Tomas Venclova: Vor der Tür das Ende der Welt

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Tomas Venclova: Vor der Tür das Ende der Welt

Venclova-Vor der Tür das Ende der Welt

NEL MEZZO DEL CAMMIN DI NOSTRA VITA
Zum Gedenken an Konstantin Bogatyrjow

Mich hat die Mitte des Jahrhunderts voll erwischt.
Ich lebte, aber lernte, nicht zu sein.
Der Tod war mir wie eine Schwester oder Tante,
Die sich den größeren Teil der Wohnung nahm.
Ich habe sie allmählich zahm gekriegt,
Verbat mir auch ihre Berührungen,
Und früh gewahrte ich, soviel ich weiß,
Die schönste Stadt von Osteuropa,
Da, wo das Eisen seiner Stunde harrt,
Das Schilf, im Nebel modernd, raschelt,
Es Stein, Schlagring, Lokomotive gibt,
Und bestenfalls vielleicht Benzin.
Ich schlief, ich trank, ich aß im Tod,
Ich wollt ihr Sinn und Ziel verleihen.
Vergaß sie sogar manchmal. Allerdings
Kann man an sie sich kaum gewöhnen.

Ich sperre die Korridortür auf. Das Herz
Setzt aus, schwer lastet’s auf der Brust.
Apropos: in diesem Staat kam
Der Tod sogar manchmal per Zufall.

 

 

 

Poesie als Form des Widerstandes gegen die Realität

1.
Alles in allem ist das 20. Jahrhundert, das in zehn Jahren zu Ende geht, mit allen Künsten fertig geworden, außer mit der Poesie. Weniger chronologisch, dafür hochtrabender formuliert – die Geschichte hat den Künsten letztlich ihre Realität aufoktroyiert. Was wir heute unter moderner Ästhetik verstehen, ist nichts anderes als das Geräusch der Geschichte, das den Gesang der Kunst übertönt oder unterordnet. Jeder „-ismus“ beweist direkt oder indirekt die Niederlage der Kunst und ist die Schramme, die die Schande dieser Niederlage verdeckt. Noch gröber gesagt: es war durchaus das Sein, das das Bewußtsein des Künstlers gestaltete. Der erste Beweis dafür sind die Mittel, die er einsetzt. Jedes Gespräch über die Mittel ist schon ein Zeichen der Anpassung.
Die Auffassung, extreme Umstände erforderten extreme Ausdrucksmittel, hat sich überall eingenistet. Die alten Griechen, die etwas weniger alten Römer, die Menschen der Renaissance und sogar der Aufklärungszeit hätten das seltsam gefunden. Bis in die neuere Zeit hinein wurden die Ausdrucksmittel in keine eigenständige Kategorie gebracht, und eine Hierarchie unter ihnen gab es nicht. Der Römer las den Griechen, der Renaissancemensch las den Griechen und den Römer, der Mensch der Aufklärungsepoche griechische, römische und Renaissanceautoren, ohne sich über die Frage den Kopf zu zerbrechen, ob der Hexameter in einem bestimmten Verhältnis zum beschriebenen Gegenstand steht, seien es der Trojanische Krieg, Schlafzimmerabenteuer, die adriatische Fauna oder religiöse Ekstase.
Die Berufung auf die Erfahrung zweier Weltkriege, die atomare Rüstung, die sozialen Katastrophen unserer Epochen, die Apotheose der Unterdrückungsformen als Begründung (oder Erklärung) für die Erosion der Formen und Gattungen ist komisch, wenn nicht geradezu skandalös in ihrer Disproportionalität, was die Literatur und insbesondere die Poesie betrifft. Einem unvoreingenommenen Menschen ist die Idee des Leichenbergs, der die Maus des freien Verses gekreißt haben soll, einfach peinlich. Noch peinlicher mutet ihn die Forderung an, dieser Maus den Status der heiligen Kuh zuzuerkennen, und zwar in den weniger dramatischen Zeiten der Bevölkernngsexplosion.
Für die sinnliche Vorstellung ist nichts so attraktiv wie eine räumlich entfernte Tragödie, die dem Künstler sein krisenhaftes Weltgefühl sichert, ohne seine persönliche Anatomie direkt in Mitleidenschaft zu ziehen. Zum Beispiel sprießen in der Malerei die Schulen und Richtungen besonders üppig in Perioden relativer Friedensliebe und Wohlfahrt. Man kann hier natürlich einen Zusammenhang herstellen wollen mit allen möglichen Versuchen, ein erschütterndes Epochenerlebnis zu bewältigen oder diese Versuche zu verstehen. Es ist übrigens wahrscheinlicher, daß der Mensch, der eine Tragödie hinter sich hat, sich gar nicht bewußt als Held dieser Tragödie begreift, sondern einfach einer ist und dabei wenig auf die Mittel zum Ausdruck besagter Tragödie achtet.
Die Automatisierung und Zersplitterung des modernen Bewußtseins, das tragische Weltgefühl und dergleichen sind heutzutage derart allgemein anerkannte Wahrheiten, daß ihre künstlerische Thematisierung und die Verwendung der von ihrer Geltung zeugenden Kunstmittel schlicht und einfach zum Erfordernis des Marktes verkommen ist. Der Satz, daß das Diktat des Marktes in Wahrheit ein Diktat der Geschichte ist, kann nicht mehr nur als herzlose Übertreibung gelten. Die Forderung nach dem Neuen in der Kunst ist ebenso wie das instinktive Streben des Künstlers nach dem Neuen nicht schlechthin ein Zeichen der reichen Einbildungskraft des Künstlers oder der Möglichkeiten des Materials, sondern durchaus auch Symptom der Abhängigkeit der Kunst von der Realität des Marktes und ihres Strebens nach Annäherung an diese.
Alogismus, Deformation, Gegenstandslosigkeit, Disharmonie, Zusammenhanglosigkeit, willkürliches Assoziieren, der Strom des Unterbewußtseins – all diese Elemente der modernen Ästhetik, einzeln genommen oder in beliebiger Kombination, die der Theorie nach die Besonderheiten der modernen Psyche zum Ausdruck bringen sollen, sind in Wahrheit in hohem Maße Marktkategorien, was die entsprechenden Preislisten denn auch keineswegs verschweigen. Die Auffassung, das Weltgefühl des modernen Künstlers sei komplexer und reicher als das seines Publikums (ganz zu schweigen vom Weltgefühl der früheren Künstler), ist letzten Endes undemokratisch und kann nicht überzeugen, denn jede menschliche Tätigkeit – sowohl während als auch nach der Katastrophe – beruht auf Notwendigkeit und ist interpretierbar.
Die Kunst ist eine Form des Widerstandes gegen die als unvollkommen empfundene Realität und der Versuch der Hervorbringung einer alternativen Realität, die nach Möglichkeit die Merkmale einer vorstellbaren, wenn schon nicht erreichbaren Vollkommenheit aufweist. Sobald die Kunst auf das Prinzip der Notwendigkeit und Vorstellbarkeit verzichtet, räumt sie ihre Stellungen und verurteilt sich selbst zur Funktion des schmückendes Beiwerks. Eben dieses Los hat einen beträchtlichen Teil der europäischen (und russischen) Avantgarde getroffen, deren Lorbeeren vielen auch heute noch den Schlaf rauben. „Lorbeeren“ und „Avantgarde“ sind wiederum äußerst marktgerechte Begriffe, ganz zu schweigen von der erstaunlichen Natürlichkeit, mit der die abstrakten Revelationen der großen Avantgardisten zu Tapetenmustern werden.
Die Idee von den „neuen Kunstmitteln“, vom Künstler, der „dem Fortschritt voranschreitet“, und dergleichen mehr sind ein Echo der romantischen Vorstellung von der „Auserwähltheit“ des Künstlers, von seiner „Demiurgen-Rolle“. Die Auffassung, der Künstler fühle, begreife und bilde das dem einfachen Sterblichen Unzugängliche, ist ebenso wenig überzeugend wie die Meinung, der Künstler empfinde körperlichen Schmerz, Hunger oder sexuelle Befriedigung intensiver als der Laie. Wahre Kunst ist immer demokratisch eben aus dem Grunde, weil weder die Gesellschaft noch die Geschichte einen besseren gemeinsamen Nenner besitzt als das Empfinden von der Unvollkommenheit der Realität, als die Suche nach der besseren Variante. Als hoffnungslos semantische Kunst ist die Poesie weitaus demokratischer als ihre Schwestern; ein überzeugendes Beispiel dafür ist Tomas Venclova.

2.
[…]
Venclova ist ein hochgradig formaler Dichter; dieses Epitheton birgt die Gefahr, daß im Bewußtsein des mit der kalorienarmen Kost des freien Verses aufgewachsenen gegenwärtigen Lesers eine Verwechslung mit Traditionalismus im negativen Sinne geschieht.
Formkunst und Traditionskunst sind verschiedene Dinge. Zum Traditionsdichter (im negativen, jedoch keineswegs einzigen Sinn des Wortes) macht den Lyriker nicht die Form, sondern der Inhalt. Man braucht aber nur zwei Zeilen von Venclova zu lesen, um zu begreifen, daß man es mit einem Gegenwartsautor, einem Menschen eben des 20. Jahrhunderts zu tun hat. Was bringt aber nun einen solchen Menschen dazu – mag der mit der erwähnten Diät aufgewachsene Leser fragen –, formale Mittel zu verwenden, die archaisch daherkommen und auf den Leser auch noch abstoßend wirken können? Beschränkt er nicht bewußt den Kreis seiner Leser, wenn er diese Mittel verwendet, statt den Kreis zu erweitern durch die innovatorische Überwindung des formalen Verses?
Zunächst muß gelten: innovatorisch kann nur der Inhalt sein; formale Innovationen können nur im Rahmen der Form verwirklicht werden. Der Verzicht auf Form ist Verzicht auf Innovationen. In rein formaler Hinsicht kann der Dichter nicht nur Archaist oder nur Neuerer sein; in jedem dieser beiden Extremfälle käme es nämlich zur Katastrophe für den Inhalt. Venclova ist ein Archaist-Neuerer in dem Sinn, den der verstorbene Jurij Tynjanow mit dem Titel seines bemerkenswerten Buches meinte, bevor die Hand des Lektors den Bindestrich durch ein fatales „und“ ersetzte.1
Venclovas Entscheidung für diese und keine anderen Kunstmittel ist natürlich vor allem eine physiologische Wahl (sofern „physiologische Wahl“ nicht nur Tautologie ist); freilich hat diese Wahl auch noch eine besonders ernsthafte ethische Dimension. Darüber soll nun etwas ausführlicher gesprochen werden.
Tomas Venclova gehört zu dem Typ von Dichtern, die eine Wirkung auf ihr Auditorium anstreben. Poesie ist nicht ein Akt der Selbstbeseitigung (obwohl dies eine der möglichen Methoden sein kann); Poesie ist eine imperative Kunst, die dem Leser ihre Realität aufdrängt. Der seine Fähigkeit zur Selbstbeseitigung demonstrierende Dichter darf sich theoretisch nicht auf die Neutralität seiner Diktion beschränken: theoretisch muß er auch den nächsten logischen Schritt tun und seinen Mund gänzlich schließen. Dagegen muß der Dichter, der seine Äußerungen für sein Auditorium zur Realität machen will, diesen die Form der linguistischen Unausweichlichkeit, des sprachlichen Gesetzes verleihen. Reim und Versmaß sind die ihm zu Gebote stehenden Werkzeuge zur Erreichung dieses Ziels. Eben dank dieser Werkzeuge gerät der Leser, der sich das vom Dichter Gesagte einprägt, in Abhängigkeit von diesem Gesagten – er läßt sich gewissermaßen zum Gehorsam gegenüber der Realität verurteilen, die der Dichter herstellt.
Außer von der Verantwortung vor der Gesellschaft wird dem Dichter seine Wahl der Kunstmittel durch sein Pflichtgefühl gegenüber der Sprache diktiert. Die Sprache ist ihrer Natur nach metaphysisch, und häufig verweist eben der Reim auf die Wechselbeziehungen zwischen Begriffen und Erscheinungen, die in der Sprache gespeichert, aber vom rationalen Bewußtsein des Dichters nicht registriert sind. Mit anderen Worten, der Klang – das Gehör des Dichters – ist eine Form der Erkenntnis, eine Form der Synthese, die nicht parallel zur Analyse ist, sondern diese in sich einschließt. Grob gesagt: der Klang ist semantisch, häufig semantischer als die Grammatik; und nichts artikuliert den akustischen Aspekt des Wortes so sehr wie das Versmaß. Der Verzicht auf die Metrik ist nicht nur ein Verbrechen gegen die Sprache und Verrat am Leser, sondern vor allem auch ein Akt der Selbstkastration des Autors.
Es gibt noch eine weitere Pflicht, die der Dichter hat und die seine Bindung an die Form erklärt – es ist die Pflicht gegenüber den Vorgängern, den Erschaffern der poetischen Rede, die er erbt. Sie drückt sich aus in dem Gefühl jedes mehr oder weniger bewußten Schriftstellers, wonach er so schreiben muß, daß er von seinen Vorgängern verstanden wird, bei denen er die poetische Rede gelernt hat. In dieser Idee ist nichts Jenseitiges: So wie Miłosz sich bewußt ist, so schreiben zu müssen, daß er für Słowacki oder Norwid verständlich ist, so nimmt auch Venclova an, daß das, was er schreibt, dem Verständnis eines Donelaitis oder, sagen wir, eines Mandelstam zugänglich sein muß.
Das Verhältnis eines Dichters zu seinen Vorgängern ist etwas Größeres als eine Frage des Stammbaums. Letzten Endes wählen nicht wir uns die Eltern aus, sondern sie, die uns das Leben geben, wählen uns aus. Sie bestimmen unser Antlitz und – häufig – auch unsere wirtschaftliche Lage, indem sie uns ihr Vermögen vermachen, und zwar in jedem Sinn dieses Wortes, bis hin zum wörtlichen. Was auch immer wir von uns selbst denken, wir sind sie und müssen ihnen verständlich sein, wenn wir uns selbst verständlich sein wollen. Je mehr sie uns hinterlassen haben, desto reicher ist unsere Sprache, desto freier sind wir in der Wahl unserer Kunstmittel, desto besser ist unser Gehör – unsere Erkenntnismethode, umso vollkommener ist die Welt, die wir zu Gehör nehmen und zu Gehör bringen.
Die Form bezieht ihre Anziehungskraft nicht aus ihrem ererbten Adel, sondern aus ihrer Eigenschaft als Anzeichen von Zurückhaltung und Kraft.
Der Verzicht auf die Form zugunsten von sogenannt organischen Kunstmitteln ist ein Zeichen für das genaue Gegenteil, wenn er auf das außergewöhnliche Lebensschicksal des Dichters oder seiner Erlebnisse anspielt. Das einzige, worauf die organischen Mittel verweisen, ist das Organische des Melodramas. Es gibt offenbar zwei Auffassungen von Natur und demzufolge vom Natürlichen in der Kunst. Die erste geht wohl auf D.H. Lawrence zurück und postuliert physiologische und sprachliche Unmittelbarkeit; die andere beginnt mit Ossip Mandelstams Worten: „Natur ist ein anderes Rom und spiegelt sich darin…“ – und setzt sich in Tomas Venclovas Poetik fort. 

