Volker Braun: Tumulus

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Volker Braun: Tumulus

Braun-Tumulus

6.5.1996

Ich verschlief den Morgen im Art-Hotel, es regnete
Bindfäden in die Elbe, kein Frühstück
Aber ein hungriger Blick auf die Wände
Penck, Sohn keiner Klasse, malt sich ein Museum
Jagdmotive für Höhlenbewohner WESTKUNST oder
DIE STRICHMÄNNCHEN DER PLANUNG, das Taxi
Steckte im Stau auf der Dimitroff der Augustusbrücke
Nichts ging mehr während meine Mutter starb
Ich ging zufuß umrundend eine Erdramme
Gerät das Antaios ein Bodenspekulant
Aus Libyen mit seinen Leiharbeitern
Die Stadt war aufgerissen wie nach dem Angriff
Barockschutt, man kann in den Fundamenten wandeln
Und den Irrtum suchen, in der Staatskanzlei
Ein stummes Getümmel, statische Künstler
Sie halten sich unter jeder Regierung
Adam Schreier Güttler Hoppe und Braun
GEHE NIE ZU DEINEM FÜRST
WENNDE NICH GERUFEN WIRST
König Kurt der Frühaufsteher
Versammelte die unausgeschlafene Akademie
Zu einem Morgenappell, meine Müdigkeit
Ist verwickelterer Herkunft, ich gähne
Aus mehr Epochen, mein Spott ist Spätlese
Aus der Hanglage meines Bewußtseins
Am Ort meiner fristlosen Entlassung
Wir druckten FRÖSI fröhlichsein und singen
Vier Farben Offset JA WENN DIE KINDER
IMMER KINDER BLIEBEN mein wacher Bruder
Bestätigte meine politische Unreife
Der zweite fuhr schwarz über die Grenze
Einer von fünfen, das verlangte der Realismus
Ich trug der Tochter eines Musikers den Koffer
Sie wollte Musik ohne Politik studieren
Hellwach nach der Liebesnacht zum Bahnhof
Im Land Hanns Eislers vergeblichen Streiters
Gegen die DUMMHEIT IN DER MUSIK
Auf dem Heimweg wurde ich ein Dichter in Deutschland
Zwischen Stoppelfeldern unter dem Sternhimmel
Eine Schlammspur unter den Füßen, jedenfalls Sand
Auf den Korridoren der Macht, meine Sanftmut ist hart
Erarbeitet in der Zementfabrik SOZIALISMUS die Frage
Die keine Antwort zuließ bzw. die Antwort
Die keine Fragen zuließ, in Moskau ist jetzt die Synode
Zusammengetreten und diskutiert die Frage:
KANN DIE APOKALYPSE IN EINEM LAND STATTFINDEN?
Der Witz ist auch dünne geworden, wie plattgemacht
Goldmann, mir schlafen die Füße ein
Auf dem Parkett, wir waren zu lange wach
Überwach vom Warten auf den Morgen
Bis uns dämmerte daß er vergangen war
Ich trank Sekt in der Sächsischen Akademie
Während meine Mutter starb, ich sah sie gestern
Leben in dem ausgemergelten Körper, der Schmerz
Krümmte sie in ihre letzte Gestalt, sie hatte
Einen Moment den Mut verloren und war müde geworden
Gelegenheit, sie RUHIGZUSTELLEN, sie lag
Den Kopf zurückgebogen und hob verwundert /
Empört den Arm, in dem die Kanüle steckte
Und griff sich ins Gesicht an die Sauerstoffsonde
Ohne uns wahrzunehmen / handeln zu können, heute
Finden wir sie abgestellt im Keller, gleich an
Der Tür, eine Binde um das Kinn, der Kopf
Mumienhaft klein, ein Fetzen Mull auf dem Auge
Ist liegengeblieben, die Wangen kalt
Ich habe noch dreißig Jahre zu leben
Ich sitze an einem Tisch mit meinem toten Vater
Es gibt Gräupchen, der Landser löffelt
Das Gewehr geschultert, sie schmecken salzig
Von den Tränen die heimlich über dem Herd
Hineingemischt werden, oder zwanzig
Wenn ich nicht müde werde künstlich ernährt
Von meinem Zeitalter OSTEN WESTEN
EINE VERMISCHUNG sagt Penck UNTEN OBEN
Die Schnellgeburten aus schwarzem und rotem Acryl
Nein eine Trennung DRIN UND DRAUSSEN
LEBEN UND TOD, wann wird der Dichter
Geboren, NACH JAHREN DER NIEDERLAGE
UND GROSSEM UNGLÜCK WENN DIE KNECHTE AUFATMEN
UND DIE BILDER ERWACHEN VOR DEM UNGEHEUREN ANBLICK.

 

 

 

Auch in seinen neuesten,

zwischen 1995 und 1997 entstandenen Gedichte, fragt Volker Braun dem Zustand unserer Welt nach, an dessen Unabänderlichkeit er sich keineswegs gewöhnen mag. Den Glauben an solchen Stillstand hält Braun nämlich ebenso für eine trügerische Illusion wie die Hoffnung auf einfache Lösungen. Der poetische Versuch, Irrtümer und Versteinerungen abzutragen, schreibt den Texten eine ungeheure Spannung ein.

Suhrkamp Verlag, Klappentext, 1999

 

Mitten der Katastrophe

– Volker Braun als Chronist der Niederlagen. –

Vergiß nicht, dies sind die Jahre
Wo es nicht gilt zu siegen, sondern
Die Niederlage zu erfechten.

Dieses Motto aus der Feder Brechts präludiert nicht nur den Text „Der Stoff zum Leben 4: Tumulus“, sondern wohl den neuen Gedichtband Volker Brauns insgesamt. Er enthält Texte, die innerhalb eines knappen Jahrzehnts zwischen 1988 und 1997 geschrieben wurden, und ist in drei Teile gegliedert: Je ein großer Text, „Traumtext“ und „Lagerfeld“, bilden den Beginn bzw. den Schluß; der umfangreichere Mittelteil enthält den Text, der auch dem Band den Namen gab.
Tumulus bezeichnet einen Kriegsschauplatz, der sich mit dem Namen Cäsars und dessen BELLUM GALUCUM verbindet, aber sogleich auch durch das Neuwort „Küstenkino“ an heutige mediale Kriegspräsentationen erinnert. Ohne den zugehörigen Artikel gelesen, bedeutet das Substantiv in deutscher Übersetzung „Totenhügel“. Nur ist dieser Ort heute nicht mehr in der Bretagne (Tumulus de Tumiac, am Golf von Morbihan) zu finden, sondern überall dort, wo Öl fließt und Krieg um seinen Besitz geführt wird.
Wie bei Brecht und bei Heiner Müller wird das geschichtliche Material zum Gleichnis überhöht, dessen Zeigekraft bis in die Gegenwart herüberreichen soll:

So entstehen Weltreiche
Ich sah sie fallen
Auf seinen Knochen stehnd dem Führerbunker
Grotewohlstraße im anderen Deutschland
Der überraschende Landwind in den Korridoren
Ein Lidschlag der Geschichte gegen die Verblendung
Taumelzaudernd DER TANZ AUF DER MAUER
Die Mauerspechte mit den kleinen Hämmern
Die Volksarmee sah zu das Heer der Arbeitslosen
Eine Minute in Meiner Zeit

Die in diesen und auch in den meisten anderen Texten anzutreffenden Zitate, offenkundige, die im Druckbild kenntlich gemacht und im Anhang nachgewiesen werden, und solche, die der Leser selbst erkennen soll – die Mehrschichtigkeit also des Textes und die sprunghaften Übergänge aus einer Zeit in eine andere sind schon seit langem charakteristisch für die Arbeitsweise dieses Dichters. Dabei ist Braun als Chronist und Zeitzeuge zugleich in seine Texte auch als Person verstrickt, wobei er sich selbst beim Wort nimmt und mit in den kritischen Diskurs über unser Leben einbezieht.
Dafür stehen diesmal drei Gedichte, die im engeren Sinne autobiographisch geprägt sind und um den Tod kreisen: „Das Nachleben“ fixiert den Augenblick, in dem die eigene Totenmaske von Jo Jastram 1988 modelliert wurde, „Abschied von Kochberg“ einen Augenblick der Todesandrohung im Jahr 1990 und „6.5.1996“ den Todestag der eigenen Mutter in Dresden. Hinzu treten andere Texte, die vom Tod und den Niederlagen derer berichten, die angetreten waren, eine bessere Welt zu schaffen.
In „Nach dem Massaker der Illusionen“ wird an Guevara erinnert („unter der Rollbahn mit abgehackten / Händen, ,der wühlt nicht weiter‘ wie / Wenn die Ideen begraben sind / Kommen die Knochen heraus“) und Waleri Chodemtschuks gedacht („Im Sarkophag des Reaktors“).
In „Material XVI: Strafkolonie“ verbindet sich im Schicksal von Eduard Goldstücker die Geschichte des Kafka-Forschers gleichnishaft mit der des gescheiterten „Prager Frühlings“. Vom nicht nur als Provokation gemeinten „Tod der Literatur“, wie er in den Hochzeiten der intellektuellen Revolte in der BRD verkündet wurde, berichtet „Material XV: Schreiben im Schredder“, wo von „Pfarrer Weskotts Aufgesammelten Werken“ die Rede ist, mithin von der Abwicklung einer ganzen Literatur.

… ich schäme mich
Mit Schweinen gekämpft zu haben
Die ich für meine Gegner hielt, meine Genossen
Gegen die ich antrat ein treuer Verräter
In der schimmernden Rüstung der Worte
KEINE MACHT FÜR NIEMAND WIR SIND GLEICH
Getäuscht von ihrem heldenhaften Wühlen
In der Scheiße, die die Geschichte war

Braun schreibt in Schmerz und Zorn auch über den Verrat, womit nicht nur das Verhalten einzelner Personen gemeint ist, sondern im weiteren Sinne dem Jahrhundert auf den Grund geschaut wird. Und er spricht wohl auch danach noch pro domo, wenn er den Katastrophenchronisten Plinius fragen läßt:

Warum blieb ich mitten in der Katastrophe
Meines Jahrhunderts
Die verratene Revolution
Mit allen Verrätern, die es wissen wollten
Die Sache schien es mir wert usw. …
Ich kannte die wahre Natur der Erhebung
Bepflanzt mit roten Fahnen bis zum Gipfel, die Arbeiter-
Und Bauern schrappen im Schlamm der Verheißungen…

Immer wieder brandet in diesen Texten der Zorn der Unerbittlichkeit gegen die eigene Person und die Welt auf, der diesen Lyriker nicht zur Ruhe und zum Gleichmaß wohlgesetzter Worte kommen läßt. Das Wort kaskadiert im Zorn und wird gebrochen und ausgestrichen in der Verzweiflung über neues Untertanen- und Herrschaftsgebaren, wofür sich sowohl in „Abschied von Kochberg“ als auch in „6.5.1996“ Beispiele finden, deren Stimmungsquell als „Spätlese / Aus der Hanglage meines Bewußtseins“ doppeldeutig genug beschrieben wird.
Noch im Traum („Traumtext“) ist diese Bewußtseinslage, diesmal ins Zwielicht zwischen Nacht und Tag getaucht, gegenwärtig:

Da vorn ist die Geschichte zuende, und hier in der siebzehnten Reihe gebe ich irgendetwas von mir. Das Gefühl, daß sich das Leben in Pornografie verwandelt, oder was ist das, wenn keine Kämpfe mehr stattfinden.

