der objektivistischen und der Beatlyrik der USA wie auch der Neo Barock-Dichtung Kubas. Die Literaturkritiker Argentiniens sprechen bereits von der „Generation der 90er Jahre“. Mit diesem Band liegt zum ersten Mal eine umfassende Vermessung der gegenwärtigen Lyrik Argentiniens vor. Das Buch erscheint mit biographischen Anmerkungen und einem Nachwort des Herausgebers. Aus dem argentinischen Spanisch von Timo Berger, Rike Bolte, Odile Kennel und Sarah Otter. Unter den weit über 20 Autoren finden sich: Barbara Belloc, Lucia Bianca, Fabián Casas, Washington Cucurto, Juan Desiderio, Martin Gambarotta, Sergio Raimondi, Damián Rios, Ana Wajszczuk & Laura Wittner.

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Fakten und Vermutungen zu Timo Berger

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