3.
Tomas Venclova wurde am 11. September 1937 in Klaipeda an der Ostsee geboren. Das Land erlebte die letzten Jahre seiner ziemlich neuen Unabhängigkeit, und einigen Mitgliedern von Tomas Venclovas Familie war es beschieden, beim Verlust dieser Unabhängigkeit eine geringe, aber traurige Rolle zu spielen. Bald nach der Teilung Polens2 wurde Tomas Venclovas Geburtsland zur Litauischen SSR3 umgewandelt, in deren Regierung sein Vater, der Dichter Antanas Venclova, eine Zeitlang den einem Kulturminister ähnlichen Posten einnahm. Für die Ernennung spielten die linken Überzeugungen Antanas Venclovas eine Rolle; dem muß jedoch hinzugefügt werden, daß in den damaligen Zeiten die Wahl, die ein gebildeter Litauer hatte, recht begrenzt war: Er konnte sich zwischen prokommunistischen und profaschistischen Sympathien entscheiden.
Die Wahl, die der Vater getroffen hatte, kam den Sohn teuer zu stehen, besonders in seinen Schuljahren. Ein bedeutender Teil von Tomas Venelovas Klassenkameraden betrachtete ihn ausschließlich als Sohn des Mannes, der sein Land an die Macht der Ausländer verraten hatte, und ging entsprechend mit ihm um. Antanas Venclovas Popularität als Volksdichter Litauens und Stalinpreisträger verbesserte nicht, sondern verschlimmerte die Lage des Sohnes. Solche Dinge verletzen einen Menschen entweder für das ganze Leben und verwandeln ihn häufig in ein monströses Wesen, oder aber sie härten ihn besonders ab. Bei Tomas Venclova trat das Letztere ein, und keine geringe Rolle spielte dabei das aristokratische und gebildete Milieu der Verwandten des Dichters von mütterlicher Seite.
Mit sechzehn Jahren verließ Tomas Venclova die Oberschule mit Auszeichnung und besuchte die Universität Wilna, und zwar als der jüngste Student in der Geschichte dieser Hochschule.4 Drei Jahre später wurde er aber für ein Jahr von der Universität relegiert. Man schrieb 1956, das Jahr hochfliegender Hoffnungen wegen der ungarischen Revolution, aber auch des Endes dieser Hoffnungen unter sowjetischen Panzerketten, die den Aufstand förmlich zermalmten. Für die Generation, der Tomas Venclova angehört – wie auch der Verfasser dieser Zeilen –, für die Generation 1956 hatte der ungarische Aufstand etwa die gleiche Bedeutung wie die Niederschlagung des Dekabristenaufstandes für die Puschkinsche Plejade oder der Untergang der spanischen Republik für W.H. Auden und seine Altersgenossen in den 1930er Jahren. Sie formte nicht nur die Weltanschauung, sondern häufig auch die persönliche Eschatologie vieler ihrer Vertreter. Für die Idee des Sozialismus war diese Generation jedenfalls völlig verloren.
Für die Literatur erwies sich diese Generation hingegen als Gewinn, denn sie begann ihren Weg mit der Abwesenheit potenzieller Illusionen, und ihr Kammerton blieb immer die ungarische Tragödie. Im Alter von neunzehn Jahren warf Tomas Venclova sich förmlich auf die Literatur, die für ihn zur hauptsächlichen Realität seiner Existenz und schließlich auch zum Beruf wurde. Er beendete die Universität, und in den nachfolgenden zwanzig Jahren bestand sein Dasein aus Unterricht, literarischen Übersetzungen, Journalismus, Essayistik, womit er sein Brot verdiente; sein eigentliches Leben aber wurden die Verse.
In diesen zwei Jahrzehnten wuchs die Reputation seiner Dichtung innerhalb und außerhalb Litauens ununterbrochen. So wie seine Verse führte Venclova in diesen Jahren weitgehend ein Nomadenleben, indem er sich im Raum des letzten Großimperiums derart häufig bewegte, daß sein periodisches Auftauchen mitunter das Gefühl einer Sinnestäuschung vermittelte. Er lebte längere Zeit in Moskau und Leningrad, schloß Bekanntschaft mit Boris Pasternak und noch engere mit Anna Achmatowa; beide übersetzte er ins Litauische. Er knüpfte auch enge – manchmal allzu enge – Beziehungen mit seinen russisch schreibenden Altersgenossen: Beziehungen, die zum Schicksal werden sollten.
Zum Teil infolge dieser Beweglichkeit wurde das ständige Interesse, das die Behörden an seiner Person hegten, nicht zur Katastrophe, weil das litauische und das allsowjetische Komitee für Staatssicherheit sich nicht einigen konnten, zu welcher Eparchie Venclova gehörte. Zu Beginn der 70er Jahre – zur Zeit der Publikation seines ersten und einstweilen einzigen Gedichtbandes („Zeichen der Sprache“) in Litauen – zogen sich über Venclovas Haupt dunkle Wolken zusammen. Nicht wenig trug dazu seine sehr aktive, manchmal geradezu unvernünftig aktive Mitarbeit in der litauischen Bürgerrechtsbewegung bei. Die zeitweilige, zum damaligen Zeitpunkt jedoch vollständige Zerschlagung dieser Bewegung zerstreute viele ihrer Gründer und Teilnehmer über die Lager und Gefängnisse des Imperiums; andere emigrierten. Seit 1977 lebt Tomas Venclova in den USA und ist gegenwärtig Professor für russische Literatur an der Universität Yale.
Polnisch ist für Tomas Venclova eine von drei Muttersprachen. Die beiden anderen sind Litauisch und Russisch. Außerdem beherrscht er absolut fließend Englisch, Latein und Griechisch; Französisch, Deutsch und Italienisch sind für ihn auch nicht allzu fremd. Daß er eben drei Muttersprachen hat, erklärt sich aus der geographischen Lage und der Geschichte Litauens und erklärt zugleich auch den komplexen literarischen Stammbaum dieses Dichters und die Dimensionen des Erbes, das er angetreten hat. Venclova ist der Sohn dreier Literaturen, und zwar ein dankbarer Sohn.
Er ist natürlich in erster Linie litauischer Dichter, aber ein Dichter, der das Beste in sich aufgenommen hat, das ihm das Schicksal in seiner Nachbarschaft bereitgestellt hat. Das Beste an Rußland ist seine Sprache und seine Literatur, besonders seine Poesie. Dasselbe kann man, fürchte ich, von Polen sagen. Im Prinzip hat kein Volk – wenn man seine Geschichte betrachtet – ein besonderes Verdienst an seiner Sprache und seiner Literatur. Venclova ist jedoch nicht ein Produkt des Einflusses russischer und polnischer Poesie, er ist vielmehr Produkt ihrer Fusion.
Übrigens erklärt die Rede von der Fusion das Phänomen eines Dichters ebensowenig wie die Rede von irgendeinem anderen Einfluß – sie erklärt zumindest zu wenig. Auch seine Biographie erklärt es nicht; alle diese Dinge schaffen die Illusion der Verständlichkeit eines Phänomens, das wir Dichter nennen – eine Illusion, die der Leser möglicherweise braucht, um sich rational die Ausnahme von der existenziellen Regel zu erklären, die aber mit der Realität der betreffenden Ausnahme nichts Wesentliches zu tun hat. Alles in allein zählt Litauens Bevölkerung ungefähr vier Millionen: ein bestimmter Prozentsatz davon gehört zur Altersgruppe Tomas Venclovas; ein noch geringerer Prozentsatz hat eine analoge humanistische Ausbildung genossen; nichtsdestoweniger schreibt Venclova-Gedichte nur Venclova.
Wir sind alle stark angesteckt von der Theorie der Widerspiegelung, und wir sind überzeugt, daß wir, wenn wir nur die Lebensumstände des Autors in den Einzelheiten erfahren, seine Werke schon verstehen werden, und daß zwischen dem einen und dem anderen eine direkte Abhängigkeit besteht. In Wahrheit aber besteht zwischen dem Gedicht und dem Leben eben Unabhängigkeit, und gerade die Unabhängigkeit des Gedichts vom Leben läßt es zur Welt kommen; wäre es anders, würde keine Poesie existieren. Das Gedicht, und letztlich auch der Dichter selbst – beide sind autonome Wesen, und alles Nacherzählen, Analysieren, Porträtieren der Lehrer und sogar des Autors selbst können sein Werk nicht ersetzen. Venclovas Gedichte sind auch Venclovas Leben; Venclovas Leben ist ein Mittel zur Herstellung der Gedichte, das keinen direkten Einfluß auf ihre Entstehung hat.
Gefühle und Umstände mögen in Venclovas Gedichten wiedererkennbar sein; die Art, wie sie ausgedrückt sind, ist es nicht, und zwar allein schon aus dem Grund, weil die Sprache des Dichters das Litauische ist. Schon die Logik seiner Bilder ist etwas weniger wiedererkennbar; und selbst wenn man seine Metrik ziemlich leicht identifizieren kann, so läßt sich doch ihr Klang nicht vorstellen. Nichts hilft uns hier das Wissen darum, daß Venclova T.S. Eliot, W.H. Anden, Robert Frost, Anna Achmatowa, Ossip Mandelstam, Boris Pasternak, Alfred Jarry, James Joyce, Czesław Miłosz, Zbigniew Herbert, Charles Baudelaire, William Shakespeare ins Litauische übersetzt. Wir verstehen ihn auch nicht besser, wenn wir erfahren, daß er bei Lotman in Tartu Strukturalismus studiert oder sich mit einer riesigen literaturwissenschaftlichen Sekundärliteratur bekanntgemacht hat. Beides zeugt von seinen literarischen Vorlieben gleichermaßen wie von rein lebensweltlicher Notwendigkeit. Die Gedichte werden nicht davon diktiert: Gedichte werden von der Sprache und der Einzigartigkeit des Menschenwesens diktiert, das den Namen Tomas Venclova trägt. In einem gewissen Sinne sind sie Tomas Venclova, nicht der gewaltige Körper, der bei der Überschreitung der nächsten Grenze den Paß auf diesen Namen vorweist.
Von seinen 52 Lebensjahren durchlebte dieser Körper zwölf außerhalb seines Vaterlandes, „im armen Hartwährungsparadies“ – grob gesagt, in der Fremde. Seine Gedichte sind jedoch nicht umgezogen und existieren weiter in litauischer Sprache. Aber nicht nur dies, ihnen ist ein längeres Leben beschieden als ihrem Autor. Für ihre Reise in der Zeit brauchen Gedichte eine Unwiederholbarkeit der Intonation und eine Weltsicht, die außerhalb dieser Gedichte nirgends existiert. Venclovas Gedichte genügen dieser Forderung vollkommen. Tomas Venclovas Intonation überrascht durch ihre Zurückhaltung und Gedämpftheit, durch ihre bewußte, beabsichtigte Monotonie, die gleichsam das allzu offensichtliche Drama seiner Existenz verwischen will. Der Leser wird in Venclovas Versen nicht den geringsten Hinweis auf Hysterie finden, keine Anspielung auf ein Gefühl von der Einzigartigkeit des eigenen Schicksals, kein Schielen auf diesbezügliches Mitgefühl des Lesers. Eher ist es umgekehrt: wenn diese Gedichte überhaupt irgendetwas postulieren, so das Bewußtsein von der Verzweiflung der alltäglichen und eher ermüdenden existenziellen Norm, die zeitweilig überwunden werden kann durch Willensanstrengung, vor allem aber durch die einfache Bewegung der Zeit.
Die Position, in der der aus diesen Versen hervorgehende Mensch zur Welt steht, ist nicht die Position des Anklägers oder des Allverzeihers. Seine Position könnte man stoisch nennen; jedoch schreibt nicht jeder Stoiker Gedichte. Auch ist seine Position keine kontemplative: dafür ist der Körper des Autors allzu mächtig in den Wirbel der Geschichte einbezogen, allzu stark ist sein Bewußtsein und – häufig – seine Diktion in christliche Ethik verwickelt. Am allergenauesten müßte man den aus diesen Versen hervorgehenden Menschen mit einem hochwachsamen Beobachter vergleichen, einem Seismologen oder Meteorologen, der die atmosphärischen und moralischen Katastrophen registriert: außerhalb und innerhalb seiner selbst. Dem wäre hinzuzufügen, daß nicht sein Auge und Bewußtsein Observator und Registrator sind, sondern die Sprache – die litauische oder die allgemein menschliche, das ist nicht wichtig. Bei Venclova ist das ein und dasselbe.
Das Lyrische seiner Gedichte ist fundamental, denn Venclova beginnt dort, wo die meisten Menschen – und auch die allermeisten Dichter – aufhören und bestenfalls zur Prosa übergehen: am Boden des Bewußtseins, am äußersten Rand der Freudlosigkeit. Venclovas Lied beginnt dort, wo die Stimme sonst aufhört, in der Erschöpfung, wenn die Seelenkräfte verbraucht sind. Darin liegt der unerhörte sittliche Wert von Tomas Venclovas Poesie, denn eben das Lyrische seines Gedichts, nicht sein narratives Element ist sein ethisches Zentrum. Denn das Lyrische des Gedichts ist gleichsam die vom Autor gefundene Utopie, und das Lyrische vermittelt den Lesern zumindest ein Wissen von ihrem psychologischen Potenzial. Im besseren Falle bewegt diese „gute Nachricht“ den Leser zu analoger seelischer Bewegung, zur Erschaffung einer Welt auf dem Niveau, das diese gute Nachricht vorgegeben hat; im schlechteren Falle befreit sie ihn von seiner Abhängigkeit von der Realität und gibt ihm zu verstehen, daß diese Realität nicht die einzige ist. Das ist nicht wenig; eben aus diesem Grund hat jegliche Realität etwas gegen den Dichter.
Jeder große Dichter hat seine eigene innere idiosynkratische Landschaft, vor deren Hintergrund in seinem Bewußtsein – oder vielleicht auch in seinem Unterbewußtsein – seine Stimme klingt. Bei Milosz sind dies seine litauischen Seen und die Ruinen von Warschau. Bei Pasternak sind es die Moskauer Hinterhöfe mit ihrem Faulbeerbaum, bei Auden das industrialisierte Mittelengland (Midland), bei Mandelstam eine griechisch-römisch-ägyptische Kollage aus Säulenhallen und Pilastern, die ihm die Architektur Petersburgs eingegeben hat. Eine solche Landschaft hat auch Venclova. Venclova ist ein nördlicher Dichter, geboren und aufgewachsen an der Ostsee, und diese Landschaft ist monochrom, graue und trübe Farbtöne dominieren darin, das heißt einfach das Licht des Himmels, das bis zur Dunkelheit verdichtet ist. Wenn er die Seite umdreht, findet sich der Leser in eben dieser Landschaft wieder.
[…]