Daß das Leben gegen Ende dieses Jahrhunderts sich als eine Katastrophe erweisen könnte, formuliert Braun in seinem letzten Text. Der Kampfplatz „Tumulus“ hat sich in ein allzeitliches Rom verwandelt, dessen Triumphator nicht mehr Cäsar, sondern Lagerfeld heißt, wobei der Name in seiner Doppeldeutigkeit zu verstehen ist:

Rom: offene Stadt Ein Feldlager
Auf dem Laufsteg defiliert die Mode
der Jahrtausendwende Panzerhemden
Für den Beischlaf Zwei Gladiatoren
Kämpfen um den Arbeitsplatz mit Würgegriffen
Eine alte Übung, die Beifall findet
Dafür haben sie die Schule besucht ER ODER ICH
Der Gestank der Angst In seinem Imperium
Erfüllt sich Lagerfeld einen Traum
EIN RUDEL FRAUEN AUSGESUCHTE SCHÖNHEITEN
Die Winterkollektion für die Daker-Kriege
Hat ihn reich gemacht…

 

 

Im Gedicht „Das Nachleben“ hat der Dichter sich zumindest einmal erlaubt, in die Zukunft zu schauen:

Ich fühlte jetzt die Nachwelt auf mich starren
Und lächelte gelassen VOLLER HOFFNUNG
Ins Finstre, ein Verrückter
Aus der Vorzeit, die die Hoffnung kannte

Klaus Schuhmann, neue deutsche literatur, Heft 526, Juli/August 1999
auch in: Berliner LeseZeichen, Ausgabe 5, 1999

Volker Braun: Tumulus

1999 erschien zu seinem 60. Geburtstag Volker Brauns neuester Gedichtband Tumulus. Das lateinische Wort „Tumulus“ bedeutet „Hügelgrab“. Ein Gedicht im Band heißt auch „Der Totenhügel“ und setzt den Ton. Es geht auf den ersten Blick um die verhunzte Utopie. Wer sich jedoch in dieses sperrige, anspruchsvolle Werk einliest, wird bald merken, daß „Massaker der Illusionen“ nicht unbedingt Verlust bedeuten muß. Auch hier scheint durch, was Braun 1997 in seiner zweiten Revision der „Unvollendeten Geschichte“ gesagt hat:

Die utopischsten Züge des frühen verfehlten Sozialismus wirken als Herausforderung fort. Darum liegt das Gewesene nicht hinter uns in wesenlosem Schein. Darum bleibt es die unvollendete Geschichte.

Doch die Tumulus-Gedichtsammlung ist vom Ton tiefster Selbstironie getragen. Die Aufmachung des Werkes weist bereits darauf hin. Der Band ist schlank, als gäbe es im Moment nicht allzuviel zu sagen. Der Hintergrund des Umschlags ist schwarz mit einer Abbildung, die einen blutroten Ball über einem gefalteten gelbgrünen Streifen zeigt. Auf der Rückseite des Einbandes befindet sich ein ergänzendes Gegenstück: Der blutrote Ball ist unter der Faltung angebracht. Ästhetisches Spiel oder symbolträchtiger Verweis? Wohl beides. Die utopischen Horizonte sind in weiteste Fernen gerückt, begraben unter der Realität eines barbarisch schönen Kapitalismus, dessen schaler Luxus auch faszinieren kann. Im Gedicht „Lagerfeld“, das den Band abschließt, heißt es in einer ironischen Überschneidung der Stimmen des Ich Sprechers und seiner lyrischen Figur, des Modeschöpfers Karl Lagerfeld:

Lagerfeld oder Die Gelassenheit
(…)
Ich genieße den Luxus, ausgestoßen zu sein
Ein Idiot im 3. Jahrtausend Ein Bürger der Welt
(…)
Salute, Barbaren

Brauns Tumulus-Band enthält nur zwölf Gedichte, von denen fünf bereits in früheren Veröffentlichungen gedruckt waren. Auffällig an diesem Bändchen ist die ungewöhnliche Struktur einer Dreiteilung. Zwei Einzelgedichte – genannt „Traumtext“ und „Lagerfeld“ – umrahmen einen Mittelteil, der den Titel „Der Stoff zum Leben 4“ trägt. Bei näherem Hinsehen erweist sich die Dreiteilung einer so geringen Zahl von Gedichten jedoch als äußerst geschickter Kunstgriff. Evoziert wird damit der Gedanke an ein Triptychon, einen Flügelaltar. Die Dreiteilung, die der Dialektiker Braun vornimmt, ist auch im Kontext seines Gesamtwerkes von Interesse, versucht sie doch im zweiten Teil, dem Hauptteil, genannt „Der Stoff zum Leben 4: Tumulus“, an die Tradition der Zyklen „Der Stoff zum Leben“ und die darin enthaltenen Materialgedichte anzuknüpfen. Im Experimentieren mit Sprache, Zitatmontagen und Zitatfragmentierungen, Kontrafakturen und Sinnumdeutungen gestaltet sich das lyrische Ich in mannigfachen Variationen mit Bildmaterial der Fremdheit: als einen „Nomaden im 4-Sterne Hotel“, „einen Verrückten / Aus der Vorzeit, die die Hoffnung kannte“, „einen Wegwerfmenschen“, einen „Gast“, entlassen aus dem „Zimmer der Utopien“. Beharrlich und provozierend setzt Braun seine Kapitalismuskritik fort, ohne ihr jedoch, nachdem die kommunistischen Ideen gescheitert sind, eine gewichtige Alternative entgegenhalten zu können. So bleibt es bei der Provokation, beim Ort der Poesie, dem Niemandsland geschichtlicher Dialektik. War ihm der reale Sozialismus in der DDR im Laufe der Jahre zum Witz geworden, so ist ihm der Kapitalismus der Aberwitz. Entsprechend dominieren Stimmlagen der Skepsis, auch Verzweiflung, primär jedoch sarkastische Provokation. In Tumulus hinterfragt ein scharfer Denker den Zustand einer ihm fremden Wirklichkeit, an deren Unabänderlichkeit er sich nicht gewöhnen will.
Der in beiden deutschen Staaten unangepaßte, „unpopuläre“ Dichter Braun, der sich im Gedicht „6.5.1996“ die Frage stellte, „wann… der Dichter geboren [wird]“, beläßt es in diesem schmalen Werk für sich selbst bei einer ironisch gebrochenen Außenseiterposition in der „Ortlosigkeit“. Auf dem Hintergrund der Alternativlosigkeit eines „barbarisch schönen“ Kapitalismus, der als historischer Stillstand empfunden wird, wirkt das Lyrikbändchen – seine Aufmachung, sein Design – exquisit, ein kostbarer, auch teurer Luxusgegenstand in der breiten Angebotspalette des literarischen Modemarktes. Wer wird diesen Band kaufen? Wer versteht diesen Dichter überhaupt im Westen, wer noch im Osten? Braun schreibt trotzdem weiter. Der sachlichen Feststellung, „statische Künstler / Sie halten sich unter jeder Regierung“, setzt er – beharrend, trotzig, fast anachronistisch wirkend – sein eigenes philosophisches Credo entgegen:

Warum soll ich Mode werden
In der Wegwerfgesellschaft

Christine Cosentino, glossen, Heft 9, 2000

Verhänge die Fenster. Salute, Barbaren!

– Private Düsternis und Düstere Furcht vor dem Privaten in den neuen Gedichten von Volker Braun und Günter Kunert. –

Zweimal geht es um Niederlagen, aber dennoch paßt das nicht zusammen. Auch ein Leser mit läßlicher Systematisierungswut würde diese beiden Bücher kaum nebeneinander stellen: Gegensätzlicher können Gedichtbände kaum gedacht werden als Nachtvorstellung von Günter Kunert und Tumulus von Volker Braun. Ob man die Türen und Fenster verschließt, um alle Beschränkungen hinter sich zu lassen, oder ob man sich noch in weiter Landschaft mit Panoramablick beengt fühlt das ist mehr als ein kleiner Unterschied. Wie vor vierzig Jahren Brecht und Benn, stehen heute Kunert, der vor kurzem siebzig wurde, und Braun, der in wenigen Wochen sechzig werden wird, für unterschiedliche Möglichkeiten der Lyrik. Nur das Thema scheint sie zu verbinden. „Vergeblichkeit“ heißt das abschließende Gedicht Kunerts:

Komm, wir spinnen uns ein.
Wir kappen die Drähte. Die Welt
ist ein Fall für Psychiater
Komm wir wollen so tun als ob
Als sei uns Freiheit beschieden.
Verhänge die Fenster. Vernagle die Tür.
Warte nur balde dringet
durch Ritzen und Spalten
die Terra cognita mächtig ins Haus.

Die Situation ist so vertraut wie die Pointe. Aber Kunert hat beidem die Schwere genommen. Das Pathos hat sich in knappe, spruchartige Zeilen verflüchtigt. Der Wahnsinn draußen, Alter und Sterblichkeit, die Kürze freier Momente beim Lieben oder Dichten, sie werden in friedvoller Verachtung beschrieben:

Morgen sind wir bloß noch Knochen,
darum rasch ins Bett gekrochen.

Mißtrauen gegen das Aufgeregte, Laute, Routinierte bestimmt den Ton. Die Pointen seiner Gedichte gewinnt Kunert auf doppelte Weise. Den Versprechungen der Zivilisation hält er ihre Vergänglichkeit vor, den vielfach verheißenen Auswegen ihre Nichtigkeit. In „Hymnen an die Nacht“ beschwört er nächtliche Städte, in „Ländlichen Elegien“ dörfliche Landschaft, aber die beiden klassischen Fluchtorte wirken verkommen wie ein „Stiller Sumpf trüber Tage“. Das ist ein sehr privater, schwarz getönter Blick, aufmerksam vor allem auf die Leere der Gesten, auch der eigenen. Was Tand ist, nennt Kunert Tand. Ganz anders Volker Braun, der den blendenden Schein und den Glasperlenglanz ernst nimmt, die hohlen Worte wiederholt, durchbricht und erst in der Überblendung von Stimmen der Gegenwart den Prozeß macht. Bescheiden ist das nicht. „Lagerfeld“ heißt das letzte der Gedichte des neuen Bandes und Lager wie auch der Modeschöpfer sind damit gemeint. Er wird für Braun zur Signatur einer Zeit, die ihm, auch das klingt vertraut, als eine Art Spätantike erscheint.

