Ulrich Greiner: Zu Clemens Eichs Gedicht „Als ich dich umbrachte, Indianerbruder“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Clemens Eichs Gedicht „Als ich dich umbrachte, Indianerbruder“ aus Clemens Eich: Aufstehn und gehn. –

 

 

 

 

CLEMENS EICH

Als ich dich umbrachte, Indianerbruder

Wir mit den Fischerstiefeln im Uferwasser,
haben mit uns gebrochen,
bevor es uns gab.
Mit den Brombeersträuchern
schlinge ich mich um dich,
mit dem Würgegriff
meiner Hingabe
halte ich zu dir,
deine Haare sind
naß und schwarz,
das Weiße in deinen
Augen liebt
deinen Bruder,
mich.

 

Abschied von der Kindheit

Indianerspiele, Mannbarkeitsspiele im Ufergebüsch, so sieht es aus. Jugendlich verwegene Raufereien, bei denen Spiel und Ernst, Mordlust und das kurze Aufleuchten einer homo-erotischen Neigung ein und dasselbe sind. Das Weiße im Auge des Feindes erblickt man im Nahkampf. Der Kämpfende umschlingt seinen Gegner mit Brombeerranken und nimmt ihn in den Würgegriff. Das schmeckt nach Blut. Aber die bedrohlichen Bilder enthalten zugleich ihr Gegenteil. Der Würgegriff ist auch eine Umarmung, der Kampf ist auch eine Hingabe, und der Blick ins Weiße des Auges ist zugleich ein Blick der Liebe.
So könnte es sein. Aber wir haben bei dieser Deutung die Überschrift vergessen: „Als ich dich umbrachte, Indianerbruder“. Der Zweikampf nahm offenbar kein friedliches Ende. Starb da einer den Liebestod? Der erste Satz des Gedichts gibt einen Hinweis: Dieses „Wir“ meint nicht nur die zwei Kämpfenden, sondern es spricht von einer allgemeinen Erfahrung. Sie erinnert an den Titel eines Buches von Thomas Brasch: Vor den Vätern sterben die Söhne. Im Gedicht heißt es:

Wir haben mit uns gebrochen, bevor es uns gab.

Ein merkwürdiger Satz. Der Riß geht durch das Wir hindurch. Und er war schon vorher da, vor der Geburt: „Wir mit den Fischerstiefeln“ – das ist das Bild einer Zwischengeneration. Sie hat das feste Land schon verlassen, das freie Meer noch nicht gewonnen. Man gewinnt es nicht in Fischerstiefeln. Entweder schwimmt man hinaus ins Offene, oder man bleibt unter den Brombeersträuchern hocken.
So gesehen können wir eine andere Lesart probieren. Zwar handelt es sich um einen Zweikampf, aber es geht um nur eine Person, um eine gespaltene. Der Kämpfende kämpft mit sich selber. Die Stiefel im Wasser, verstrickt in die Brombeeren, nimmt er Abschied von der Kindheit. Den Indianerbruder bringt er um, den pubertären Teil seines Ich. Ihm blickt er ins Weiße des Auges, zum letzten Mal. Ringend mit sich selber, verläßt er festen Boden und wagt sich ein Stück weit vom Ufer weg ins Ungewisse. Bei Nestroy sagt der Holofernes:

Ich möcht’ mich einmal mit mir selbst zusammenhetzen, nur um zu sehen, wer der Stärkere is, ich oder ich.

Aber Clemens Eich ist nicht komisch. Die Erfahrung, von der er berichtet, ist schmerzlich. Erwachsen zu werden heißt, viele kleine Tode zu überleben. Das Gedicht treibt keinen Aufwand damit. Pathos liegt ihm fern. Eine immer noch jugendliche Leichtfüßigkeit treibt den Rhythmus an, der sich beschleunigt: von der ersten Zeile, die zugleich die längste ist, bis zur letzten und kürzesten Zeile. Es ist der Weg vom Wir zum Ich.
Nahezu alle Gedichte des ersten Buches von Clemens Eich nehmen Abschied: von den Eltern, von der Kindheit und ihren vertrauten, geordneten Bildern. „Leben lernen“ heißt ein Gedicht. Das ist bekanntlich mühsam. Aber Eichs Gedichte erzählen nicht von der Mühe, und sie kultivieren auch nicht den ewigen Zorn der Jungen gegen die Alten. Ihr Ton ist der einer plötzlichen Verwunderung, eines überraschten Gewahrwerdens. Jemandem gehen die Augen auf, und er sieht etwas, was du nicht siehst.
Aufstehn und gehn heißt der Gedichtband. Es ist das Motto einer Generation, die nach den Achtundsechzigern kam und einen anderen Weg als den des Protests ging. Clemens Eich, Jahrgang 1954, ist der Sohn von Ilse Aichinger und Günter Eich. Zwei berühmte Dichter als Eltern zu haben ist ein spezielles Handicap, und mancher Sohn hätte daraus den Schluß gezogen, Lokomotivführer zu werden. Clemens Eich wurde Schauspieler. Er brachte es bis zu jenem Punkt, an dem eine Karriere hätte beginnen können. Die äußeren Bedingungen waren günstig (1976 bis 1979 Engagement am Schauspiel Frankfurt), nicht jedoch die inneren. Clemens Eich brach ab und begann zu schreiben. Ausgerechnet Gedichte. Sie beweisen, daß er nicht nur der Sohn ist, sondern ein Dichter eigener Qualität.

Ulrich Greiner, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Sechzehnter Band, Insel Verlag, 1993

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