Joseph Brodsky, August 1989, Nachwort

Dieser Aufsatz diente als Vorwort zu Tomas Venclovas Gedichtband in polnischer Sprache in der Übersetzung von Stanisław Barańczak. Er wird hier mit kleineren Kürzungen publiziert.

Deutsche Übertragung: Rolf Fieguth

 

Bemerkung des Nachdichters

Die Gedichte des vorliegenden Bandes wurden unter Verwendung der deutschen Interlinearübersetzung von Claudia Sinnig-Lucas und der russischen Rohübersetzung des Autors übertragen. Das poetische Idiom des Dichters zeichnet sich durch zahlreiche unterschwellige Bedeutungsverschiebungen und die Herstellung neuer semantischer Beziehungen zwischen halb ähnlich klingenden Wortkörpern aus; es nützt außerdem die sprachlichen Möglichkeiten des artikellosen Litauischen in besonderer Weise aus. Das Ergebnis ist eine ungewöhnliche Verdichtung und Artikuliertheit im Versbau und in der Reimstruktur, die in ihrem Ursprungskontext gewiß die Funktion einer scharfen Herausforderung hat: die auf die Spitze getriebene Metrik dieser Poesie verscheucht jede litauische oder andere lyrisch gemütliche Traditionsseligkeit. Eine fremdsprachige Übersetzung kann von alledem nur einige Aspekte zeigen und hören lassen, und das ist in diesem Fall die rhythmisch gefaßte Arbeit im Wort und im Satz. Anderes kann nur gestikulierend angedeutet werden – das ist in diesem Fall das metrische Profil jedes der Gedichte. Das freirhythmische Gepräge der vorliegenden Übertragungen ist sicherlich ein Notbehelf, kann sich aber auf zielsprachliche Traditionen seit Luthers Psalmenübersetzungen und danach Dichtungen von Klopstock, Goethe, Heine, Nelly Sachs und Paul Celan berufen und darf Brodskys Merkantilismusvorwurf gegen den freien Vers (der aus Brodskys Situation als Vertreter einer gegenwärtig nicht mehr unumstrittenen russischen metrischen Verskultur nachvollziehbar wird) in Ruhe zurückweisen. 

Rolf Fieguth, Nachwort

 

Lesung von Tomas Venclova am 11.6.2001 im Literarischen Colloquium Berlin. Moderation Ilma Rakusa und Bernhard Robben

 

 

„Rauschend verschließt sich der Himmel“ 

Der 1937 in Klaipeda an der Ostsee geborene Tomas, Sohn des litauischen Volksdichters und Stalinpreisträgers Antanas Venclova, gehörte zu jenen Persönlichkeiten, die unter dem furchtbaren Eindruck der sowjetischen Okkupation seines Landes bereits in jungen Jahren zu schwerwiegenden Entscheidungen gezwungen wurden. Auf Grund der gesellschaftlichen Position seines Vaters wurde er von seinen Klassenkameraden und Studienkollegen verachtet. Diese schmerzende Erfahrung und die Wirkung der von außen auferlegten Sowjetkultur hinterließen prägende Spuren in der Psyche. Tomas entwickelte eine autonome Haltung gegenüber der fremden Ideologie des Marxismus und Leninismus.
Die frühe Ablehnung eines doktrinären Systems führte – ähnlich wie bei Brodsky, der im Alter von 16 Jahren die sowjetische Schule verließ – nach dem Abschluß der Universität – zu einem Nomadenleben. Der Anlaß war, wie Brodsky in seinem poetologischen und persönlich-bekennenden Essay schreibt, die Niederschlagung der ungarischen Revolution, die für die intellektuelle Nachkriegsgeneration in Osteuropa „die gleiche Bedeutung wie die Niederschlagung des Dekabristenaufstands für die Puschkinsche Plejade oder der Untergang der spanischen Republik für W.H. Auden und seine Altersgenossen in den 1930er Jahren“ hatte.
Für die Literatur habe sich diese Generation als Gewinn erwiesen, denn ihr Weg sei frei von potentiellen Illusionen gewesen und ihr Kammerton sei immer die ungarische Tragödie geblieben. 

Wie hart Tomas Venclova sich diesen poetischen Gewinn erkämpfen mußte, läßt sich an den zwanzig Jahren zwischen 1957 und 1977 in Wilna ablesen. Er hält sich mit literarischen Übersetzungen aus dem Russischen und mit Feuilletons über Wasser, lernt auf seinen Reisen durch die Sowjetunion unter anderem Anna Achmatova und Boris Pasternak kennen, deren Lyrik er ins litauische überträgt.
Während dieses Zeitraumes entsteht ein umfangreiches lyrisches Werk, von dem lediglich zu Beginn der 70er Jahre ein Gedichtband Zeichen der Sprache Zeugnis ablegen konnte. Zu diesem Zeitpunkt war Venclovas aktives Engagement in der litauischen Bürgerrechtsbewegung der Anlaß für seine scharfe Überwachung durch die sowjetischen Sicherheitsbehörden.
Sicherlich wäre er, wie zahlreiche seiner Freunde zu einer langjährigen Lagerstrafe verurteilt worden, wenn sich nicht Brodsky, der bereits 1972 emigriert war, für ihn eingesetzt hätte. Venclova durfte 1977 in die USA ausreisen und ist seitdem Professor für russische Sprache an der Yale Universität, eine Berufung, die er sich nicht nur auf Grund seiner Fähigkeiten als Gelehrter und Dichter, sondern als ausgezeichneter Kenner mehrerer europäischer Sprachen – neben den drei Muttersprachen Litauisch, Polnisch und Russisch auch Französisch, Latein, Griechisch, Deutsch und Italienisch – erworben hat.
Die hier vorliegende erste umfangreiche Präsentation seiner Lyrik, begleitet von einem Essay, den Brodsky im August 1989 für die polnische Ausgabe, übertragen von Stanislaw Baranczak, geschrieben hatte, zeichnet sich durch eine Reihe von formalen und inhaltlichen Merkmalen aus, die es zu kommentieren gilt. 

Venclova ist ein hochgradig formaler Dichter, dieses Epitheton birgt die Gefahr, daß im Bewußtsein des mit der kalorienarmen Kost des freien Verses aufgewachsenen Lesers eine Verwechslung mit Traditionalismus im negativen Sinn geschieht.

Der Nachdichter nimmt diese „Empfehlung“ insofern nicht auf, als er sich – mit wenigen Ausnahmen – ausschließlich des freien rhythmischen Verses bei der Übertragung ins Deutsche bedient. Obwohl er eingesteht, daß „das freirhythmische Gepräge… sicherlich ein Notbehelf (ist)“, beharrt er mit dem Hinweis auf diese Tradition seit Luthers Psalmenübersetzungen und den Dichtungen von Klopstock, Goethe, Heine, Nelly Sachs und Paul Celan auf einem rhythmischen Prinzip, das in den vorliegenden Texten eine Reihe von Störungen aufweist. 

Wer sich einen ersten Zugang zu diesen oft hermetischen lyrischen Konstrukten verschaffen möchte, sollte sich an jene Poeme halten, die mit einer Widmung versehen sind. Es handelt sich um Ossip Mandelstam, Konstantin Bogartyrjow, Joseph Brodsky, Natalja Gorbanewskaja, Shqiperia und Hapenskus – vier russische Dichterkollegen, eine mythische Bezeichnung für Albanien und ein fiktiver Name. Kann mit Hilfe solcher Namen eine Verbindung zu einer Poetik hergestellt werden, die sich als so eigenwillig erweist, daß sie einer ausführlichen Interpretation durch seinen Dichterkollegen Brodsky bedarf?
Mit Mandelstams berühmt gewordenem Poem über das Petersburg der Vorrevolutionszeit „In Petersburg treffen wir uns wieder“ knüpft Venclova an der akmeistischen Klarheit einer Poesie an, die die Leiden unseres Jahrhunderts (bewußte Zerstörung von Kulturen, Massenvernichtung menschlichen Lebens, Einbruch der Technik in die Wahrnehmung von Natur, gegenseitige Durchdringung von Natur und Technik) in kühnen Metaphern erfaßt. Venclovas sechsstrophiges Poem greift zahlreiche Bilder aus dem Mandelstam-Gedicht auf, ohne die harten visuellen Kontraste der akmeistischen Lyrik zu erreichen (oder liegt es an der Qualität der Übertragung?): 

Dieselbe Straßenbahn, derselbe abgetragene Mantel…
Der Asphalt läßt ein Stück Papier aufsteigen;
Das neunzehnte Jahrhundert füllt mit Kälte
Den Bahnhof 

Rauschend verschließt sich der Himmel,
Jahrzehnte verbleichen.
Gleich einem Unwetter gehen dunkle Städte vorüber,
Gleich einem Geschenk wiederholen sich Gesten,
Doch niemals aufersteht ein Mensch.

Ein anderes, nur 20 Zeilen umfassendes Gedicht, das dem russischen Dichter und Dissidenten Bogartyrjow gewidmet ist, assoziiert mit dem Titel „Nel mezzo di cammin di nostra vita“ den Schritt in die Dantesche Unterwelt und den jähen Tod des Freundes durch eine Mörderhand, die offensichtlich im Auftrag des sowjetischen KGB handelte. – Venclovas lyrisches Ich versetzt sich in diese schicksalsschwere Sekunde im Leben von Bogartyrjow: 

Ich sperre die Korridortür auf. Das Herz
Setzt aus, schwer lastet’s auf der Brust.
Apropos: in diesem Staat kam
Der Tod sogar manchmal per Zufall.

Wenn Kunst „eine Form des Widerstands gegen die als unvollkommen empfundene Realität (ist) und der Versuch der Hervorbringung einer alternativen Realität, die nach Möglichkeit die Merkmale einer vorstellbaren… aufweist“, wie Brodsky in seinem Essay behauptet, dann könnte das Poem „Der Schild des Achilles“, das Venclova seinem Freund widmet, ein solcher poetologischer Ansatz sein.
Der Vergleich von antiker mythischer Geschichte, die von Krieg gekennzeichnet ist, und sowjetischer Realität (ein Schiff, auf dem es selbst den Ratten ungemütlich ist) zeichnet sich ab, wenngleich die poetischen Metaphern dann und wann schwierig zu erfassen sind: 

Und Griechen. Wir – wir sind zu unserer Schmach noch
Auf diesem Schiff, 

Das auch für Ratten ungemütlich ist.
Genau betrachtet ist das gar kein Schiff,
Sondern Ziegelmauern, schimmernde Dächer. Unglück um Unglück.
Geburtstage, die zu schnell aufeinanderfolgen. Kurz, das reife Alter. Diese Betreuung
Durchsetzt uns bis ins Mark. Dieser Raum
Läuft langsam leer und schüttet uns bald noch die Augen zu.

Was sich hier augenscheinlich im Bild von der Natur als physiologische Unmittelbarkeit begreifen läßt, verdichtet sich in dem Titelgedicht „Vor der Tür das Ende der Welt“. Es ist ein von großen ontologischen Metaphern („Das Licht wie ein Spalt / Zwischen Wind und Stein“) und düsteren anthropologischen Bildern durchzogener Text, in dem das Litauen seiner frühen Kindheit – ebenso wie in dem folgenden Text „Photographien ähnlich: weit und vage“ – in immer anderen verräumlichten Bildern auftaucht: 

Über so manchem Schieferdach.
Glut wird leuchten im Eck,
Von Zukunft kein Moment mehr übrig sein,
Dem Säugling angst sein vor der Nacht,
Er wird sich retten in den Schlaf

Und in „Photographien ähnlich“ klagt ein bereits abwesendes Ich über die in Ketten gelegte Landschaft vor dem Imperium am abgesperrten Hafen: 

Kein Zeichen sendet die Vergangenheit mehr aus.
Schwarz schlägt die Sonne dich zu Holzboden.
Und schließlich sind die Reisen mal zuende,
Da, wo sich breit macht heillos streng
Geburtsort. Ausweglosigkeit und Bürde.
Und im Morast versinkt allmählich Pästums Säulenpracht.