Warum soll ich Mode werden
In der Wegwerfgesellschaft
Das Stadion voll letzter Schreie Ideen
Roms letzte Epoche des Unernsts
Sehn Sie nun das Finale ICH ODER ICH
Salute, Barbaren

Die Furcht, ausschließlich Privatmann zu sein, nur noch „Ich“, liefert die Energie zum Schreiben, bestimmt die Form der Gedichte und die Komposition des Bandes. Wenn Braun so häufig zitiert, sich auf Brecht und Büchner, Plinius, Kafka und Rimbaud beruft, wenn er Losungen, fremde Verse, verbreitete Bilder fast pur benutzt, dann hängt dies mit der Absicht zusammen, schreibend die Begrenzung aufs Private zu überwinden. Am besten gelingt dies, wo die Furcht vor der Begrenzung, die Angst vor dem Vorbei und Vorüber dominieren. Im großartigen „Nachleben“ erzählt Braun, wie ihm eine Totenmaske abgenommen wurde, wie sein Gesicht unter Gips verschwand, wie er träumend „die lange Zeit nach mir“ erlebte, bis er die starre Maske in der Hand hielt. Tumulus und Nachtvorstellung sind zwei noch in ihren Schwächen vollendete Bände, noch an den Stellen, wo man merkt, daß sie zu leicht fielen: streng komponiert, überlegen formuliert, ohne Ressentiment und Sentimentalität. Zwei kulturkritische Diagnosen stehen einander unvereinbar gegenüber. Kunert setzt seine Gleichnisse gegen die Enteignung des Ich, das in der bekannten, vermessenen Welt verloren zu gehen scheint. Braun schreibt gegen ein Ich, das ihm ohne Hoffnung auf Veränderung beschränkt und barbarisch erscheint. Unter den gelassenen, skeptischen, oft parodistischen Gedichten Kunerts findet sich auch ein heftiges „An einen ostalgischen Dichter“, an einen „Expropriateur großer Gesten“, der eine „längst verrottete Sprache“ spricht. Braun entspricht dem bösen Bild an keiner Stelle. Gewiß, sein geschichtsphilosophischer Trotz wirkt wenig entspannt, selten heiter. Aber aus der Spannung entsteht eine Sprache, in der er vom Abstrakten der Märkte und Kriege zur individuellen Biographie wechseln und so Brüche beschreiben kann wie zur Zeit kein zweiter. Man wundert sich, wie gern man Braun und Kunert akzeptiert, plausibel findet und mit einer Freude liest, die sich immer dann einstellt, wenn statt der schnellen Sprache eine kurze, treffende gesprochen wird. Kein Leser muß die Geschichtsphilosophie der Autoren teilen. Aber gerade dann, wenn er heftig widersprechen will, wenn ihm der Rückzug auf den Augenblick und das widerkehrend Menschliche oder die angestrengte Beschwörung des Veränderungswillens unangemessen scheinen, wird er die Gedichte in sich stimmig und überzeugend finden. Obwohl die sehr private Nachtvorstellung und Brauns heroischer Blick vom Totenhügel nicht in Deckung zu bringen sind, sollte man sie doch nebeneinanderstellen. Vielleicht entgeht man so dem von Volker Braun beschriebenen Gefühl, „daß sich das Leben in Pornografie verwandelt, oder was ist das, wenn keine Kämpfe mehr stattfinden“.

Jens Bisky, Berliner Zeitung, 3.4.1999

Der Büchnerpreis-Träger von 1999,

geboren 1939, hat in diesem kleinen Band in Lyrik und Prosa seine Erfahrungen mit der niedergegangenen DDR, mit dem idealen und dem realen Sozialismus  sowie mit den Ereignissen nach 1989 aufgearbeitet.
Seine Gedichte zeigen ein waches Bewusstsein, das sowohl der eigenen Vergangenheit und der seiner ehemaligen Heimat als auch den neuen Verhältnissen kritisch gegenübersteht. Bis 1989 hat Volker Braun eine Heimat besessen, die ihn nicht geliebt hat, nach deren Verlust jedoch keine neue gefunden. Als überzeugter aber von der Realität enttäuschter Sozialist kann er dem neu erblühten Kapitalismus keine Heimatgefühle entgegenbringen.
Doch die Texte sind keine vordergründigen Abrechnungen mit Vergangenheit und Gegenwart. Dazu taugt auch die Lyrik nicht. Seine Texte schauen durch die Lücken des verschleiernden Bauzauns auf die hässliche Realität und entlarven den falschen Schein eines scheinbar frohen Aufbruchs nach einer langen Leidenszeit. Das sensible Individuum hat in diesen Zeiten tatsächlich gelitten, aber ist jetzt durchaus nicht versöhnt. Da trifft das  Sprichwort vom „Regen und der Traufe“ ins Schwarze.
In „Nachleben“ erlebt er bei der Abnahme einer Maske schemenhaft seinen Tod vorweg und schaut bereits aus der Ferne auf die Welt der Lebenden. „Tumulus“ und „Plinius grüßt Tacitus“ verbinden geschickt römische Größen und Ereignisse mit den aktuellen politischen Ereignisse. Zitate: „So entstehen Weltreiche / Ich sah sie fallen…“ – „Warum fuhr Plinius mitten in die Katastrophe (Anm. d. Red.: Vesuv-Ausbruch). …warum blieb ich (der Autor) mitten in der Katastrophe…?“.
Immer wieder setzt Braun nicht nur die aktuellen politischen Strukturen der letzten 30 Jahre mit historischen Situationen in Verbindung, sondern betrachtet auch seine eigene – mal kritische, mal halbherzige – Rolle in diesem garstigen Spiel.
Andere Texte beleuchten kritisch bestimmte gesellschaftlichen Erscheinungen, so den Vier-Sterne-Tourismus in arme Entwicklungsländer oder die dekadente Arroganz der Modeschöpfer („Lagerfeld“). Volker Brauns Auge entgeht nichts.
Nach dem traumatischen Erlebnis eines fehl eingeschätzten Sozialismus („Die Bauern tanzen um den Galgen an dem die Partei hängt…“) versucht er alles vorurteils- und illusionslos zu sehen. Dies führt letztlich zur weitgehenden Isolation mit resignativen Zügen, denn wer an nichts mehr glauben kann, der findet auch keine Heimat mehr.
Man muss Brauns Texte allein schon wegen der syntaktischen und semantischen Probleme mehrfach lesen, bevor sie sich aufschließen. Aber das hat er wohl auch beabsichtigt. Diese Lektüre ist nicht „en passant“ mitzunehmen und lässt sich nicht als „Small-Talk“-Futter für die nächste Stehparty verwerten. Es werden immer kryptische Elemente bleiben, die sich dem Leser nicht oder nur schwer erschließen. Diese Stellen hängen dann am längsten im Kopf und arbeiten dort.

Frank Raudszus, carpe librum

Volker Brauns Lyrikband Tumulus

im Umfeld seiner Werke um die Jahrtausendwende

1999 erschien Volker Brauns Lyrikband Tumulus,1 der die Weichen für neue Themen in den dann folgenden Werken nach der Jahrtausendwende stellte. Das lateinische Wort ,Tumulus‘ bedeutet ,Hügelgrab‘ oder ,Totenhügel‘ und setzt den Ton: Es geht um den Tod oder das Ende von Ideen, Weltreichen, Staaten, Lebensphasen, den Tod der Mutter. Tumulus, der Totenhügel, ist der Standort Caesars, der das Entstehen des römischen Imperiums beobachtet; ein geschichtlicher Tumulus ist aber auch die Ruine des Führerbunkers, auf dem das lyrische Ich retrospektiv das Ende des Tausendjährigen Reiches erlebt. „Der Stoff“ – so Braun 1999 in einem Gespräch mit Silvia and Dieter Schlenstedt – „wird aus den Gräbern geholt […]. Damit etwas kommt, muß etwas gehn, aber damit etwas kommt, muß etwas dagewesen sein.“2 Unter diesem Blickwinkel schlägt Braun eine Brücke zu späteren Werken. Er lässt den Totenhügel überall dort sein, „wo“ – so Klaus Schuhmann – „auch Öl fließt und Krieg um seinen Besitz geführt werden kann.“3
Das schlanke Bändchen enthält zwölf Gedichte und Texte, neue und alte, aus den Jahren 1988–1997. Das auffälligste Strukturmerkmal in diesem Werk ist eine an ein Triptychon erinnernde Dreiteilung. Erkennbar sind ebenfalls drei dominierende, miteinander in Beziehung stehende Themen- und Motivkomplexe: grübelndes Nachdenken des Autors über sein dichterisches Selbstverständnis an der Jahrtausendwende, dann die Beschäftigung mit dem historischen Stoff des römischen Imperiums und letztlich, damit verzahnt, das Thema der einfallenden Barbaren bzw. Hungernden Fremden und Asylanten – all das auf historischer und gegenwärtig globaler Ebene. Nur andeutungsweise sei darauf hingewiesen, dass Braun diese Dreiteilung auch in den mit Tumulus thematisch verklammerten späteren Werken Das Wirklichgewollte (2000) und Limes. Mark Aurel (2002) anwendet.4 Die Verknüpfung von Gegensätzen zu einem herausblickenden, lösenden Dritten fehlt jedoch in diesen Werken, und es ist dem Leser überlassen, in einem weiten Spektrum von Polyvalenzen Spannungen im Text selbst aufzulösen. Es entsteht ein Raum des völlig Ungeklärten, Unfertigen, Nichtgreifbaren in einer Weltsituation der extremen Gegensätze von „ARM UND REICH“ (Tumulus, S. 40) und neuer ideologischer Feindbilder. Georg Büchner scheint bei dieser Ratlosigkeit Pate gestanden zu haben. Über ihn sagte Braun im Jahre 2000:

Er mußte, er konnte nur die unaushaltbaren Tatsachen zum Sprechen bringen, ungetröstet von einer erhabenen Idee.5