Um so verständlicher erweist sich die Freundschaft von Freunden als sinntragendes Element in einer Zeit, in der „der frühe Frost… durch alle Wörter geht“. In einem Poem, bestehend aus sieben Strophen, widmet er der langjährigen russischen Dichterkollegin Natalja Gorbanewskaja, der so couragierten Dissidentin, die auch ins Exil gehen mußte, eine tiefgehende Reflexion über eine Freundschaft, deren geistige Fundamente über den Abgründen des Terrors gebaut werden. 

Das Dach wird Grenze sein zum Weltall,
Die Nacht wird trennen Tauwetter vom Frost.
Die Sprache wird, vom Tode schon bedroht.
Die Treue ihnen halten.

Die meisten Verse, die in der litauischen Originalfassung im strengen Versmaß geschrieben sind und, wie Brodsky ausdrücklich betont, mit einem semantischen Klang versehen sind, weisen in der deutschen Übertragung eine fast spröde, vom Nachdichter gewollte Form auf.
Das Ergebnis sind in der Mehrzahl holzschnittartige Textformen, hinter denen sich eine einprägsame, von gewaltigen ontologischen Gegensätzen lebende Poetik verbirgt.
In „Auferstehung von den Toten“, einer sehr gelungenen Nachdichtung, ahnt der lyrische Leser ein Weltmodell, in dem die Natur zum Ebenbild von Physiologie, Zivilisation, Zeitraster und kosmischen Räumen wird: 

Uns weckt zum zweiten Male schon der Regen,
straff schimmern Streifen unter den Laternen,
die Fläche des Asphalts ist naß und glatt.
Allein der Lidschlag, ein gestörter Rhythmus
verbindet dieses Jahr mit den verlorenen Jahren.
Doch schwarz vom Fenster hebt sich ab der stumme,
in unsrem Bewußtsein nur erhaltene Baum,
der so wie wir ein zweites Leben lebt.

Selbst wenn es nur einige solcher gelungenen Übertragungen gibt, dieser kleine Band birgt kostbare Schätze einer Lyrik, in der die ontologisch definierten Bilder einer spröden Landschaft sich mit mythischen und realen Figuren aus europäischen Kulturen mischen und eine eigenständige, gegen die geopolitische Realität gerichtete Wahrnehmung einer Welt erzeugen, die uns fremd anmutet.
Wer diese Befremdlichkeit befragt, der wird in dem Essay von Brodsky eine Reihe von Antworten finden, die „am Boden des Bewußtsein, am äußersten Rand der Freudlosigkeit“ angesiedelt sind. Und wer sich die Mühe macht, diese ideosynkratischen Landschaften (Brodsky) aufzusuchen, der wird nicht nur den nördlichen, an der Ostsee aufgewachsenen Dichter entdecken, sondern auch dessen Sehnsucht nach antiker Harmonie und russischer tragischer Geworfenheit. 

Wolfgang Schlott, die horen, Heft 202, 2. Quartal 2001

Ein Imperium am abgesperrten Meer

– Der Dichter Tomas Venclova und die Schwierigkeiten der Übersetzungen. –

„Am Meer gelegnes bescheidnes Land“, so frozzelte einst Joseph Brodsky, „mit eignem Schnee, Flughafen, Telefonen / und Juden.“ Der Zusatz „und Juden“, den Brodsky in sein 1971 entstandenes „Litauisches Divertimento“ einfügte, musste den Bewohnern des „bescheidnen Lands“ wie bitterer Hohn in den Ohren klingen. Denn in Litauens Kapitale Vilnius, die man einst aufgrund der in ihr versammelten jüdischen Gelehrsamkeit das „Jerusalem des Nordens“ nannte, war im Juni 1941 fast alles jüdische Leben vernichtet worden. In der Stadt, die damals die weltweit größte Bibliothek jiddischer Bücher beherbergte, wurden nach Hitlers Überfall auf die Sowjetunion 200.000 Juden von den deutschen Okkupanten ghettoisiert und kurz darauf ermordet. Dass bei diesem Genozid der litauische Sicherheitsdienst massive Hilfsdienste geleistet hat, ist in Litauen bis heute ein Tabuthema, das noch immer die Gesellschaft polarisiert. Brodsky hatte sein „Litauisches Divertimento“, nachzulesen in seinem Band An Urania (deutsch 1994), dem Dichter Tomas Venclova gewidmet, einem lyrischen Wahlverwandten, bei dem er nach seiner parteioffiziellen Brandmarkung als „Parasit“ immer wieder Zuflucht suchte.
Mit Brodsky und Venclova schlossen in den späten sechziger Jahren zwei Dichter ein poetisches Freundschaftsbündnis, die aus ihrer Abneigung gegenüber den Anmaßungen des Sowjetmarxismus keinen Hehl machten und sich dadurch staatlicher Verfolgung aussetzten. Während Brodsky nach seiner Abschiebung in die USA 1972 bald zum virtuosen Weltpoeten aufstieg, blieb sein Dichterfreund und Weggefährte Venclova auch nach seinem Gang ins amerikanische Exil ein Unbekannter. Im September 1937 im litauischen Klaipeda an der Ostsee geboren, erlebte Venclova als Kind die furchtbare Zuspitzung eines nationalen Traumas. Das kleine baltische Land war seit dem 16. Jahrhundert immer wieder zur Beute polnischer und russischer Großmachtansprüche geworden. Die Hauptstadt Vilnius, das hat der in Litauen geborene Literaturnobelpreisträger Czesław Miłosz einmal ausgerechnet, wechselte allein in den ersten vier Dezennien des 20. Jahrhunderts dreizehn Mal den Besitzer. Bis zur Proklamation der litauischen Republik im Jahr 1918 war das litauische Sprachgebiet zudem in drei Teile gespalten: Den größeren östlichen Teil hatte das russische Zarenreich vereinnahmt, der kleinere Teil lag in Preußen, die spätere Hauptstadt Wilno war polnisch. Die staatliche Unabhängigkeit endete jäh, als Litauen und das bis dahin polnisch dominierte Wilno im Geheimprotokoll des Hitler-Stalin-Paktes Deutschland zugesprochen wurde. Nur wenige Wochen später erhielt die Sowjetunion durch eine zusätzliche Geheimklausel freie Hand in Litauen.
Dass Venclovas Vater, der Dichter, Kulturfunktionär und Stalinpreisträger Antanas Venclova, schon vor dem deutschen Einmarsch als Bildungs-Kommissar der sowjetlitauischen Regierung und nach 1945 als Präsident des litauischen Schriftstellerverbands der kommunistischen Elite zugehörte, wurde für den Lebensweg des Sohnes zur ungeheuren Belastung. Viele seiner litauischen Mitschüler sahen in dem jungen Tomas Venclova nur den Sohn des Mannes, der sein Land an die kommunistischen Unterdrücker verkauft hatte.
Als jüngster Student in der Geschichte der Universität Wilna begann er 1954 zu studieren, wurde aber nach dem Ungarn-Aufstand wieder relegiert. Mit dieser ersten Schikane beginnt die lange Geschichte von Venclovas ästhetischer und politischer Dissidenz, die aus dem Studenten bald einen unsteten poetischen Nomaden und freiberuflichen Übersetzer machte. Auf den Spuren seiner Vorbilder Achmatowa, Pasternak und Mandelstam bereiste er die Sowjetunion und kam in Moskau und Leningrad mit Regimegegnern wie eben Brodsky oder Aleksander Ginsburg in Kontakt. In dieser Zeit entstehen auch Venclovas erste Gedichte, in denen sich – ähnlich wie bei Brodsky – sehr früh ein metaphysischer Sound einstellt, eine lyrische Melange aus Lebenserzählung und geschichtsskeptischer Reflexion. „Tomas, wir sehen uns ähnlich, / sind im Grunde derselbe“, heißt es denn auch in Brodskys „Litauischem Notturno“, einer weiteren Venclova-Reminiszenz:

du, der von innen das Fenster beräuchert, und ich, den es trennt,
beide ein Amalgam,
sind wir spiegelbildlicher Grund eines einzigen Sees,
der nicht glänzt.

1972 konnte Venclova seinen ersten Gedichtband Zeichen der Sprache noch in Litauen veröffentlichen, fiel danach aber endgültig in Ungnade, als er sich für Bürgerrechtsbewegungen engagierte. 1977 erhielt er die Ausreiseerlaubnis in die USA, wo er zunächst durch die Vermittlung von Czesław Miłosz eine Gastdozentur in Berkeley antrat, und gelangte 1980 nach Yale, wo er seither als Professor für osteuropäische Literaturen lehrt. Als Dichter blieb Venclova stets im langen Schatten Brodskys, der seinerseits für eine erste polnische Ausgabe der Gedichte Venclovas einen langen Porträt-Essay schrieb, der nun auch als Türöffner für den Dichter Venclova in Deutschland fungieren soll.
Als vor zwei Jahren der Hamburger Rospo-Verlag mit dem Venclova-Band Vor der Tür das Ende der Welt die erste deutschsprachige Ausgabe eines bedeutenden litauischen Dichters vorlegte, hatte man sich dazu entschlossen, den Brodsky-Essay der Auswahl als Nachwort beizufügen. Wer indes die Thesen dieses Essays an den deutschen Übertragungen der Venclova-Gedichte verifizieren will, muss mit beträchtlichen Irritationen rechnen. „Venclova ist ein hochgradig formaler Dichter“, resümiert Brodsky und verweist auf Metrik, Reim und Versmaß als unaufhebbare Grundgesetze des Gedichts. Der Mandelstam-Übersetzer und Lyriker Ralph Dutli monierte daraufhin in seiner Rezension des Venclova-Bandes (FAZ, 18.4.2001) zu Recht, dass just jene Formgesetze in der deutschen Venclova-Übertragung des Slawisten Rolf Fieguth gründlich missachtet werden. Hinzu kommen die immanenten Schwierigkeiten dieser Übersetzung, der eine Interlinearübertragung von Claudia Sinnig-Lucas und eine russische Rohübersetzung von Venclova selbst zugrunde liegen. Wie viele Wege über Nachbarsprachen und übersetzerische Binneninstanzen hinweg kann ein Gedicht gehen, ohne dass es seine klangliche und semantische Identität verliert?
In der deutschen Venclova-Übertragung wird jedenfalls ein Dichter präsentiert, der in räsonierendem Parlando Rückschau hält auf ein in Schlaflosigkeit und Fremdheit verbrachtes Dasein. Die retrospektive Phantasie beschwört Städte herauf, die der nomadisierende Dichter durchquert hat, sie ruft Freunde und Weggefährten des Dichters in Erinnerung, imaginiert Schädelstätten der Geschichte. Und auch Joseph Brodsky wird an seinem Wohnort in Leningrad vergegenwärtigt:

Was suchst du hier, Dichter?
Ein alter Balkon, ein verwischter
Text auf bröckelndem Putz,
Zu Staub gewordene Welt.
Gelöster gordischer Knoten, Mörtel, Asphalt, Dachziegel,
Schmutz im Hauseingang, Müll
auf den Treppen, offenstehende Tür.

Als der Rospo-Verlag bald nach der Publikation des Venclova-Bandes die Segel streichen musste, rettete Michael Krüger aus der Konkursmasse das Venclova-Buch, das jetzt im Herbstprogramm von Hanser unverändert neu aufgelegt wird. Die Venclova-Gedichte erscheinen also weiterhin in freirhythmischem Gewand, nach Ansicht des Übersetzers ein legitimer „Notbehelf“, da das semantische und klangliche Raffinement des Litauischen nicht adäquat zu transformieren sei.
Die Dilemmata dieser Venclova-Übersetzung verweisen auf eine grundlegende Schwierigkeit bei der Übertragung litauischer Poesie. Für die älteste lebende indogermanische Sprache existiert bis heute kein umfassendes systematisches deutsch-litauisches Wörterbuch, das um 1680 begonnene und 2.500 Seiten starke handschriftliche Wörterbuch, das 1945 in Ostpreußen wieder entdeckt wurde, ist nie fortgeführt worden.
Dass heute überhaupt von einer litauischen Dichtung gesprochen werden kann, verdanken wir einigen beherzten Schmugglern, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verbotene Ware in das Ostsee-Land importierten. Es waren die sogenannten „Bücherbringer“, die in Preußen gedruckte Bücher über die Grenze schmuggelten, da das Drucken von litauischen Büchern in lateinischer Schrift während dieser Zeit im Russischen Reich verboten war. Die litauische Dichtung existierte bis zu dieser Zeit nur in mündlicher Überlieferung. Erst mit dem Erwachen des litauischen Nationalbewusstseins, das sich ab 1850 im Herstellen von religiösen Traktaten oder Grammatiken in litauischer Sprache manifestierte, vollzog sich auch die Geburt der litauischen Poesie. Nach 1945 war Litauen im deutschen Kulturraum einzig durch die Dichtung Johannes Bobrowskis präsent, der die ostpreußischen und nordosteuropäischen Landschaften zu Bestandteilen seines Sarmatischen Divans erklärte. Bis heute gibt es gerade mal ein Dutzend Übersetzungen litauischer Dichter, die wir vor allem dem Athena Verlag aus Oberhausen verdanken. Das Schicksal der litauischen Dichtung wird aber wohl weiterhin Tomas Venclova repräsentieren, der Emigrant, der während der ersten 40 Jahre seines Lebens mit dem Paradox konfrontiert war, in einem Land mit verschlossenem Meer zu leben. So trifft der Dichter in einem ganz buchstäblichen Sinn vor seiner Tür auf das Ende der Welt:

Der frühe Frost, der geht durch alle Wörter,
Versengt den Mund, versengt die Lungen
In dem Imperium am abgesperrten Meer.

Michael Braun, der Freitag, 11.10.2002

Was suchst du hier, Dichter?

– Eine Auswahl des großen litauischen Lyrikers Tomas Venclova. –

Tomas Venclova ist der bekannteste litauische Lyriker. Bis er 1977 die Sowjetunion verließ und nach Amerika übersiedelte, pendelte er zwischen Vilnius, Moskau und Leningrad. Die großen Katastrophen des 20. Jahrhunderts waren zu dieser Zeit vorbei, nur der Druck des kommunistischen Himmels verdichtete die östliche Atmosphäre. Aus diesem dichten Nebel gingen große lyrische Texte und große politische Gesten hervor. In den 70er Jahren ging es darum, dass ein Künstler entweder für „die Macht“ arbeitet oder sich gegen sie stellt.
Obwohl ein aktives Mitglied der damaligen Bürgerrechtsbewegung, war Venclova kein politischer Dichter. Es ist viel Zeit seither vergangen, und man kann sich heute an die damals donnernden Parolen der Dissidenten nur noch mit großer Mühe erinnern. Was aber zählt und überdauert, sind die Gedichte. In ihnen ist mehr von der Geschichte aufbewahrt als in gestrigen Zeitungsberichten und heutigen Geschichtsbüchern.
Das gilt auch für die heute in Paris lebende russische Lyrikerin Natalja Gorbanewskaja, die 1968 am Roten Platz in Moskau gegen den sowjetischen Einmarsch in die Tschechoslowakei protestierte. Ihr ist eins der melancholisch ausgewogenen Gedichte Venclovas gewidmet:

Wenn selbst die Fremden nicht mehr richtig fremd sind,
Wenn alles, was es nicht mehr fertigbrachte
Zu geschehen, stromabwärts geht mitsamt dem Nichtsein –
Als ob das Nichtsein eine Richtung hätte –
Wenn sich der Tag erschöpft hinter der Stadt
Und vor dem Wolkenbruch der Lautsprecher aufdröhnt,
Dann sollten wir uns nicht versperren vor
Des Sommers allerletzten Augenblicken

Viele Jahre, die Venclova in Russland verbrachte, seine Liebe zur russischen Literatur, seine persönliche Bindung an russische Kollegen (all das ist für Autoren aus dem Baltikum eher untypisch) gaben ihm nicht nur in der Kultur Russlands ein Zuhause, sondern öffneten ihm auch das Fenster nach Westen, so paradox das auch klingen mag. Eine besondere Freundschaft verband ihn mit dem Literaturnobelpreisträger Joseph Brodsky bis zu dessen Tod im Jahre 1996. Brodskijs Gedicht „Litauisches Divertissement“ ist Tomas Venclova gewidmet und präsentiert im Russischen die Stadt Vilnius so, wie im Deutschen das Gedicht „Wilna“ von Johannes Bobrowski für diese Stadt steht. Umgekehrt ist in vielen Texten von Venclova der Petersburger Atem mehr als nur zu spüren. Da ist die Pestel-Straße, in der Brodskij wohnte:

Was sucht du hier, Dichter?
Ein alter Balkon, ein verwischter
Text auf bröckelndem Putz,
Zu Staub gewordene Welt

Da ist das unheimliche Petersburg Ossip Mandelstams:

Bist du zurückgekehrt zu dem gelobten Ort,
Dem Stadtplan, der Kopie, dem Skelett?
Die Admiralität ist fortgeschwemmt vom Schneesturm,
Verblaßt der geometrische Farbaufstrich
Der Fläche

Tomas Venclovas Gedichtband Vor der Tür das Ende der Welt ist bereits 2000 im Rospo Verlag erschienen. Inzwischen existiert dieser Verlag nicht mehr. Der Hanser Verlag rettete nun das Buch. Dies ist um so erfreulicher, da Tomas Venclova zu den wenig und langsam schreibenden Lyrikern gehört und nicht jedes Jahr eine neue Lyriksammlung anbietet. Das Buch wird mit einem Text abgeschlossen, den Joseph Brodsky 1989 für eine polnische Ausgabe der Lyrik Venclovas geschrieben hat:

Poesie als Form des Widerstandes gegen die Realität.

Für Brodsky ist die Form des Widerstandes eben die Form. Venclova wird als „ein hochgradig formaler Dichter“ gelobt. Nach den besten formalen Regeln der Rhetorik beginnt Brodsky mit einer vernichtenden Kritik des freien Verses und zählt die geschichtsphilosophischen Gründe auf, weshalb ihm der freie Vers peinlich ist. „Die Sprache ist ihrer Natur nach metaphysisch, und häufig verweist eben der Reim auf die Wechselbeziehungen zwischen Begriffen und Erscheinungen, die in der Sprache gespeichert, aber vom rationalen Bewußtsein des Dichters nicht registriert sind“, so Brodsky.
Wer vom Wesen des Reims etwas ahnt, spürt in dieser Ansicht die Wahrheit. Brodsky steht darin der Auffassung Schopenhauers nah, der meinte, daß Metrum und Reim dem Poeten es so zu reden vergönnen, wie es sonst niemand dürfe. Aber nie und nirgends hat der Reim die Funktion des Treibstoffes, wenn es um eine Übersetzung geht. Deshalb kann man die Entscheidung des Übersetzers Rolf Fieguth, in seiner Nachdichtung auf den Reim zu verzichten, um andere Elemente der lyrischen Spannung zu retten, nur begrüßen, seine Bemerkung zu den Übersetzungen ist jedoch überflüssig. Sie sind auch ohne Berufung auf Klopstock und ohne Widerstand gegen das russische Versmaß und den Reim sehr gelungen. Sie haben Klang, lassen die Wörter alliterierend miteinander sprechen und präsentieren die souveräne und komplizierte Welt des Dichters Tomas Venclova, wie im bereits zitierten Gedicht zum Gedenken an Ossip Mandelstam:

Er geht in einen Februarmorgen,
Der das erstarrte nördliche Rom umarmt,
In einen anderen Raum, hat einen Rhythmus
Gewählt, welcher Zeit des Schnees gleicht

Olga Martynova, Der Tagesspiegel, 9.10.2002

Systematisch zerbröckelte Seelen

– Der litauische Lyriker Tomas Venclova liest im Literaturhaus. –

Übersetzungsprobleme? Die löst Tomas Venclova vorzugsweise selber: Litauisch, Polnisch und Russisch spricht er fließend, erste Interlinearübersetzungen seiner Gedichte fertigt er persönlich. 1937 in Klaipeda im damals kurz unabhängigen Litauen geboren, wuchs der Autor, dessen Vater in der 1940 ausgerufenen Litauischen SSR Kultusminister war, zwischen drei Kulturen auf.
Leicht war es für Tomas Venclova daher nicht, sich gegen den Vaterlandsverrats-Vorwurf abzugrenzen. Doch er hielt stand, ging an die Wilnaer Universität, engagierte sich in der litauischen Bürgerrechtsbewegung und begann früh, Gedichte zu schreiben. Wenige davon sind ins Englische, noch weniger ins Deutsche übersetzt: Exakt ein Band existiert derzeit, den der Hamburger Rospo-Verlag, der auch die heutige Lesung im Literaturhaus initiierte, voriges Jahr herausgab.
Inzwischen lebt Venclova in den USA. Emigriert ist er 1977 – nach längerem Tauziehen mit den Behörden, nachdem er sich in einem offenen Brief kritisch über die Kulturpolitik des sowjetisch besetzten Litauen geäußert hatte. Heute hat der Autor, der Boris Pasternak und Anna Achmatova kannte und mit Joseph Brodsky befreundet ist, eine Professur für russische Literatur an der Universität in Yale.
Brodsky hat auch das Nachwort zur polnischen Venclova-Gedichtausgabe geschrieben, das im Rospo-Bändchen abgedruckt ist. Als Meteorologen bezeichnet er Venclova darin, der „atmosphärische und moralische Katastrophen registriert“. Doch damit legt er nur ein grobes Raster über die Lyrik Venclovas, der am liebsten zwischen die Worte kriechen möchte. Der Zeit Hoffnung entlocken will er in seinen Texten, die oft von der Sowjetherrschaft über Litauen handeln, aber auch polnische Traumata wie den 1970 in Gdansk niedergeschlagenen Arbeiteraufstand spiegeln.
Andere Verse widmen sich der Nachkriegsheimkehr – und dem Entsetzen des Individuums, das Resultate nicht miterlebter Veränderungen vorfindet. Worthülsen, die sich als Dickicht über Ereignisse legen, registriert Venclova. Anderswo beklagt er verformte Landschaften, die es dem Einzelnen unmöglich machen, an den Punkt in der Vergangenheit zurückzukehren, von dem aus sich die Entwicklung zur Gegenwart hin begreifen ließe.
Identität in der Vergangenheit zu finden ist überhaupt das wichtigste Anliegen von Venclovas Gedichten aus der Sowjet-Ära. Und vielleicht ist dies auch der Grund dafür, dass er immer wieder griechisch-mythologische Gestalten wie Apoll in seine Texte streut, als wolle er sein Vokabular gegen das überbordende, die individuell litauische Vergangenheit zudeckende realsozialistische Vokabular abdichten.
Allerdings – depressiv wird der Dichter nicht; ein Funken Hoffnung blinkt immer irgendwo: „Das Licht wie ein Spalt / zwischen Wind und Stein“, sagt ein Gedicht. Licht entsteht im Abrieb zwischen Bewegung und Stillstand – genau da, wo es zwischen Schwarz und Weiß, zwischen Entweder und Oder keine Alternative zu geben scheint, wo physiologisch kein Raum bleibt. Aber den braucht Venclova auch nicht, wenn er durch Bilder Tiefe schafft und in mythologischem und christlichem Vokabular Stabilität und Wurzel für eine künftig selbstbestimmte Gesellschaft sucht. „Für den Herrn ist immer Raum“, betet er etwa unvermittelt und sucht sich und die Zeitgenossen herauszuziehen aus der Isolationshaft Gegenwart, die es leid ist, der kalten Realität durch Hoffnung zu trotzen.
Noch größere Horizonte öffnen sich, wenn Venclova die Endzeit-Trompeten von Jericho gegen das vergängliche „Flüstern“ des Realsozialismus setzt und halb verzweifelt, halb süffisant anmerkt, dass auch die Sowjetideologie das Gesetz der Vergänglichkeit nicht hat auslöschen können.
Sehr starke, aphorismengleiche Gedichte beschließen den deutschen Band: „Es war konsequent“, schreibt Venclova dort über das 20. Jahrhundert.

Es verwandelte Körper in Zahlen,
und Seelen zerbröckelte es zu Verwesung und Null,
damit der Verstand sich für siegreich hielt. Der Abgrund
mimte Hoffnung – ich würde sagen, ziemlich erfolgreich.

„Verstummt sind die Lautsprecher, und rissig wird der Granit“, endet eine andere Strophe. Auch sich selbst, den latent schuldbewussten Emigranten, schont er nicht:

Wir wurden in diesem Land geboren.
Jetzt, da wir es verlassen,
wagen wir nicht, uns umzuwenden.
(…)
Was war mit uns? Ironie, Geduld,
sehr selten – Mut…