Der unabgeschlossen wirkende Titel von Brauns Rede bei der Verleihung des Büchner-Preises, „Die Verhältnisse zerbrechen“, lässt jedoch ungeklärt, ob es sich hier um eine nüchterne Feststellung oder gar eine Aufforderung an sich selbst handelt.
Die vielen Reflexionen über eine mögliche dichterische Neuortung nach der Wende, einen „Identitätstausch / […] wer bin ich“ (Tumulus, S. 24), lassen verschiedene Stimmungslagen erkennen. Der Band Tumulus fängt sie noch einmal auf, zeigt aber auch, wie sich neue polemische Denkmuster herauszukristallisieren beginnen. Wie definiert sich der ehemals kritische DDR-Provokateur, der fest in seinen damaligen Staat eingebunden war, in den neuen ökonomischen Strukturen der BRD während der neunziger Jahre? Immense Enttäuschung, Bitterkeit, Trotz und Klage über den Verlust einer zwar nie realisierten, aber im Wunschdenken für möglich gehaltenen Lebensform manifestierten sich in dem wohl repräsentativsten Gedicht der Nachwendezeit, „Das Eigentum“ (1990), und in ähnlichen Texten. Dem folgt eine Phase selbstquälerischer Rechenschaftsablegung und – so scheint es – des endgültigen Abschiednehmens von den sozialistischen Illusionen, eingefangen etwa in Gedichten des Bandes Die Zickzackbrücke. Ein Abrißkalender (1992) und Gedichten des Bandes Lustgarten. Preußen (1996). Der folgende Text, „Schreiben im Schredder“, der zuerst im Jahre 1995 in der NDL veröffentlicht wurde, dann in Lustgarten. Preußen und letztlich noch einmal als Gedicht „Material XV“ im Band Tumulus, spricht davon:

[…] ich schäme mich
Mit Schweinen gekämpft zu haben
Die ich für meine Gegner hielt, meine Genossen
Gegen die ich antrat ein treuer Verräter
In der schimmernden Rüstung der Worte
[footnote]Volker Braun, „Schreiben im Schredder“, in: Braun: Lustgarten. Preußen. Ausgewählte Gedichte, Suhrkamp: Frankfurt a.M., 1996, S. 164–166 (hier: S. 165).

Tumulus – so könnte man vorsichtig sagen – wiederholt das Braunsche Gedankengut der neunziger Jahre, spiegelt trotz des düsteren Tons jedoch auch ein intensives Nachdenken über zukünftige Lebens- oder Handlungsmöglichkeiten. Es beginnt eine Zeit bohrenden Fragens und Hinterfragens der politischen, ökonomischen und sozialen Weltsituation. Ein Suchen nach „Zukunftsfähigkeit […] im real existierenden Kapitalismus“6 nennt Rolf Jucker dieses ungeduldige Grübeln. Das geschieht zwar von einer Perspektive utopisch-ideologischer Ortlosigkeit,7 diese ist jedoch nicht völlig bar eines utopischen Stachels, denn trotz seiner „Entlassung“ aus „[dem] liebe[n] Zimmer der Utopien / […] in den Unsinn“ (Tumulus, S. 20) hat sich der Dichter nie völlig von dem Konzept eines humaneren Sozialismus lösen können. Nicht zufällig entdeckt Braun in der Person des römischen Geschichtsschreibers Plinius Affinitäten: „Ein Mann meines Alters mit unersättlicher Neugier“ (Tumulus, S. 18), Neugier – so könnte man auf der Folie des dreiteiligen späteren Textes Das Wirklichgewollte (2000) fortfahren – auf das, „Was kommt?“8
Von Interesse ist die Struktur des Bandes, die einstimmende und provokativ abrundende Funktion der beiden Flügel. Der linke Flügel des literarischen Triptychons trägt den Namen „Traumtext“ (Erstveröffentlichung 1996 in der Zeitschrift Das Argument), der rechte heißt „Lagerfeld“ und schlägt eine Brücke zu späteren Werken. „Traumtext“ durchleuchtet einen um die Gedanken von Ablehnung und Auflehnung kreisenden surrealen Bewusstseinsprozess, der suggeriert, dass ein Abschied von falschen Hoffnungen nicht gleichbedeutend ist mit Anpassung an eine in arm und reich gespaltene Welt. In einer Kinosituation mit gerissenem Film über die Geschichte gescheiterter Kämpfe sinniert ein Träumender über ein mögliches Ende der Handlung, darunter auch über die „ausgefallenste Hoffnung – dass die Geschichte weiterginge“ (Tumulus, S. 8). Unter den angeführten Möglichkeiten glaubt man den Standort des poetischen Sprechers wahrzunehmen:

Vielleicht wird die Geschichte rückwärts laufen. Vielleicht bleibt eine Lücke wie in meinem Bewußtsein. Vielleicht wird der Sand, der jetzt hereinstiebt […], mir die Sicht nehmen und den Mund schließen. Das ändert nichts an der Gier, mit der ich den Fortgang erwarte/fürchte. (Tumulus, S. 9)

Die Spannung zwischen diesen beiden einander entgegenwirkenden, aber auch ineinandergreifenden Kräften von Erwartung und Furcht im poetologischen Selbstverständnis Volker Brauns ist auch dem rechten Flügel des Bandes, dem Gedicht „Lagerfeld“ inne, einem stark mit dem Mittelteil des Bandes verklammerten Text. „Lagerfeld“ spricht den Konflikt der herrschenden Weltsituation von arm und reich an und umreißt die Möglichkeit einer Entscheidung zwischen bequemem Ignorieren bzw. Sich-Ablenken und bewusstem Wahrnehmen. Den Namen Lagerfeld bettet Braun in einen zwischen Gegenwart und Historie schwingenden Assoziationsraum der Mehrdimensionalität, denn eingelagert ist dem Begriff der Gedanke an Feldlager und Kriege, kurz an die Supermächte Rom und USA. Wie dringlich Braun der Gedanke des Wegsehens oder Wahrnehmens der Weltprobleme ist, lässt sich daran ablesen, dass der Text „Lagerfeld“ auch das Stück Limes. Mark Aurel (2002) abschließt, im Essay „Lyotard oder: Die Leute lassen sich alles erzählen“,9 enthalten ist und thematisch in das Prosawerk Das Wirklichgewollte (2000) einblendet. Diese Werke sind von Interesse, denn sie sprechen das im Tumulus in den Seitenflügeln vorgeformte, im Mittelteil weiter ausgeführte Problem des Gleichmuts bzw. des Wegdrückens von Problemen an, das den Dichter quälte.
Wie gestaltet sich nun der zentrale Teil im Band Tumulus, der den bedeutungsbefrachteten, an eine Tradition anbindenden Titel „Der Stoff zum Leben 4“ trägt? Hier handelt es sich um den vierten Zyklus innerhalb einer Reihe von numerierten Zyklen, die Braun unter diesem Titel mit dem Band Training des aufrechten Gangs (1979)10 begann, dann im Band Langsamer, knirschender Morgen (1987) und in dem von Hans Mayer separat herausgebenen Sammelband der Zyklen Der Stoff zum Leben 1–3 (1990)11 fortsetzte. Der Titel Der Stoff zum Leben spielt auf Shakespeares „Romance“ The Tempest an, ein heiteres Verwirrspiel mit einem Ineinander und Auseinander von „stuff“ und „dream“ bzw. Sein und Schein, einer Thematik, die bei Braun kontinuierlich, auch im Tumulus, zu einer auf Substanz geprüften Lebens- und Weltanalyse gewendet wird.12 Gedichte in den Zyklen, auch in diesem vierten, zeichnen sich mehr als andere Gedichte von Braun durch ihren experimentellen, mehrdimensionalen, oft genreübergreifenden Werkstattcharakter aus, durch geschicktes Jonglieren mit kontrastierendem Sprachmaterial – einige Texte heißen „Material-Gedichte“ – durch Zeit- und Zeilensprünge, Zitateinschübe und -fragmentierungen, Kontrafakturen, montageartige Kontrastierungen und Überschichtungen. Traditionsgemäß gibt Braun auch dem vierten Zyklus als Lesehilfe ein vorangestelltes Motto bei, hier ein aufschlussreiches Brecht-Zitat:

Vergiß nicht, dies sind die Jahre
Wo es nicht gilt zu siegen, sondern
Die Niederlagen zu erfechten.
13

Es handelt sich folglich um Streitbarkeit, die nicht mehr im Zeichen weltanschaulicher Stützen steht.
Unter dem alten und doch wieder neuen Titel Der Stoff zum Leben werden nun im Mittelteil die im linken und rechten Flügelteil des Bandes angesprochenen dominanten Themen – die poetische Profilierung bzw. Selbsterforschung innerhalb eines Bewusstseinsraums von Gelassenheit oder Unruhe, die von Supermächten regierte Welt und der Ansturm der Fremden – unter verschiedenen Blickwinkeln kritisch durchleuchtet und zur Diskussion gestellt. Tumulus ist auf den ersten Blick ein Buch der Niederlagen. Die zehn in Beziehung stehenden Texte des Mittelteils umreißen dann auch ein Stimmungsgefüge, das von Pessimismus durchdrungen zu sein scheint, nach mehrmaligem Lesen jedoch einen Gestus unruhiger Wartehaltung erkennbar werden lässt. Eingegangen werden soll zunächst auf das erste Kernthema: den dichterischen Standpunkt. „Lagerfeld oder Die Gelassenheit“ (Tumulus, S. 41) hieß ein rück- und vorverweisendes Versatzstück aus dem Text „Lagerfeld“ des rechten Flügels, das dann später zum Grundtenor des Stückes Limes. Mark Aurel werden sollte. Dieser Juxtaposition ist die Frage eingelagert, wie man in einer von Imperien brutal und gewissenlos regierten, „unaushaltbaren“, kriegerischen, grausamen Welt stoisch oder gelassen agieren könne. Verschiedene Texte des Mittelteils nehmen diese Thematik: auf. Braun äußerte sich auch in Interviews darüber, und seine Statements spiegeln innere Konflikte, Zweifel. Sie verdienen zum Verständnis der Texte in Tumulus Beachtung.
Hatte der Dichter nach Jahren der Bitterkeit in einem 1999 stattfindenden Gespräch mit den Schlenstedts seine Weltsicht einer „Endzeit“ noch als „realistischen Gleichmut“14 bezeichnet, so wendete er diese Haltung kurze Zeit später wieder ins Gegenteil. In einem Gespräch über sein Stück Mark Aurel, „Eine Endzeit grüßt die andere“, mit dem Kritiker Thomas Irmer, der Brauns erregtes Involviertsein mit dem Stoff herausstellte, meinte der Dichter: „Gelassenheit ist nicht mein Naturell, darum mußte mich die Sache [Mark Aurels Scheitern] reizen.“15 Ganz ähnlich äußerte er sich auch Claudia Sandner-von Dehn gegenüber, als er vom „Wissen über unsere Verhältnisse“ sprach:

Was damals [zur Zeit Mark Aurels] wie heute der aufregende Punkt ist, für den ich keine Gelassenheit aufbringe, ist, daß, sobald wir handeln, wir unter diesem Wissen bleiben und so viel vergessen, was längst bewußt war.16

Hinzuzufügen ist in diesem Kontext, dass eine spezifische Form „gelassener“ Wahrnehmung – die künstlerische Methode – für Braun in seinen Zeitanalysen jedoch unabdinglich ist, denn in einem erst kürzlich geführten Interview mit Rolf Jucker erklärte er:

Ich meinte Methode. Zu ihr gehört ja auch eine Unerbittlichkeit, des An-der-Sache-Bleibens, die sich katastrophisch oder glücklich bewegt. Das macht ihre Kraft aus, daß sie durch diese Geduld der Unerbittlichkeit zu etwas kommt: und entdecken läßt. Derart ist ihre Empörung und Freude.17

Brauns später im Stück Mark Aurel sich niederschlagende Faszination mit dem stoischen römischen Kaiser und dessen vergeblichem Versuch, die Härten und Grausamkeiten der Welt mit Vernunft und Gelassenheit zu ertragen – er stellt „sich einem Widerspruch […], der genau der unsrige ist“18 –, spiegelt eigene Konflikte, ein „ICH GEGEN ICH“ (Tumulus, S. 41), eine Haltung, mit der sich, so Klaus Schuhmann, „der Dichter selbst zum Gegenspieler“19 wird. Texte im Mittelteil wie u.a. „Das Nachleben“, „Die Bucht der Hingeschiedenen“ und das Gedicht „6.5.1996“ umkreisen in poetischer Form den Gedanken des „Unter-dem-Wissen-Bleibens“, den Gedanken der Ruhe, Statik, des Gleichmuts oder Aufbegehrens, liefern Denkmuster, die immer wieder neu durchbrochen werden und auf die spätere Figur des Mark Aurel weisen. Wie Mark Aurel stellt sich auch der lyrische Sprecher vom überblickenden Standort eines historischen Tumulus den Widersprüchen der globalisierten Welt, kann sie jedoch „nach dem Massaker der Illusionen“ (Tumulus, S. 28) nur mit differenzierten, provozierenden Zeit- und Existenzanalysen hinterfragen und ablehnen.
Im Gedicht „6.5.1996“, dem wohl persönlichsten Text im Band Tumulus, orientiert sich der Aktions- und Lebenswille des Sohnes an der Empörung der todkranken Mutter, die im Krankenhaus liegt:

[…] sie hatte
Einen Moment den Mut verloren und war müde geworden
Gelegenheit, sie RUHIGZUSTELLEN, sie lag
Den Kopf zurückgebogen und hob verwundert /
Empört den Arm, in dem die Kanüle steckte
Und griff sich ins Gesicht an die Sauerstoffsonde
Ohne uns wahrzunehmen / handeln zu können […]. (Tumulus, S. 27)

Der Sohn, der das Etikett eines „statischen Künstlers“ – „statische Künstler / Sie halten sich unter jeder Regierung“ (Tumulus, S. 25) – kategorisch für sich ablehnt, richtet sich an der Empörung der Mutter auf und fragt sich:

Wenn ich nicht müde werde […]
[…] wann wird der Dichter
Geboren, NACH JAHREN DER NIEDERLAGE
UND GROSSEM UNGLÜCK WENN DIE KNECHTE AUFATMEN
UND DIE BILDER ERWACHEN VOR DEM UNGEHEUREN
ANBLICK
(Tumulus, S. 27).

Auch in dem Text „Die Bucht der Hingeschiedenen“ (Erstveröffentlichung 1998 in der FAZ) gibt der Dichter „zur Kenntnis“, dass es ihn nicht zu den Inseln der Ruhigen, Stillen ziehe:

Was war unser Verbrechen? Daß wir die Welt, die hinweggeschwemmt wurde, verändern wollten (Tumulus, S. 29).

Er lehnt Ruhe – wenn sie Anpassung bedeutet – ab: „Nicht unter dieser Bedingung, nicht um diesen Preis“ (Tumulus, S. 30) und gesellt sich zu den Nichtentmutigten. Auf dem inneren Schlachtfeld einer Auseinandersetzung mit dem „Gegenspieler“ kollidiert „realistischer Gleichmut“ mit Erregbarkeit, ein Konflikt, den der Dichter beim Anfertigen seiner Totenmaske im Atelier des Bildhauers Jastram erlebt und durchleidet:

[…] Ich
Saß ganz stille
[…]
In der Welt, ein Schlucken unterdrückend
[…]
Ich fühlte jetzt die Nachwelt auf mich starren
Und lächelte gelassen VOLLER HOFFNUNG
Ins Finstre, ein Verrückter
Aus der Vorzeit, die die Hoffnung kannte
(Tumulus, S. 13–14).

Es ist diese entschlossene, oft trotzige Streitbarkeit in der Spaßgesellschaft der westlichen Welt, die besticht, dieses – wie Braun es ohne das Gewand der Poesie fasste:

Sich-nicht-Abwenden von dem, was ist. Was anders hat die Literatur zu leisten? Sie soll nur schauen, was wirklich ist, was mit uns los ist. […] Utopisch ist es, wahrzunehmen, was in der eigenen Haut los ist – das ist eine ungeheure Anstrengung.20

Anfechtbar ist daher die Meinung von Kritikern, darunter Ruth J. Owen, die meinen:

The massacre of illusions is also then the massacre of the self; this sense is still predominant ten years after the ,Wende‘.21

Der Dichter, der politisch und poetologisch auf der Strecke geblieben zu sein schien, ist eben auch auf der Strecke, immer noch – oder schon wieder.
Diese Problematik blendet auch in das zweite dominante Thema im Band Tumulus, die römische Antike, denn ausdrücklich wird im Gedicht „Plinius grüßt Tacitus“, „unersättliche Neugier“ und „Interesse“ einer Haltung des Sich-Abwendens aus der „sicheren Entfernung“ gegenübergestellt. Das antike Rom bzw. die Hegemonie der Supermacht USA, die Invasionen, der Einfall der Fremden oder Barbaren, der Hunger in der Welt und weiterhin ein intensives Nachdenken über Möglichkeiten eines zukünftigen Koexistierens mit dem „Barbar[en], [dem] Mann von draußen, [der] denken kann“,22 dominieren Ende der neunziger Jahre im Schaffen Brauns, nicht nur im Tumulus, sondern weitergreifend vor allem im Stück Limes. Mark Aurel und in zahlreichen Interviews. Braun versammelt im Gedichtband drei multidimensionale, von Zeitverschiebungen durchbrochene, vordergründig mit der Weltmacht Rom beschäftigte Texte: „Der Totenhügel“, „Plinius grüßt Tacitus“ und das bereits erwähnte Gedicht des rechten Flügels, „Lagerfeld“, das auch das Stück Limes. Mark Aurel als rechter Flügel, als eine Art Epilog abschließt. Bereits im Jahre 1979 im Band Training des aufrechten Gangs hatte der Dichter mit zwei dialektisch korrespondierenden Texten über das römische Imperium aufgewartet. Handelte es sich im Gedicht „Der Teutoburger Wald“ um eine das römische und das Tausendjährige Reich verqickende Kriegsprojektion – „aus dem Hinterhalt / Geschichte“ (Training des aufrechten Gangs, S. 26) – so gestaltete, diametral dazu, der Text „Neuer Zweck der Armee Hadrians“ eine auf Fakt und Wunschdenken basierende Vision über den gebildeten, kunstsinnigen „Friedenskaiser“ Publius Aelius Hadrianus, der seine Armeen einsetzte „zu einem unüblichen Zweck / Nicht Städte niederzubrennen, sondern Städte zu gründen“ (Training des aufrechten Gangs, S. 30). Der auffallende Trend im dichterischen Schaffen Brauns um das Jahr 2000, eingefangen in den Wieder- oder Neuveröffentlichungen der Texte des Tumulus, ist die aktuelle „Umbesetzung des Personals aus dem Antikensaal in die Industrielandschaft“,23 d.h. – wie er Claudia Sandner-von Dehn gegenüber meinte – „die Verwandtschaft des späten römischen Reichs mit der Gegenwart. […] Es gibt eine anzügliche Verwandtschaft zwischen solch großen Imperien. […] Also pax romana, die Befriedung der Welt, die natürlich Krieg ist.“24

In dem Montagegedicht „Der Totenhügel“ (Tumulus, S. 16; Erstveröffentlichung 1998 in der FAZ) projiziert der Autor „ein[en] Großen der Geschichte macht“, den Eroberer Cäsar, der im kolonisierenden „BELLUM GALLICUM“ einer Seeschlacht zusieht. Die Brücke zur Gegenwart findet der Leser in dem Versatzstück „der gewohnte Golfkrieg“, das im assoziativen Freiraum das antike Rom mit den imperialistisch-ökonomischen Interessen der USA verklammert. Bereits in einem früheren Gedicht, „Wüstensturm“, aus der Zickzackbrücke von 1992 wurde das Thema der Golf-Invasionskriege, hier der Invasion Kuwaits, angesprochen:

Der Schwelbrand der Hemisphären
Entflammt mit billigem Öl
Und Bagdad mein Dresden verlischt
OHNE GEWALT der Hoffnungsschrott des Herbstes
Die toten Soldaten des alten Jahrhunderts
Die Geisterheere im Endkampf des neuen
.25

Die zeitliche Verquickung mit einem anderen Imperium, dem Tausendjährigen Reich und von hier aus mit dem zusammenbrechen eines anderen Staates, der DDR, stellt der Dichter im „Totenhügel“ vom Standort des Führerbunkers als Ich-Sprecher selbst her:

So entstehen Weltreiche
Ich sah sie fallen
Auf seinen Knochen stehnd dem Führerbunker
Grotewohlstraße im anderen Deutschland
Der überraschende Landwind in den Korridoren
Ein Lidschlag der Geschichte gegen die Verblendung
Taumelzaudernd DER TANZ AUF DER MAUER

[…]. (Tumulus, S. 16)

Die von dem Philosophen und Soziologen Jürgen Habermas in einem Gespräch im Jahre 2001 reflektierte Politik von George W. Bush, das „Muster der Pax Americana […] als selbst-zentrierte[r] Kurs einer abgebrühten Supermachtpolitik“,26 heißt bei Braun „Verblendung“, über die er sich in dem bereits erwähnten Gespräch mit Irmer folgendermaßen äußert:

Auch Gedichte sind Bühnen; auf denen sich die Elemente schroffer begegnen. Alles ist gegenwärtig, anzüglich winkend. Eine Endzeit grüßt die andere mit obszönen Assoziationen. Die Ordnungsmacht USA steigt in den Panzer Roms nach den Punischen Kriegen. Vielleicht wird ja Brüssel Byzanz: Ostamerika.27

Pax Romana und Pax Americana blenden ineinander ein.
Der Text über zwei römische Geschichtsschreiber „Plinius grüßt Tacitus“, der bereits im Jahre 1996 in dem Band Lustgarten. Preußen veröffentlicht wurde, thematisiert die „Endzeit“, „die Katastrophe“ oder das „Weltende“ am Beispiel eines elementaren Naturvorgangs, des Vesuvausbruchs von A.D. 79, den Plinius der Ältere, ein Wissenschaftler und Historiker, als Augenzeuge erlebte und bei dem er umkam:

Als ein […] Mann mit wissenschaftlichem Interesse
Schien ihm die Sache wert, aus der Nähe betrachtet zu werden
(Tumulus, S. 17).