Petra Schellen, taz, 13.6.2001

Im Land der niedrig stehenden Sonne

– Tomas Venclova ist der Odysseus vom Mare Balticum. –

Das Gedicht ist von seiner Abkunft aus prähistorisch-magischer Gestenzone Fremd-Sprache. Wie es verstehen? Vielleicht wäre dies der Idealfall: Ein Leser schlägt ein Gedichtbuch auf, das ihn von weit her, in Übersetzung erreicht, und hat als erstes diesen Eindruck, nämlich einen optischen: Der Leser sieht das Original eines fremdsprachigen Gedichtes, eine Seite nur, eine halbe. Einmal, soll das fremdsprachige Gedicht sagen können, ein einziges Mal, gerade jetzt, trete ich dir vor Augen: Schau, welche Gestalt meine Verse haben, wie meine Worte aussehen – ahnst du, was für eine Musik in mir stecken mag? Dieses Mal soll das Original sich selbst aussprechen – und sei es als ein Appetizer, für Leseraugen. (Ich rede natürlich nicht von anglo-amerikanischer Lyrik, wo sowieso jeder Hanswurst meint urteilen zu können.) Diesen Idealfall wünsche ich mir, für den Eröffnungstext, für alle übersetzten Gedichtbücher; ich wünsche ihn mir der Würde, der Würdigkeit einer jeden Fremd-Sprache wegen.
Öffnet man Herders vielstimmige Stimmen der Völker aus dem 18. Jahrhundert, folgt auf ein erstes deutsches Volkslied ein schottisches, dann ein litauisches, Nummer vier wieder ein litauisches, das fünfte Volkslied auch schon wieder eins aus Litauen. Verblüffend genug auch wieder nicht, vergegenwärtigt man sich, daß Herder, der Ostpreuße, in Weimar, nahe dem nachbarlichen Baltikum, aufgewachsen ist. Der Stimmensammler hatte so etwas wie ein Vertrauensverhältnis zu den auffallend reichen litauischen Liedschätzen. In den Nachkriegsjahren um 1960 ist es der inzwischen leider unterschätzte Johannes Bobrowski, gebürtig aus Tilsit, gewesen, der auf Litauen und seine Dichtung aufmerksam machen konnte, ein grenzländischer Stimmeneinfänger war das, als mittelnder Transporteur von Litauischen Clavieren unterwegs. Bobrowskis sarmatische Osteuropa-Gedichte, mit ihren altbaltischen (pruzzischen) Einsprengseln, waren schon bei ihrem Erscheinen ein leise gewordenes, verschallendes Echo. Wissen wir heute etwas über Litauen? Fast nichts. Haben wir die Spur einer Ahnung von seiner Dichtung? Kaum.
Tomas Venclova wurde 1937 in Klaipeda/Memel geboren und lebt heute in den USA; er lehrt in Yale, und der litauische Dichter wird sich kaum daran erinnern können, daß, umjubelt von fähnchenschwenkenden Memeldeutschen, am Kai seiner Heimatstadt die KdF-Dampfer „aus dem Reich“ angelegt haben. Um so deutlicher gegenwärtig ist Venclova das (1948 erneut „eingegliederte“) Litauen des Kalten Kriegs, als er Sowjetbürger zu sein hatte. Mit den Russen haben sie gar keine guten Erfahrungen gemacht, die Litauer; die haben zur Zarenzeit ihnen mal 40 Jahre lang verboten, ihre Muttersprache zu schreiben; so etwas ist schlecht zu vergessen.
Und aus Tomas Venclova ist das geworden als Lyriker, was aus einem alteuropäisch Gebildeten, einem Emigranten zudem, werden kann: Er ist zu einem Erinnerungsdichter geworden, der sich in seiner Lyrik als aus der Heimat Entfernter begreift: „Fremder dem Blick der Passanten als Odysseus“, wie es einmal über einen Freund heißt. Er ist keiner allerdings von der aufdringlich berufsdissidenten Sorte – glücklicherweise inzwischen Auslaufmodell –, der vor lauter Nachtragen, Übelnehmen und Depression die Sprache als ihr Eigenes, ihr Bedeutendstes aus dem Blick geraten wäre. Schon mal wichtig.
Ein Dichter also hoch oben vom Mare Balticum, von einer Ostsee mit niedrigstehender Sonne, so jemand spricht karg, umschweiflos, durch kein mediterranes Zikadengeschrill muß er seiner Stimme den Weg bahnen. Es ist eben die normale, auch in der angrenzenden slawischen oder der finnischen Dichtung anzutreffende Schwermut, die seine Verse grundiert. Vor der Tür das Ende der Welt ist allerdings ein herber, ziemlich katastrophistischer Titel, der uns ziemlich an die ungute Lyrik der siebziger Jahre erinnert; ob der Verlag dem Autor damit einen Dienst erweist, ist fraglich.
Mit Katastrophenstimmungs-Mache hat Venclova eher nichts zu tun, sieht man davon ab (kann man davon absehen?), daß viele seiner Gedichte vor 1989 geschrieben und veröffentlicht worden sind, vor allem auch in osteuropäischen Sprachen. Tomas Venclova, der freie Verse mag, hat eher mit der Moderne, mit der gemäßigten, zu tun; auch mit dem gestrengen, allerdings Formtreue exerzierenden Joseph Brodsky zum Beispiel, der das Dichteramt wie keiner sonst bekleiden konnte und der in den USA sein Buddy wohl geworden ist. Der Russe (der im ZEIT-Interview einst bekannte: „Benn ist mein Idol!“) war schon mit der Ex-cathedra-Gewichtigkeit seines Nobelpreises ausgestattet, als er den Litauer als den Seinen erkannte, in einem elfseitigen Essay. Für die nun seit zwei Jahren vorliegende deutsche Ausgabe ist das aufschlußgebende Feature mit übersetzt worden. Mit ihm, Brodsky, befassen sich verschiedene Gedichte, rufen ihn gewissermaßen an, so an seinem ehemaligen Leningrader Wohnort („Pestelstraße“), nicht nur in Widmungen.
Der Dichter auf seiner Lebensodyssee. Die Zeit ist ihm eine wichtige Metapher, ebenso nördliche Kälte- und Vereisungsmetaphern, dazu häufig eindrückliche Meeres- und Hafenbilder (Memel-Ithaka!). In den Gedichten ist alles ein bißchen ostblockmäßig trist, abgeschrappt und dem Verfall geweiht, wenn nicht ohnehin das meiste schon unrettbar ist – ähnlich der Vanitas-Dichtung, stumm spricht der Staub das Seine. Und manchmal klingt Venclovas Ton leicht verkatert, nicht unsympathisch, wie der elegische Ton heruntergedimmt wird, und die umgangssprachliche Wendung tritt hinzu wie „Der Schnapps duhnt hier auch“. Schöner Übersetzergriff, das nord(ost)deutsche Wort einzusetzen; allein, man „ist duhn“ – „knallt“ beispielsweise harter Alkohol nicht besser? 

Venclovas elegische Lebensodyssee führt ihn in aller Herren Länder, bis an das Ende der Welt, und zeugt, bar jeder Gemütlichkeit, Reisegedichte – in solchen wird bekanntlich immer das Eigene im Fremden entdeckt, was manchmal einen leicht raunzigen Ton erklären mag. So wird bis nach Tasmanien („Museum in Hobart“) der Erdball durchmessen – hier befand sich, ganz direkt sagt er das, „ein kleines britisches Gulag“ („sogar das Tonband bereut die Fehler, / und gutmütig droht auf dem Bildschirm / ein Ureinwohner, der aus der Ewigkeit wiederkehrt“). Der medientechnisch für das Museum wiederauferstandene Aborigine wird anschließend christologisch gedeutet und in ein für meinen Geschmack zu sehr ausgeführtes Bild gefaßt, sogar die Folter der Dornenkrone, die ihm fehlt, fehlt nicht.
Neben der in Eiseskälte verharrenden, noch geteilten Stadt („Berliner U-Bahn, Halle’sches Tor“) kommt der „nördliche Dichter“ (Brodsky) auch nach Venedig, wo er, hierin durchaus Georg Trakl nah, den dortigen Prominentenfriedhof besucht und orphisch besingt, die Toteninsel „San Michele“ und die Bootsfahrt dorthin und zurück, zum „Orkus“ und ihren Entseelten (hier liegt Pound; und auch der Freund Brodsky): 

… Gras und Steine. Dieselbe Insel.
Und erstarrend lauscht da der Wanderer,
wie über den Büschen die Tropfen zur Stille sich sammeln
(…)
bis das Bewußtsein aus der Erstarrung erwacht
nicht mehr vom Einstich der Spritze, aber noch nicht
vom Wasser, vom Dampfer, vom Baum.

Ein starkes Gedicht, das auch in der Übersetzung von Rolf Fieguth noch greift. Ebenso wie „Tu felix Austria“, natürlich ein Wien-Gedicht („Der Barockhimmel / senkt sich auf die Festung der Habsburger“). In der österreichischen Metropole inspiziert und visitiert der Intellektuelle mit Sigmund Freud und führt in expressionistischer Verknappung den frühen Gottfried Benn aus („Im Café hustet letztjähriger Rock“).
Dem Sightseeing-Gedicht weiß der litauische Odysseus aus dem Weg zu gehen. Angenehm: Ein sentimentgespickter Bildungsprotzer ist er nicht, kein Baedeker-Junkie. Bei jemandem, der weit herumkommt, in einer Zeit des geradezu hysterisch gehetzten Autorenreisens, ist das sehr viel. Dagegen Tomas Venclovas Sprach-Blick zu folgen, lohnt sich. 

Thomas Kling, Die Zeit, 2.10.2002

„Ich möchte Therapeut sein für mein Land“

–Will seine Heimat nach Europa zurückführen: Der litauische Lyriker und Essayist Tomas Venclova. –

Noch nie hatte Litauen so etwas erlebt: Drei Literatur-Nobelpreisträger trafen sich in Vilnius, um mit dem prominentesten Lyriker des Landes – Tomas Venclova – öffentlich nachzudenken über den Umgang mit Erinnerung. Für Venclova, Günter Grass und seine beiden polnischen Kollegen Czesław Miłosz und Wisława Szymborska war das kleine alte und von alter Weltpolitik so gebeutelte Vilnius gerade der rechte Ort: „Die Vilniuser Kultur“, so Venclova, „wurde geschaffen von Litauern, Polen, Juden sowie von Deutschen und Russen, Italienern und Belorussen, Franzosen und Tataren. Sie alle erheben Anspruch auf einen Teil der Erinnerung von Vilnius, und manchmal auch auf die ganze.“
Wie unterschiedlich die Sicht auf diese Stadt mit den vielen Namen – Vilnia, Wilno, Vilné, Wilna, Vilnius – ausfallen kann, wird deutlich, wenn Miłosz und Venclova über ihre Heimatstadt erzählen, in der sie im Abstand von 26 Jahren groß geworden sind. – Miłosz’ Stadt seiner Jugendjahre war das polnisch dominierte Wilno. Zu den frühesten Erinnerungen von Venclova gehört die deutsche Besetzung während des Zweiten Weltkriegs. 1937 in Klaipeda (Memel) geboren, kommt er 1941 in die Hauptstadt des gerade zur Sowjetrepublik gewordenen Litauens. Kurz darauf wird er Zeuge des deutschen Einmarschs ins „Jerusalem des Nordens“. 200.000 Juden werden ermordet. 1945 „befreit“ die Rote Armee Litauen, es folgen Massendeportationen der Balten nach Sibirien; die Stimmung im Lande ist antisowjetisch aufgeheizt. Doch Venclovas Vater, der Volksdichter Antanas Venclova, gehört vor dem Einmarsch der Deutschen als Kommissar für Bildung der sowjet-litauischen Regierung und in den fünfziger Jahren als Präsident des litauischen Schriftstellerverbands der kommunistischen Intellektuellen-Elite an. Auch der Sohn geht aus Überzeugung zu den Komsomolzen. Bis 1956. Die Ereignisse in Ungarn und Polen öffnen ihm die Augen.
Der junge Student gründet mit Gleichgesinnten einen geheimen Zirkel, man liest Kafka und die Existenzialisten, lernt Polnisch, um die weniger zensierte polnische Presse lesen zu können. Schon bald steht der KGB vor der Tür: Verhöre und Schikanen nehmen ihren Anfang. Nach dem Studienabschluss reist Venclova – dem Provinzialismus und dem verdeckten Chauvinismus des Heimatlands entfliehend, den er genauso verurteilt wie den Totalitarismus – im ganzen sowjetischen Imperium umher und lebt für längere Zeit in Moskau und St. Petersburg. Er verdient seinen Lebensunterhalt als freiberuflicher Übersetzer, überträgt Achmatowa, Pasternak, Mandelstam ins Litauische, aber auch T.S. Eliot, W.H. Auden, Joyce, Genet oder García Lorca. In den literarischen Dissidentenkreisen, in denen er sich nun bewegt, kommt er mit Regimegegnern wie Aleksander Ginsburg oder Natalja Gorbanewskaja zusammen und schließt Freundschaft mit Joseph Brodsky. An der Universität in Vilnius übernimmt er immer wieder Lehraufträge und fährt von dort aus häufig ins estnische Tartu zu dem berühmten Semiotiker Jurij Lotman. Im Laufe der Jahre setzt sich Venclova auch mit seiner eigenen Lyrik durch. Für Brodsky ist er „der Sohn dreier Literaturen, und zwar ein dankbarer Sohn“, der sowohl die litauische als auch die russische und polnische Literatur bestens kennt und in der eigenen Dichtung fortschreibt. „Am Allergenauesten müsste man den aus diesen Versen hervorgehenden Menschen mit einem hoch wachsamen Beobachter vergleichen, einem Seismologen oder Meteorologen, der die atmosphärischen und moralischen Katastrophen registriert: außerhalb und innerhalb seiner selbst“, sagt Brodsky über den litauischen Kollegen.
Ein Teil seiner Gedichte und Essays kann die Zensur passieren und erscheint in offiziellen Zeitschriften. 1972 wird sogar Venclovas erster Gedichtband Zeichen der Sprache in Litauen veröffentlicht. Vieles findet den Weg zum Leser aber nur über den russischen Samisdat. Anfang der siebziger Jahre wird Venclova in seiner Kritik immer offener. Als Antwort darauf belegt man ihn mit Druck- und Lehrverbot. In einem Brief an die kommunistische Partei, in dem er um Ausreiseerlaubnis bittet, bekennt er:

Die kommunistische Ideologie ist mir fremd und meines Erachtens größtenteils falsch.

Er tritt der Helsinki-Gruppe bei, die sich für die Verteidigung der Menschenrechte in der Sowjetunion einsetzt. Einige Mitglieder werden verhaftet, andere ausgewiesen, so auch Venclova. 1977 lässt man ihn in die USA fliegen, wo er durch die Vermittlung von Czesław Miłosz eine Gastdozentur in Berkeley antritt. Später entzieht man ihm die sowjetische Staatsbürgerschaft.
Zu seinem neuen Lebensmittelpunkt wird Yale, wo Venclova als Professor für osteuropäische Literaturen arbeitet. In Essays und Aufsätzen beschäftigt er sich auch weiterhin mit Geschichte und Politik der Sowjetunion und Litauens, berichtet über Menschenrechtsverletzungen, schreibt aber auch offen über das schwierige Verhältnis von Litauern und Russen, Litauern und Juden und der Mitschuld seiner Landsleute am Holocaust in Litauen – ein in dem baltischen Staat bis heute heißes Eisen.
Seit der Revolution 1990 ergreift der litauische Dichter mit mittlerweile amerikanischem Pass auch in seiner Heimat wieder häufig das Wort – massiven Angriffen vor allem rechter, nationaler Gruppierungen zum Trotz. „Ich möchte ein Psychotherapeut für Litauen sein“, sagt er, und anscheinend ist er damit sogar erfolgreich: Das Verhältnis zwischen Balten und Russen hat er in den letzten Jahren in wesentlichem Maße positiv mit beeinflusst. Und die Verbesserungen der litauisch-polnischen Beziehungen sind auch das Ergebnis der gemeinsamen Bemühungen von Venclova und Miłosz. Das jetzt vom Goethe-Institut und dem Polnischen Kulturinstitut organisierte Treffen – krönender Abschluss der Veranstaltungsreihe Litauisch-deutsch-polnische Gespräche über die Zukunft der Erinnerung – erweiterte den Rahmen der Erinnerungsarbeit um die deutsche Stimme von Günter Grass. Der nahm als Ausgangspunkt seiner Betrachtungen das zu Vilnius parallele Schicksal seiner verlorenen Heimatstadt Danzig.
„Dass drei so herausragende europäische Schriftsteller gleichzeitig nach Litauen kommen, ist ein Präzedenzfall“, schwärmt Venclova.

Das zeugt von einem normalisierten Kulturleben in Litauen, von dessen Eintritt in die Weltgemeinschaft.

Wie viel Bedeutung man diesem Treffen auch von offizieller Seite beimaß, war daran abzulesen, dass Staatspräsident Valdas Adamkus bei der gemeinsamen Einweihung einer Gedenktafel für Brodsky, der dem Land eng verbunden war, selbst das Wort ergriff und die Botschafter in Sachen Kultur anschließend zu Tische lud. Die Frage, wie Litauen in Zukunft mit der Erinnerung umgehen wird, beantwortet Venclova optimistisch: Er sei überzeugt, dass das litauische Selbstbewusstsein heute stark genug ist, um die nationalistischen Bestrebungen bald zu überwinden und wieder zu einer Kultur der Toleranz zurückzufinden, wie sie in Vilnius vom Mittelalter bis zur Aufklärung Tradition hatte.

Carola Dürr, Die Welt, 12.12.2000

 

Der magnetische Norden

(…)

Die Kriegsjahre 1941–1944

Ellen Hinsey: Nach der deutschen Invasion in Litauen und der Rückkehr Ihrer Mutter aus dem Gefängnis haben Sie in Freda bei Kaunas gewohnt. In welchem Zustand war Kaunas damals?

Tomas Venclova: Die Stadt war der Zerstörung entgangen und machte, abgesehen von den Soldaten, die bestimmte Gebäude bewachten, bei oberflächlicher Betrachtung einen friedlichen Eindruck. Kaunas war recht modern, mit vielen Art-déco-Gebäuden. Kinos, Cafés und Tanzsäle waren noch geöffnet. Auch die Busse fuhren, und die zahlreichen Stadtgärten waren voller Menschen. Wenn ich mich nicht irre, waren selbst die Brücken intakt und nicht von der abrückenden Sowjetarmee gesprengt worden.

Hinsey: Haben Sie noch andere Bilder der deutschen Besatzung vor Augen?

Venclova: Ein- oder zweimal nahm mich meine Mutter mit zur Laisvės Alėja, dem wichtigsten Boulevard, auf dem sie in ihrer Studienzeit gern flaniert war. Ein deutscher Wachmann wollte mir ein Bonbon geben, doch meine Mutter ignorierte sein Angebot, zu meinem größten Missfallen. In einiger Entfernung von der Laisvės Alėja sah ich auf einem Hausdach eine schwarze Fahne mit zwei Blitzen im Wind flattern – meine Mutter erklärte mir, dass es eigentlich zwei Buchstaben waren, „SS“.
„Was ist ss?“, fragte ich.
„So etwas wie ein Militärbüro, aber darüber spricht man besser nicht.“
In Freda haben wir fast nie Deutsche gesehen, aber es gab dort mindestens einen unverhohlenen Kollaborateur, der uns manchmal ungebetene Besuche abstattete; einmal zog er im angetrunkenen Zustand eine Pistole aus seinem Rucksack und wollte uns damit imponieren, dass er auf einen Vogel in unserem Garten schoss. Er verdiente seinen Lebensunterhalt mit Schwarzmarktgeschäften und verschwand spurlos, kurz bevor die Sowjets zurückkehrten.

Hinsey: Wie hat Ihre Mutter die Zeit nach ihrer Freilassung erlebt?

Venclova: Meine Mutter stand formell unter polizeilicher Beobachtung, zumindest eine Zeit lang. Einmal kamen Polizisten in das Haus meines Großvaters und haben die Scheune durchsucht, weil man ihnen gemeldet hatte, dass sich dort ein entflohener russischer Kriegsgefangener versteckt halten könnte. Sie bedrohten meine Mutter mit einem Gewehr und befahlen ihr, die Scheune vor ihnen zu betreten – offenbar befürchteten sie einen Schusswechsel. Die Scheune war leer.
Das Kriegsgefangenenlager befand sich am Ufer der Memel, unweit der Eisenbahnbrücke. Wir wussten, dass die Kriegsgefangenen nicht zu beneiden waren. Ein junger Litauer, der Sohn unserer Nachbarn, warf den hungrigen Russen einen Kohlkopf über den Stacheldraht. Dies war strengstens verboten, er wurde an Ort und Stelle erschossen.
Andererseits erhielten wir von einem alten Polizisten in der Nachbarschaft und von einem früheren Schulkameraden meiner Mutter, die beide gute „Verbindungen“ hatten, ab und zu Warnungen über bevorstehende Aktionen, bei denen Mutter verhaftet werden könnte, wenn sie zu Hause angetroffen werden würde. Sie ging dann ins Stadtzentrum und verbrachte einige Nächte in der Wohnung von Karolis. Im Winter musste sie die gefrorene Memel überqueren, weil die Brücken für sie tabu waren; im Sommer konnte man auf die Hilfe eines Fährmanns zählen.
Natürlich ist unser Schicksal nicht mit dem der Kaunaser Juden vergleichbar. Sie wurden ins Ghetto von Vilijampolė, einen Vorort von Kaunas, getrieben und nach und nach ermordet. Es lag weit von Freda entfernt, und außerhalb von Vilijampolė waren nur noch selten Juden zu sehen. Zwei jüdische Kinder, die von Litauern versteckt und gerettet worden waren, sind nach dem Krieg meine engen Freunde geworden: Aleksandras Stromas, ein Politikwissenschaftler, der fast zur selben Zeit wie ich aus der UdSSR emigriert ist und am Hillside College eine Professur bekam, und Kama Ginkas, einer der besten Theaterregisseure im heutigen Russland, den ich nicht nur in Vilnius und Moskau, sondern auch in New Haven getroffen habe, weil ihn das Yale Repertory Theatre mehrfach zur Bühnenarbeit eingeladen hat.
Sie waren es, von denen ich später Einzelheiten über das Kaunaser Ghetto und das Netzwerk der Retter erfahren sollte. Unsere Familie gehörte nicht zu diesem Netzwerk, auch wenn sie davon wusste, weil viele unserer Freunde daran beteiligt waren. Manchmal hat ein junger litauischer Arzt mit seiner Frau Johanna, allem Anschein nach eine Deutsche, uns zu Hause besucht: In Wirklichkeit war sie jüdisch, und die Ehe war (mit falschen Papieren) arrangiert worden, um sie zu retten. Dieses große Geheimnis hat meine Mutter selbstverständlich nicht mit mir geteilt, bis der Krieg zu Ende war. Kazys Boruta, dessen Tochter Eglė mir das Lesen beibrachte (und später eine bekannte Physikerin wurde), gehörte auch zu diesem Netzwerk.

Hinsey: Wie hat es sich ausgewirkt, dass Ihr Vater in Moskau war?

Venclova: Die meisten früheren Freunde unserer Familie wollten nichts mehr mit uns zu tun haben, manche beschimpften meine Mutter sogar am Telefon, weil sie „die Frau eines Bolschewiken“ war. Boruta war einer der wenigen, die uns die Freundschaft nicht kündigten. Er wohnte weiterhin in Vilnius, kam aber oft nach Freda. Ich lernte ein langes Gedicht von ihm über den Polarforscher Amundsen auswendig und habe es manchmal in seiner Gegenwart rezitiert – er nahm es als gerechte Strafe. Er kümmerte sich auch um Vaters Bibliothek, von der nur ein Teil erhalten war, weil die deutschen Offiziere, denen unsere Vilniuser Wohnung zugewiesen wurde, vieles weggeworfen hatten. Boruta brachte die Bücher zu uns nach Freda und versorgte mich so mit zusätzlichem Lesestoff. Ein anderer Schriftsteller, der uns nicht mied, war Henrikas Radauskas, ein brillanter Poet, der sich in den Klaipėdaer Jahren mit meinem Vater angefreundet hatte. Obwohl Radauskas linksgerichtete Ansichten vertrat, floh er 1944 vor den Sowjets und kam nach Washington, DC. Als junger Mann habe ich leidenschaftlich gern seine Gedichte gelesen, die über die Emigrantenpresse nach Vilnius gelangten. Radauskas war der beste litauische Lyriker des zwanzigsten Jahrhunderts, eine Art litauischer Mandelstam. Leider habe ich ihn nicht wiedergesehen: er ist sieben Jahre vor meiner Emigration gestorben.

Hinsey: Welche Erinnerungen haben Sie an Freda?

Venclova: Wir haben drei Jahre im Haus meines Großvaters gelebt. Natürlich haben meine Mutter und meine Großeltern sich nach Kräften bemüht, uns trotz der widrigen Umstände eine einigermaßen glückliche Kindheit zu geben. Sie erfanden verschiedenste Ablenkungen und inszenierten sogar Theaterstücke, in denen wir Kinder auftraten. In meiner Erinnerung fließen die Kriegsjahre, die Nachkriegszeit und sogar die Vorkriegszeit in Freda ineinander, vielleicht kommt mir die Kriegszeit deshalb erträglich vor. Freda war ein Refugium, wenigstens aus unserer Sicht. Und die Naziokkupation war allgegenwärtig, man konnte nichts dagegen machen.
Nach dem Krieg haben wir meine Großeltern oft besucht und monatelang bei ihnen gewohnt, besonders im Sommer, ihr Haus ist mir in lebendiger Erinnerung. Es steht heute noch, aber nach dem Selbstmord meines Großvaters wurde es verkauft und kam schrecklich herunter. Einmal ist mein kleiner Cousin Andrius in den Teich gefallen und wäre beinahe ertrunken, wenn ihn nicht mein Großvater gerettet hätte, der im letzten Moment aus dem Haus gelaufen kam. Im Erdgeschoss befanden sich ein Wohnzimmer mit gepolsterten Sesseln, Großmutters Schlafzimmer mit einer orthodoxen Ikone an der Wand – sie war zwar katholisch, hatte aber keine Bedenken, zu ihr zu beten. Zwei geräumige Zimmer gehörten Großvater. Für uns Kinder waren sie tabu. Wir wussten, dass er dort seine Bibliothek hatte; manchmal konnte ich einen Blick auf die riesige Landkarte von Litauen erhaschen, die neben seinem Schreibtisch hing.
In meinen Augen war dieses bescheidene Haus ein Labyrinth voller entlegener Winkel und merkwürdiger Gegenstände: eine alte Uhr, die die Nacht hindurch schlug, und ein Spiegel, in dem eine Vielzahl von kleinen Flakons zu sehen war. An den Wänden hingen Fotografien, darunter ein großes Porträt meiner Großmutter kurz vor der Hochzeit und das Bild einer unbekannten jungen Frau, die auf einer großen Wiese vor einem Schloss im Hintergrund ruhte. Man erzählte mir, dass die Frau meine abwesende Tante Mari ja war und die Wiese auf Korsika lag, wo sie vor dem Krieg einmal gewesen war. Ich habe viele Jahre später versucht, dieses Haus meiner Kindheit in dem Gedicht „Blick aus der Allee“ zu beschreiben.
Das Wohnzimmer führte auf die Veranda hinaus, deren Glastüren sich zum Garten öffneten, sowie in das Badezimmer und die Küche. Es gab weder fließendes Wasser noch eine Zentralheizung: Unter dem Schleppdach im Hof stand Großvaters Brennholzstapel, mit dem er den Kachelofen im Wohnzimmer und einen alten Küchenherd heizte, auf dem Großmutter das Essen zubereitete. An der Rückwand der Veranda befand sich ein großes Wandgemälde, das Bauern bei der Apfelernte zeigte und von Tante Marija aus ihrer Studienzeit stammte. Im Flur waren ein Telefon und ein dickes Telefonbuch aus der Vorkriegszeit mit Beschreibungen, wie man Stockholm oder Liverpool anruft. Im Obergeschoss gab es zwei Zimmer: In der guten alten Zeit hatten in dem einen meine Eltern geschlafen, in dem anderen Petras Cvirka und Tante Marija. Dazwischen lag der Dachboden, der größer war als die beiden Zimmer zusammen. Dort bewahrte Großvater Hunderte alter Bücher auf, in denen ich begierig geblättert habe, um vollkommen überflüssige Informationen aufzusaugen.
Von der Küche kam man in den Hof mit einem Brunnen aus Zement und einer Scheune. Dort lag ein deutscher Schäferhund namens Jim an der Kette. Im Schatten einer Eiche, dem höchsten Baum auf dem Grundstück, döste der Gemüsegarten, wo auch einige Tabakpflanzen wuchsen. In einem zweiten, größeren Garten – vornehmlich voller Apfelbäume – standen Thujen, Lärchen, eine Tanne und, gleich am Zaun, eine Espe. Dort gab es auch einen kleinen Hund unbekannter Rasse, der Rudis hieß, der Braune. Wir haben ihn sehr gemocht. Rudis ist viele Jahre nach dem Krieg an Altersschwäche gestorben und wurde am Zaun des Gemüsegartens begraben, auch das ist im „Blick aus der Allee“ erwähnt.

Hinsey: Das klingt sehr ländlich – können Sie das damalige Freda genauer beschreiben?