Plinius der Jüngere, der Neffe des vorigen, berichtet in seiner Sammlung von Briefen, den Episteln, über den Tod des Naturwissenschaftlers, der sich mit seinen Schilderungen der Römerkriege in Deutschland auch als Historiker hervorgetan hatte, die für Tacitus’ Germania eine wichtige Quelle waren. Das Gedicht ist durchbrochen von Zitaten aus den Episteln, die Details geben über das verhängnisvolle Ereignis (VI, 16; 20) und über die Arbeitsweise und den Leseeifer des älteren Plinius (III, 5).28 Mit den drei römischen Intellektuellen weist Braun darauf hin, aus welchen Quellen zukünftige Anleihen zu erwarten sind. Im Vordergrund des Gedichts steht die Identifikation Brauns mit dem wissbegierigen Forscher Plinius dem Älteren: „Ein Mann meines Alters mit unersättlicher Neugier“ (Tumulus, S. 18), der „den Verfall […] und das Weltende [vorausgesagt]“ (Tumulus, S. 18) hatte. Die dritte Person Singular im Erzählstrom wechselt zur ersten Person:

Warum blieb ich mitten in der Katastrophe
Meines Jahrhunderts
[…]
Die Sache schien es mir wert usw.
Man stülpte sich Kissen
Über den Kopf und verschnürte sie, das bot Schutz gegen den
Steinschlag
Ich kannte die wahre Natur der Erhebung
Bepflanzt mit roten Fahnen bis zum Gipfel, die Arbeiter-
Und Bauern schrappen im Schlamm der Verheißungen
Ich habe den Untergang (bändeweise) beschrieben

[…] warum fahre ich fort mit der Übung
In der kalten Lava der Revolution
[…].
(Tumulus, S. 18–19)

Weniger geht es in diesem Text um das Aufzeigen „anzüglicher Parallelen“ und „obszöner Assoziationen“ im Themenkomplex Rom und USA als vielmehr um die Darstellungsweise, um ein künstlerisches Programm bei der Durchdringung der Weltprobleme. Im Interview mit Rolf Jucker aus dem Jahre 2003 resümierte Braun:

Aus welcher Schicht, aus welcher Tiefe heraus schreibt man? Es ist wohl so, daß die Oberfläche am leichtesten darzustellen (nicht: zu begreifen) ist, und vielleicht als spannendster Stoff sich anbietet. Aber man faßt nicht das Wirkliche, Ganze, wenn man nicht in den Untergrund kommt, wo die unauffälligen, elementaren Vorgänge liegen, die Not und Anstrengung der vielen […] [Die] Qualität [der Literatur] ist, daß sie durch die Deckgebirge dringt und aus allen Schichten die Nachricht zieht.29

Das Sich-nicht-Abwenden von den Problemen der Welt, die entfremdete Arbeit, „die Befriedung der Welt durch Krieg“ und die Bedrohung von Weltimperien durch hungernde Fremde auf der Folie eines „Finales“ von „Roms letzte[r] Epoche des Unernsts“ (Tumulus, S. 41) – diese Themenkomplexe durchdringen sich in dem wohl wichtigsten, das Triptychon Tumulus und das folgende Stück Limes. Mark Aurel abschließenden Gedicht „Lagerfeld“. Das antike Rom und die globalisierte Welt um die Jahrtausendwende gehen im assoziativen Freiraum des Gedichtes ineinander über: „Rom: offene Stadt“ (Tumulus, S. 39). Kontrastiert wird das Modeimperium des Designers Karl Lagerfeld, die Welt des schönen Scheins, mit den sozialen und ökonomischen Problemen von einst und jetzt. Einige Akteure des Stückes Limes. Mark Aurel wie z.B. Commodus, „der ausgelassene Sohn / Eines gelassenen Vaters“ (Tumulus, S. 39) und der in sich gespaltene Kaiser Mark Aurel werden entweder erwähnt oder agieren direkt. Dem immensen Weltproblem von „ARM UND REICH“ (Tumulus, S. 40) stellt Braun mit scharfer Ironie ein weitverbreitetes Verhaltensmuster in der westlichen „Wegwerfgesellschaft“ (Tumulus, S. 41) gegenüber:

Lagerfeld oder Die Gelassenheit
[…] Lagerfeld schaut nicht hin Er hat ein Problem
Er kann sie
[die Welt] schöner machen, aber nicht besser
Immer noch schöner
[…]
Das Denken ist genau das was ich vermeide
(Tumulus, S. 39–40).

Nicht zu vergleichen ist diese bewusste Gelassenheit und Indifferenz jedoch mit der strapazierten Gelassenheit des Kaisers Mark Aurel im späteren Stück, der seine inneren Konflikte von Ethik und brutaler Machtausübung, zu der er gezwungen war, letztlich nicht mehr mit der Lehre der Stoa, sondern mit Drogen zu neutralisieren versuchte.30 Braun selbst meinte dazu in seinem Gespräch mit Irmer: „Er ist ein starker, gewinnender Mann (man darf ihn nicht ironisieren). Er ist durchlässig, ein empfindsames Material, das in der Tiefe bearbeitet wird. Er ist selbst ein Schlachtfeld, belebt von den Kämpfen, die er führt.“31 Die Persona des Modeschöpfers dagegen wird zum Symbol von seichter Leere und bequemer Ignoranz in der westlichen Wohlstandsgesellschaft. Lagerfeld, so fasst es Rolf Jucker treffend – „der ganz offen zugesteht, daß er die Krise nicht ableugnen könne, aber ganz bewußt wegsehe, wurde für Braun zur Signatur für unsere Zeit.“32 Anfechtbar ist daher die These Yasuko Asoakas, die Mark Aurels tragische Gelassenheit mit der Haltung des Präsidenten der USA gleichsetzt:

Bush, der Präsident der USA, des reichsten und mächtigsten Staates der Welt, nennt seine Gegner „die Achsenmächte des Bösen“ und will gegen sie einen neuen Krieg führen, um der Welt „Ordnung und Frieden“ zu bringen. Sein Interesse liegt an der Durchsetzung des eigenen Rechts der USA, während er sich gegen alles andere „gelassen“ benimmt. In ihm funktioniert der gleiche Mechanismus wie in Mark Aurel.33

Die mit den „Achsenmächten des Bösen“ assoziierten andrängenden „Unzivilisierten“, auch Zerstörungswütigen, „Barbaren“ oder Armutsflüchtlinge – „Salute, Barbaren“ (Tumulus, S. 41) – evozieren ein Spektrum von Denkalternativen, von denen noch keine deutlich als Lösung greifbar ist. Wie dringlich dieses Problem jedoch für Braun ist, führt er selbst in seinem Gespräch mit Irmer über sein Stück Limes. Mark Aurel aus:

bedeutsam [ist] zu entdecken, dass der Barbar, der Mann von draussen, denken kann. Es ist allerdings bis heute nicht aus der Welt, dem Fremden diese Fähigkeit abzusprechen: Präsident Bush jun. gründet seinen hirnrissigen Feldzug auf die Vermutung, der Feind sei unzivilisiert und begreife nur die Sprache der Bomben.34

Dieter Schlenstedt unterwirft das Motivfeld der Fremden oder Barbaren – eine „Dauerfigur in [Brauns] poetischem Denken“35 – in seinem Artikel „Empfang der Barbaren“ einer einfühlsamen Analyse.
Im Band Tumulus wird dieses Problem fragmentartig in verschiedene Gedichte eingeblendet: „Die Bangladescher in leichter Kleidung / Ausgesetzt im deutschen Winter WIRTSCHAFTSFLÜCHTLINGE“ (Tumulus, S. 31), „Hungernde […] Unpersonen“ (Tumulus, S. 22), „BROT FÜR DIE WELT“ (Tumulus, S. 21), „Hunger der Welt“ (Tumulus, S. 23). Im frühen Gedicht „La Rampa, Habana“ aus dem Band Training des aufrechten Gangs hatte Braun das Zusammenkommen und Gemisch unterschiedlicher Kulturen und Rassen noch im Sinne eines utopischen Internationalismus gesehen und gestaltet:

Ein Gemisch aus schwarzen und weißen Brüsten
Und Nasenbeinen und braunen Gliedern
Vom sachtesten Ton bis zur Farbe der Pferde.

Ein menschliches Gemisch, eine endliche
Unordnung, von einem Erdbeben her
Aus der Tiefe des Unrechts
Und die verworrenen Hände streifen sich ohne Haß

So wandeln sie in das Geschrei, in die Nacht
Die etwas zur Sache tut, in die Umarmung

Die Zukunft ist eine Mulattin.

Eine Verwerfung der Farben und Schichten
In der Landschaft knirschend vor Eröffnungen
Von denen ich zehre
(Training des aufrechten Gangs, S. 16).