Venclova: Freda war zwar ein Vorort von Kaunas, aber in der Tat noch recht ländlich. Vieh gab es keines mehr, aber Hühner und ein paar Enten im Hof. Nach dem Ende der deutschen Okkupation vermietete Großvater einen Teil des Hauses an eine geschäftstüchtige Familie, die sogleich anfing, auf dem Grundstück Kühe und Schafe zu halten, doch das währte nicht lang. Der ganze Ort bestand aus gleichartigen Häusern mit Gärten, Gemüsegärten und Blumenbeeten. Diese Häuser, vornehmlich von Professoren der Universität bewohnt, säumten enge kleine Seitenstraßen, wo nie Fahrzeuge zu sehen waren; nur auf der Hauptstraße, die als einzige richtig gepflastert war, hielt zwei oder drei Mal am Tag ein Bus. Normalerweise ging man zu Fuß oder fuhr Fahrrad. Die Seitenstraßen endeten als Sackgassen an einem steilen Hang mit Senken, wo wir im Winter Schlitten fuhren und im Sommer Tarzan spielten. Unten war eine Eisenbahnstrecke, jenseits davon das Memelufer. Über dem Fluss lag das Stadtzentrum von Kaunas – genau genommen befand es sich ein wenig zur Linken: Vom Hang aus konnte man den ärmeren Teil der Stadt sehen, eine Art East End von Kaunas. In der Nähe befand sich der botanische Garten mit den Gewächshäusern, in dem auch einige Professoren arbeiteten: Dort ist meine Mutter oft mit uns spazieren gegangen. In einer anderen Richtung lag am Ufer der Memel der Napoleon-Hügel, von dem aus der Kaiser seine Truppen bei der Überquerung des Flusses, also der Invasion Russlands, beobachtet haben soll. Ein paar Kilometer entfernt von uns lag schließlich ein Flugfeld. Eines der ehrgeizigsten Projekte des unabhängigen Litauen bestand in dem – nicht ganz erfolglosen – Versuch, Luftstreitkräfte aufzubauen, die den starken Nachbarstaaten gewachsen sein sollten. Während des Krieges wurde das Flugfeld von den Nazis genutzt, später von den Sowjets. 

Hinsey: Sie erwähnten vorhin, dass Ihre Großmutter religiös gewesen sei. Litauen ist ein Land mit einer starken katholischen Tradition. Welche Erinnerungen knüpfen sich für Sie an die Religion?

Venclova: Großmutter war gläubig, Großvater – wie auch sein Bruder Karolis – hingegen ein Freigeist, was er jedoch für sich behielt: er unterrichtete Theologiestudenten in neutestamentlichem Griechisch. Mein Vater war Atheist und überredete meine Mutter zu einer standesamtlichen Eheschließung, damals ein heikle Entscheidung. Wie in den spanischsprachigen Ländern war auch im unabhängigen Litauen die Spannung zwischen Katholiken und Liberalen der vorherrschende kulturelle Konflikt. Die katholische Kirche dominierte, und Litauen war damals, soweit ich weiß, das einzige europäische Land, in dem nur kirchlich geschlossene Ehen anerkannt wurden. Im Memelland hingegen, wo eine autonome Gesetzgebung (aus der deutschen Zeit vor dem Ersten Weltkrieg) galt, waren standesamtliche Ehen gültig. Also fuhren meine damals in Kaunas ansässigen, zukünftigen Eltern in das nächstgelegene Dorf im Memelland und ließen sich dort standesamtlich trauen. Wie nicht anders zu erwarten, löste dies einen Skandal aus, der für meine Großeltern und auch für meine Mutter ziemlich strapaziös war. Meine Mutter ertrug ihn mit der für sie typischen Unerschütterlichkeit, ihre Schwester Marija aber bestand, als es an ihr war, den notorischen Atheisten Petras Cvirka zu heiraten, auf einer kirchlichen Trauung und hat sich durchgesetzt.
Getauft wurde ich zunächst nicht – in Klaipeda war das akzeptabel. Doch während des Krieges begann meine Großmutter davon zu reden, dieses Versäumnis nachzuholen. Sie wünschte sich katholische Enkelsöhne (Andrius war schon getauft), doch vermutlich dachte sie auch daran, dass ein ungetauftes Kind bei den Nazis leicht als jüdisch denunziert werden konnte. Mit einiger Mühe gelang es ihr, meine Mutter zu überreden, und so wurde ich in die kleine Kirche von Freda gebracht, wo der Priester, ein Bekannter unserer Familie, die Zeremonie vollzog. Ich war zu jener Zeit fünf Jahre alt und erinnere mich deshalb deutlich daran. Man gab mir etwas Salz in den Mund: Ich fragte, ob ich es ausspucken dürfe, musste es aber hinunterschlucken. Mein Taufpate war Antanas Bendorius, ein Geographielehrer und ehemaliger Kollege meines Vaters in Klaipėda, Nach der Zeremonie besuchten wir ihn in seiner Wohnung im Stadtzentrum von Kaunas, wo ich überwältigt war von einem riesigen Globus: Ich stieg auf eine Leiter und erforschte stundenlang die Kontinente.
Nach meiner Taufe ging ich manchmal mit Großmutter zur Messe. Die Kirche von Freda grenzte an den botanischen Garten. Es war eine russisch-orthodoxe Kapelle aus der Zarenzeit, die nun von der kleinen katholischen Gemeinde genutzt wurde. Die Kuppel war mit einem dreifarbigen Streifen bemalt worden – den Farben der litauischen Flagge –, zum Zeichen, dass die Kirche von Patrioten übernommen worden war. Ich gestehe, das hat sich mir am besten eingeprägt. Wir begingen die traditionellen katholischen Feiertage, wenn auch eher als Bräuche denn als religiöse Feste. An Heiligabend bereitete Großmutter die traditionellen zwölf Gerichte zu, ein Tannenbaum wurde mit einfachen Spielsachen und anderen Kleinigkeiten geschmückt, und Großvater spielte den Weihnachtsmann. Zu Ostern brachte uns meine Mutter bei, wie man Eier bemalt. Das alles setzte sich in unserer Familie bis in die Sowjetzeit hinein fort, wurde aber nach und nach aufgegeben. Ich denke, nicht aus Gehorsam gegenüber dem atheistischen Regime, sondern einfach weil die Kindheit vorbei war.
Als ich sechs oder sieben Jahre alt wurde, schenkte mir Großmutter drei Bücher, die die wichtigsten Geschichten des Alten und Neuen Testaments zusammenfassten. Das Alte Testament beeindruckte mich am meisten: Die Geschichte der Israeliten war voll von faszinierenden Ereignissen. Die Israeliten, so erzählte man mir, waren Juden, was meine kindliche Auffassung widerlegte, Juden müssten unbedingt Kommunisten sein. Ich lernte Gebete, darunter das Vaterunser, das Ave-Maria und das nizänische Glaubensbekenntnis und mochte vor allem die langen Litaneien. Eine Zeit lang war ich ein eifriger Christ, legte aber keinen besonderen Wert darauf, meinen neuen Glauben mit der Familie zu teilen – das war zu intim. Wie es sich für einen emsigen Leser des Alten Testaments gehört, erregte Gott vor allem Furcht in mir. Doch die frühe Phase der religiösen Begeisterung ging bald vorüber.

Hinsey: Zurück zum Krieg – was hat man Ihnen damals über Ihren Vater erzählt?

Venclova: Zunächst hieß es, mein Vater habe in Vilnius zu tun und könne uns eine Weile nicht sehen. Doch einmal stand ich an unserem Gartenzaun, und zwei Jungen aus der Nachbarschaft begannen mich zu hänseln: „Weißt du, wer dein Vater ist? Er ist ein Bolschewik!“
Ich war erschüttert, denn aus Kinderzeitschriften, die unter den Nazis publiziert wurden, wusste ich, dass die Bolschewiken die Bösen sind. Nach und nach erklärte mir meine Mutter die Situation, blieb aber ziemlich vage. Gegen Ende der deutschen Besatzung wusste ich, dass mein Vater in Moskau war, man dies in der Öffentlichkeit jedoch nicht erwähnen durfte.
Die litauischen Kommunisten, die vor der Wehrmacht geflohen waren, hatten in Moskau eine rudimentäre Exilregierung gebildet – ohne jede Autorität und vollständig von Stalin abhängig. Sie organisierte mit der Zeit Partisaneneinheiten in Litauen, vornehmlich mit Soldaten, die von der sowjetischen Geheimpolizei ausgebildet worden waren und mit Fallschirmen in den litauischen Wäldern abgesetzt wurden. Diese Einheiten waren nicht sonderlich erfolgreich. Außerdem wurde die 16. Litauische Division der Sowjetarmee gebildet, aus Männern, die Litauen zu Beginn des Krieges verlassen hatten (darunter viele Juden), und Litauern, die bereits in der UdSSR lebten.
Unter den Kommandeuren waren mehrere Offiziere, die früher in der Armee des unabhängigen Litauen gedient hatten. Ein Großteil des litauischen Offizierskorps war kurz vor der deutschen Invasion deportiert worden, einige jedoch kamen als Lehrer an die Moskauer Militärakademie. Dies wäre wahrscheinlich nur das Vorspiel zu ihrer Verhaftung und Hinrichtung gewesen, wenn sich durch die deutsche Invasion der UdSSR nicht alles geändert hätte. Stalin beschloss, auf ihre Erfahrung zurückzugreifen. Die 16. Division verlor gleich in den ersten Kampfhandlungen die Hälfte ihrer Männer, konnte sich aber dank dieser Offiziere regenerieren, kämpfte relativ erfolgreich und rückte 1944 nach Litauen ein (sie nahm übrigens auch an der Rückeroberung von Klaipeda teil). Mein Vater blieb noch eine Zeit lang nominell Bildungsminister. Allerdings unterstand ihm nur noch eine einzige Schule mit vorwiegend jüdischen Kindern aus Litauen, die zu Beginn des Krieges evakuiert worden waren. Eines dieser Kinder war Benjamin Harshav, ein späterer Kollege von mir in Yale, der mir einmal erzählte, dass mein Vater für die Schüler Decken besorgt und ihnen im russischen Winter 1941 damit wahrscheinlich das Leben gerettet hat. (Die Kinder, die die Juni-Deportationen überlebt hatten, besuchten russische Schulen in Sibirien und fielen nicht mehr in seinen Zuständigkeitsbereich.) Später trat Vater zurück und berichtete als Kriegskorrespondent von den Kämpfen und dem Alltag der 16. Litauischen Division. Außerdem verfasste er wehmütige Gedichte, die er manchmal seiner Frau und seinem Sohn widmete – er ging davon aus, dass wir umgekommen waren. Unsere Familie hatte kein Radio, aber eine Nachbarin in Freda hörte heimlich Moskauer Sender. Immer wenn sie sich trafen, schilderte sie meiner Mutter die Gedichte.

Hinsey: Und das Leben unter den Nazis?

Venclova: Es war erträglich. Mein Großvater hatte als Einziger eine Arbeit: Er unterrichtete Latein an einer Oberschule, wir lebten, wenn auch bescheiden, von seinem Gehalt. Der Garten versorgte uns mit Äpfeln, Johannisbeeren und Stachelbeeren, wir hielten Hühner und hatten Gemüse, und von der Familie eines Musikers erhielten wir kostenlos Milch. Wir Kinder machten die üblichen Kinderkrankheiten durch, die medizinische Versorgung war mangelhaft. Andrius wäre beinahe an Diphtherie gestorben, wie so viele Kinder seines Alters. 1944, vielleicht auch schon 1943, begannen die russischen Luftangriffe. Wir suchten zusammen mit anderen Bewohnern von Freda Zuflucht an einem recht seltsamen Ort: Unweit unseres Hauses befand sich unter der Straße ein steinerner Tunnel mit hölzernen Sitzbänken, durch den ein kleines Rinnsal floss. Großmutter ist bei Luftangriffen nie mit uns dorthin gegangen. Sie war eine Fatalistin und fürchtete, das leere Haus böte eine hervorragende Gelegenheit für Diebe. Ihr Gefühl hat sie nicht getäuscht: Die russischen Flugzeuge fügten der Stadt und ihrer Umgebung keinen Schaden zu. In Freda fiel keine einzige Bombe, im Zentrum von Kaunas fielen zwei oder drei, aber auf freier Fläche – ich habe einen der eindrucksvollen Krater gesehen. Die umliegenden Häuser waren unberührt geblieben.
Meine Mutter hat getan, was sie konnte, um uns zu beschützen. Das Einfachste war, sich aufs Land zurückzuziehen – in den litauischen Dörfern gab es reichlich Lebensmittel, keine Ziele für Bomben und angeblich auch weniger ansteckende Krankheiten. Auch die Tatsache, dass es außerhalb der Städte weniger Spitzel gab, hat eine Rolle gespielt. Wir verbrachten ein oder zwei Monate in Südlitauen, im Haus meiner Großmutter väterlicherseits und in den Häusern der Geschwister meines Vaters, darunter bei seinem Bruder Juozas (es war eine große Familie, die verstreut in der Suvalkija lebte, einer hügeligen, seenreichen Region nahe der polnischen Grenze). Ein paar Mal waren wir bei Verwandten von Petras Cvirka untergebracht, in einem Dorf namens Klangiai, das näher an Kaunas lag, am Ufer über der Memel. Cvirka machte es zum Schauplatz von Erzählungen, die in Litauen heute noch beliebt sind. Seine Familie war ärmer als die Verwandten meines Vaters und weniger diszipliniert, dafür aber fröhlicher, besonders Petras’ Mutter. Sie war genauso lebenslustig wie ihr Sohn. Ich habe mich auf dem Land nicht sehr wohlgefühlt: Im Vergleich zu unserem zivilisierten Leben in Freda war die Bauernkate, in der wir wohnten, ziemlich primitiv – über den Fußboden aus gestampfter Erde hüpften hin und wieder kleine Kröten. Im Sommer 1944 nahm mich ein Verwandter von Petras auf seinem Pferd mit. Wir ritten zu einer Windmühle, die ihm gehörte – für mich der Höhepunkt des Tages. In jenem Sommer kamen die Sowjets zurück.

(…)

Aus Tomas Venclova: Der magnetische Norden – Gespräche mit Ellen Hinsey. Erinnerungen, Suhrkamp Verlag, 2017

 

Fakten und Vermutungen zum Übersetzer + Archiv + Kalliope

 

 

 

Tomas Venclova und sein Nachdichter Durs Grünbein.

 

Zum 70. Geburtstag des Autors:

Cornelius Hell: „Wie eine Verszeile strahlt“
Die Furche, 18.10.2007

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Tomas Venclova liest seine Gedichte zum 75. Geburtstag am 13.9.2012.

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