Die damals noch im Wunschdenken anvisierten, möglich scheinenden Eröffnungen sind um die Jahrtausendwende ganz anderer Art. Am provozierendsten stellt Braun den komplexen Konflikt in den zweideutigen, ins Leere gehenden Zeilen „Salute, Barbaren“ dar, die das Gedicht „Lagerfeld“ abschließen und die völlig offen lassen, ob es sich hier um Resignation oder Akzeptanz auf Seiten des Autors handelt. In dem Prolog des Stückes Limes. Mark Aurel, betitelt „Die Ruhe Roms“, wird der Begrüßung der Barbaren aus dem Epilog „Lagerfeld“ das „Salute“, ja eine lakonische Feststellung entgegengesetzt: „Für alle langt es nicht“ (Limes. Mark Aurel, S. 58). In dem Essay von 1991 mit dem Titel „Die Fremden“ reflektiert Braun diese Tatsache:

Sie [die Fremden] sind uns ein Rätsel. Sie stehen mit ihren Koffern auf der Treppe und halten Rat. Was wollen sie? (Sie wollen alles, was wir haben. Aber alles, was wir haben, brauchen sie nicht.) Es sind schon sehr andersdenkende Wesen.36

Dieses Problem quält den Dichter, der es in seinen Werken kontinuierlich in seiner ganzen Widerspüchlichkeit beleuchtet. Er hinterfragt das Ausgegrenzte, die enorme Armut und den Hunger, aber auch das Unbekannte, Destruktive, Rohe oder das dem westlichen Menschen kulturell Fremde. Der aus diesem Problemknäuel entspringende Fremdenhass z.B. wird in dem verstörenden Stück Der Staub von Brandenburg (1999) kritisch durchleuchtet sowie in den zwei Versionen des Essays „Die Leute von Hoywoy“ (1971; 1991), die die Haltung der Arbeiterkollegen von einst und jetzt unter die Lupe nehmen. Handelte es sich in der frühen Version um Menschen, „die mir […] sehr vertraut waren, oder die hinreichend bekannt sein würden, oder bei denen einiges möglich war“,37 so präsentiert die zweite Version von 1991 diese einst so vielversprechende Möglichkeit als Haß potential:

NIGGERSCHWEINE, VERPISST EUCH. WIR BRINGEN EUCH UM.38

Braun stellt aber auch eine ganz andere Facette von Hunger und Gewalt vor, beispielsweise in den drei ironisch gebrochenen Kurzgeschichten des Bandes Das Wirklichgewollte, in denen von der Not getriebene, auf der ganzen Welt anzutreffende, anarchistische junge Gewaltmenschen die neuen Akteure auf der Weltbühne sind, denen ehemalige linke Intellektuelle mit ihren „verbrauchten“ Ideen hilflos gegenüberstehen. Der Gewalt der Eindringlinge begegnen diese mit widersprüchlichen Emotionen, mit „Erleichterung“ oder „Entsetzen […] Was wollen sie?“ (Das Wirklichgewollte, S. 24) oder, ein zu entwickelndes revolutionäres Potential ahnend, – „Ganoven, Genossen“ (Das Wirklichgewollte, S. 55) – mit „rohe[r] Freude […] werden doch die besten Gebäude auf Ruinen gebaut, und leben kostet den Tod“ (Das Wirklichgewollte, S. 54).
Brauns Band Tumulus ist voll von Totenhügeln, von denen aus der Dichter mit „unersättlicher Neugier“ Geschichte und Zukunft ins Visier nimmt. In der Prosaminiatur „Was kommt?“ aus Das Wirklichgewollte wird der Architekt Borges zum dichterischen Sprachrohr. „Seltsam ermutigt zugleich und todmatt“ (Das Wirklichgewollte, S. 55) reflektiert er das destruktive oder konstruktive Moment in der globalen Welt der Zukunft:

Die Nächsten, die Kinder, würden die Antwort geben, die Unbekannten, die Ungeheuer. Sie waren zu unterrichten, unerbittlich das Ungewisse zeigend. Der Strich so fest, daß er eine Möglichkeit darstellt, und so dünn, daß er keine endgültige Lösung bietet. (Das Wirklichgewollte, S. 54).

Diesem Unklaren, Ungewissen geht der Dichter in seinen Texten in Tumulus nach, unschlüssig, unsicher tastend, aber unerbittlich, schonungslos und unbeirrt die dringenden Weltprobleme sezierend:39

das Ganze durchdring[end] und nichts ausgrenz[end] und übergehen[end]. Die Politik wird sich ihre Botschaften holen aus den Schichten, die sie vertritt […] Die Literatur handelt von einer anderen, umfänglicheren Sache (du kannst sagen, für sie) und nimmt Position, indem sie die Sache selbst zum Sprechen bringt.

Dieser Prozess des Zum-Sprechen-Bringens enthüllt die Welt in ihrer schroffen, erschreckenden Widersprüchlichkeit. Der Dichter spart nichts aus, schont sich selbst nicht, wie den Texten abzulesen ist. Unbeeindruckt von historischen Ironien, im Abstand der Jahre auch von eigenen Fehlern, fährt er „in der kalten Lava der Revolution [fort] mit der Übung“ (Tumulus, S. 19), um in „der Asche [der] Hoffnung“ (Tumulus, S. 17) jenen Ort zu sichten und auszugraben, wo Leben keine Schande ist. Nichtwegsehen, das antike und momentane Welttheater im Auge mit den Hauptakteuren der Supermächte und den noch nicht klar zu definierenden, aber handelnden neuen, unbekannten „Unzivilisierten“ – diese Themen scheinen im dichterischen Programm Brauns zur Obsession zu werden. Am 8. Mai 2004 veröffentlichte er in der FAZ den Text „Unbesetzte Gebiete“, der trotz seiner hintergründigen Mehrschichtigkeit diesen Themenfeldern erneut Kontur gibt:

Wenn ich mir etwas näher komme, auf dem trüben Feld, erkenne ich, daß auch ich mich in einem besonderen Gebiet befinde, das zu niemand gehört. Eine unklare Stimmung herrscht darin, und eine merkwürdige Erwartung brütet drüber. – Es ist ein Durchzugsgebiet natürlich […] Ströme von Bildern, verwischte Gestalten, marodiernde Nachrichten. Das pladdert herein, gewaltsam, unaufhörlich, Reste von Kriegshandlungen, Hühnerkadaver. Wie soll ich das unterbringen, diese zudringlichen Flüchtlinge versorgen […] Es wird da, seit Jahren schon, nichts mehr ernst genommen. Und das ganze unablässige Treiben nicht als Leben akzeptiert […] Ich warte; ich warte auf die Besatzer (die Amerikaner? die Russen?), es ist ein Harren auf ein unausweichliches, hartes Ereignis. – Oder ist es die Stunde, selber zu handeln und die lebenswichtigen Dinge in Gang zu halten? […] Vielleicht ist diese abgelegene elende Lage die Chance, meine unwiederbringliche Möglichkeit. Um Mut zu fassen und das Überleben zu organisieren. […] Und von niemand ernannt, von niemand bestimmt an meine einzigartige Arbeit zu gehn.40

Christine Cosentino, in Karen Leeder (Hrsg.): Schaltstelle. Neue deutsche Literatur im Dialog, Editions Rodopi, 2007

Weiterer Beitrag zu diesem Buch:

Kai Köhler: Salute Barbaren
literaturkritik.de, Oktober 1999

 

Entzweites Leben

Unstrittig ein bedeutender Schriftsteller: Was aber ist es, das seine Texte so brennend genau, poetisch dicht, gelegentlich deklamatorisch macht? Die literarische Methode des Volker Braun ist hochkompliziert. Er selber hat das Verfahren einmal „konspirativen Realismus“ genannt. Das klingt griffig – aber es greift.
Die Gedichte und Prosaarbeiten des 1939 in Dresden Geborenen, der mehrere Jahre Dramaturg des Berliner Ensembles war, sind immer „doppelt“: sie können plan gelesen werden, doch sie schmuggeln im Rock Konterbande. Das ist die Ursache für allerlei Aufhaltsamkeiten: Kipper Paul Bauch, sein Stück über das Scheitern eines Hilfsarbeiters konnte erst zehn Jahre nach Entstehen mit verändertem Titel 1972 in Magdeburg aufgeführt werden, das Dokumentarstück Lenins Tod – in dem der Revolutionär die Katastrophe der Revolution erkennt – erst 18 Jahre nach seiner Fertigstellung 1970. Volker Braun ist ein Kommunist, der dem Kommunismus mißtraut:

Partei mein Fürst: sie hat uns alles gegeben
Und alles ist noch nicht das Leben.
Das Lehen, das ich brauch, wird nicht vergeben.

Es sind vor allem seine Gedichte – von denen nicht wenige zu den schönsten der deutschen Gegenwartsliteratur zählen –, die das Unheimliche einer verschatteten Dialektik vorführen: ein Ich, das sich einbinden will in das Movens der Geschichte; und sich im selben Moment gebunden fühlt, gefesselt:

Jeder Schritt, den ich noch tu,
reißt mich auf.

Volker Braun, dem einst ein DDR-Funktionär angedroht hatte, man müsse ihn erschießen (zu gerne wüßte man, in welches Loch sich dieser Herr mit welcher „Staatsdienerpension“ verkrochen hat); Volker Braun, der den Sozialismus wollte und die DDR als dessen Zerrbild sah; Volker Braun, der sich als Stimme in einem Chor sah – ein traurigeindringliches Gedicht gilt Stephan Hermlin; ein anderes reiht „Mickel Czechowski Braun und Tragelehn“ aneinander, viele paraphrasieren den Brecht-Gestus: Volker Braun schuf sich von Beginn an (Provokation für mich erschien 1965) eine ganz eigene Sprache der Bedeutungslyrik. Deren Spezifisches liegt darin, daß er fast immer mit „Kassibern“ arbeitet, sich Versatzteile leiht; kaum ein Gedicht, das nicht Goethe oder Rimbaud, Walt Whitman oder Neruda, Hölderlin oder auch Che Guevara und Hegel „versteckt“.
Keineswegs aber haben wir es zu tun mit Entschlüsselungskunststückchen für germanistische Seminare. Das Wunderbare dieser poetischen Dome mit ihren Streben, Pfeilern und märchengrinsenden Kapitellen ist ihre kunstvolle Transparenz. Nehmen wir aus dem Band Der Stoff zum Leben (schon das T.-S.Eliot-Motto seinerzeit eine Kühnheit) das erste Gedicht, ein Schrei-Hymnus in Walt Whitmans Manier:

Woher soll ich es nehmen
Wonach ich verlange
aus diesem Sommer?
Aus der Luft
Die weich die Abende füllt, den Gerüchen?
Wonach meine Lungen röcheln, meine inwendige Haut
Zittert und sich winden meine Gedärme
Aus den Rippen schneiden? aus den Morgenröten?
Dem Stoff woraus die Träume gemacht sind?
Wie wächst mir das
(ein wüster Garten hier / der auf in Samen schießt)
Wonach die Dichter schrein in ihren Tiraden?
Und wie die Risse stopfen, die Niedertracht
Die mich bedecken? Woher
Die Nachricht, die in meine Zeilen dringt
Aus den Wiesen? aus den Gewittern
Wie herrlich leuchtet
Mir die Natur
Wie glänzt
Die Sonne in den städtischen Bächen voll toten
Geländern und der Asphalt sag ich dir! zerfließt
[…]

Dieses Gedicht mit seinen Schwebebalken der Shakespeare- und Goethe-Zitate verdankt seinen Atem der Atemlosigkeit. Ein Ruf-Gedicht der Not. Sein Leitmotiv (Leid-Motiv?) wird über drei Seiten hin variiert mit der immer wieder neu paraphrasierten Zeile „Woher soll ich es nehmen / Wie rette ich mich / Woher nehme ich es: das Glück“. Bis zu der Brutal-Zeile „[…] o Mangel an / Blutlosen kalten Lebewesen mit denen man ficken / Könnte ohne zu lächeln zu denken“ ist das Gedicht ein verwendetes Gebet. Eines, der Teil sein will, und eines, der nie sein Wissen verdrängen kann: Die Gemeinde ist verrottet, Verrat hat die Scham verdrängt und das Rot der Liebe ist fahl auf Plakate des mörderisch gewordenen, weil gemordeten Fortschritts gepinselt.
Ebendieses Aufwachen aus einem Menschheitstraum, nach dessen Schwingen Volker Braun gleichwohl hascht, prägen seine großen Prosaarbeiten; die zu Recht berühmt gewordene Unvollendete Geschichte zumal. Eine perfekt gebaute Erzählung, so perfekt wie weiland seines Kollegen Plenzdorf Die neuen Leiden des jungen W. – dem er prompt Achtung zollt:

Das Ungeheure in dem „Werther“ war, daß da ein Riß durch die Welt ging, und durch ihn selbst. Das war eine alte Zeit. Und doch war auch in all dem Äußeren ein Inneres.

Das entdeckt lesend das Funktionärstöchterlein, schwanger vom Burschen mit Hausverbot, weil der – man denke – eine „Westkorrespondenz“ führt.
Volker Braun hat hier mit der Gleichung „Liebe – Verrat – Gehorsam – Vorwärts ins Schwarze“ ein anderes Paradigma für sein großes Thema gefunden: das Inhumanum im Credo der Menschheitsapostel. Da capo möchte man noch heute beim Wiederlesen des schmalen Bandes rufen – zumal bei der erweiterten Ausgabe, der ein grausigkomisches Satyrspiel nach der Tragödie angefügt ist; denn es stellte sich heraus, daß eine Martina, die ihm den Stoff für seine Fabel von dem drangsalierten Geschöpf, Opfer elterlichstaatlicher Wachsamkeit, berichtet hatte, eine IM war. Während sie dem Schriftsteller von der Paradoxie dieser „Romeo und Julia im Sozialismus“ erzählte, erzählte sie der Stasi, daß sie es dem Schriftsteller erzählt habe. Der fand sich prompt im „Operativen Vorlauf“ der Firma charakterisiert:

Es besteht der Verdacht, daß es sich bei Braun um einen personellen Stützpunkt des Gegners handelt; daß er bewußt und zielgerichtet revisionistisches und konterrevolutionäres Gedankengut vertritt und über seine schriftstellerische Tätigkeit der Öffentlichkeit zugängig machen will; daß er antisowjetisches Gedankengut propagiert und sich mit Renegaten wie Solshenizyn solidarisch erklärt.

Wie ein verzagtes Postskriptum liest sich dann Volker Brauns Erinnerung an die gütige Feigheit einer Kollegin, nachdem seine Geschichte in Sinn und Form erschienen war:

In einer Versammlungspause zog mich Anna Seghers, die mich eben in Schutz genommen hatte, an ihren Tisch und sagte leise: „Weißt du denn nicht, daß man dafür vor einiger Zeit verschwunden wäre?“

Da nun tauchen beim Volker-Braun-Leser Bedenken auf. Denn in einer vertrackten Trotzhaltung hat er sich ein wenngleich verschattetes Utopie-Potential erhalten, in einer gelegentlich militanten Dennoch-Haltung ein heranschleichendes Mißtrauen verscheucht: ob denn Utopie nicht zur Illusion zerrönne. Es scheint, er habe den Schamanen Karl May namens Ernst Bloch stets ganz ernst genommen, selbst den fackelnden Sprachbasar dieses Märchenerzählers nie auf die Waage gelegt. Das mag höhnen, wer will. Ich kann über das Bewahren einer Resthoffnung nicht spotten, wenn sie mir auch fremd ist; gleißnerisch.
Man spottet nicht über Gläubige. Man wundert sich nur. Wie es vor einem Vierteljahrhundert schon Peter Rühmkorf tat, als er das Gedicht „Durchgearbeitete Landschaft“ rezensierte:

Ich weiß nicht so recht, ob der stolze Rückblick auf ein Stück Gemeineigentum nicht seinerseits bei einem Gemeinplatz Rast macht. Mit Tucho, dem Gemeinsamen, zu fragen: Wenn das nun wirklich richtig vor uns daliegt, diese „Bahn aus Bitum“, wie es heißt, und dieser „weiße neugeborene Strand“ – ja? –, und wenn wir uns dieses Happy-End sogar noch als eine wahrhaftige soziale Errungenschaft vorstellen, ein öffentliches Freizeitzentrum meinetwegen, einen Volkspark, ein Schriftstellererholungsheim, ein Nulltarif-Tivoli, eine gemeinnützige Bade- und Begegnungszone – „na, un denn“?

Es ist ein seltsam Ding. Das Thema Herr und Knecht hat Volker Braun nie losgelassen – diesen melancholischen Optimisten, der zwar nicht fortschrittsgläubig, aber voller Fortschrittshoffnung war. So hat er ein Stück Hinze und Kunze und einen Roman desselben Titels geschrieben, dem er noch ein Bändchen Berichte von Hinze und Kunze folgen ließ: weit gespannte Überlegungen zum Thema listiger Gefolgschaft und tölpeliger Befehlshaberschaft; also der Dialektik von oben – unten. Alle drei Bücher sind Paraphrasen von Diderots Jacques der Fatalist und sein Herr, gewiß auch von Brechts Puntila: gleichsam die marxistische Variante, denn bei Volker Braun ist der Herr ein tolpatschiggrober, auch schon mal nach der Frau des Untergebenen grapschender Funktionär und der Knecht dessen Chauffeur. Den beiden legt er wahrlich aufklärerische Dialoge in den Mund:

KUNZE: Ich staune immer, was unsere Menschen machen. Was sie auf sich nehmen.
HINZE: Was sollen sie denn machen. Sie können nicht anders.
KUNZE: Was heißt: sie können nicht anders?
HINZE: Genau, es ist ein Zwang. Da werden sie wie wild. – Kunze kniff das Gesicht zusammen. –
HINZE: In ihnen drin! Von außen, auf den reagiern sie nicht. Eine Veranlagung, daß sie aus sich rausgehn, weil sie sich nicht wohlfühlen in ihrer Haut.
KUNZE: Da würd ich vorsichtig sein.
HINZE: Du kannst es vielleicht nicht wissen, du bist drüber naus. Du bist geheilt sozusagen.
KUNZE: Wie meinst du das?
HINZE: Dir ist geholfen, weil du aus dem Schneider bist, oder aus dem Schlosser. Du lebst vom Bewußtsein.
KUNZE: Bewußtsein haben sie auch.
HINZE: Freilich, aber sie leben nicht davon. Das ist es ja, sie haben das Bewußtsein, aber die Arbeit wie eh und je. Das ist ja der Beschiß!
[…] Aber sie merken es nicht, weil sie beschäftigt sind, immer wilder zu werden wie die rammdösigen Esel. Deshalb wird’s ihnen ja in der Zeitung gesagt, nur, die lesen sie nicht, weil sie genug haben von sich am Arbeitsplatz. Sie können nichts mehr von sich hören, und wenn es das Schönste ist. Sie habens satt.

Es hat Volker Braun vermutlich nicht verwundert, daß derlei in der DDR-Presse auf Empörung stieß. Ein Professor Jackstel formuliert in der Freiheit, ganz aufgebrachter Stolz von Halle:

Soll ich zur Komplizenschaft in einer schlechten Komödie genötigt werden? Oder wird mir gar abverlangt, den Kakao auch noch zu trinken, durch den mich der Autor zieht?

Im „dialektischen Spannungsverhältnis von Ideal und Wirklichkeit“ werde das „Sozialismusbild im Rahmen zum Zerrbild“.
Interessanterweise – auch das gab es – hieß Brauns Verteidiger des Jahres 1985 Klaus Höpcke, seines Zeichens stellvertretender Kulturminister der DDR, der auch die im Neuen Deutschland erschienene Attacke gewiß gelesen hatte, gleichwohl in zwei klug analysierenden Weltbühne-Folgen das Buch einen „Gewinn für alle“, einen „vergnüglichen Lesegenuß“ nannte und als Appell verstand, „zu verhüten, daß wir verhinzen und verkunzen“. Womit er fraglos den Intentionen des Reformators Volker Braun entsprach.
Allein, nur dem nachzugehen hieße, einen Schriftsteller auf einen ideologischen Disputanten zu reduzieren. Sowenig Volker Braun dieser Debatte je auswich – durchaus gelegentlich auch mit Wortmeldungen, die er heute selber „entsetzliche Texte“ nennt; sich damit wahrlich vorteilhaft von seinen Kollegen Unterschlagungskünstlern unterscheidend –, so sehr ist er doch ein anderes Kaliber. Die Verkrümmung des Rückgrats nämlich jener Gesellschaft, die er einst bejahte, zeigt sich beim Dichter Volker Braun im Formalen. Seine Sprache verändert sich, sein Duktus härtet sich, sein Metaphernhaushalt entleert sich jeglicher Eleganz. In seiner Lyrik kann eine Entwicklung von der Bedeutungslyrik zur Spruchdichtung beobachtet werden. Atemnot als Form. Das Lasso, einst nach der Hoffnung ausgeworfen, schnürt jetzt die Kehle zu:

Es ist gekommen, das nicht Nennenswerte.

Seine Gedichte sind seit 1988 gebrochene Rufe, Bitterkeit hat Emphase abgelöst, und der Kämpfer erkennt Windmühlen als Windmühlen:

[…] ich schäme mich
Mit Schweinen gekämpft zu haben
Die ich für meine Gegner hielt, meine Genossen
Gegen die ich antrat ein treuer Verräter
In der schimmernden Rüstung der Worte
KEINE MACHT FÜR NIEMAND WIR SIND GLEICH
Getäuscht von ihrem heldenhaften Wühlen
In der Scheiße, die die Geschichte war
Und berauscht vom Mist, der die Macht war.

Doch halt, nachzutragen – besser: vorzutragen – ist, daß solchen Zeilen Angewidertes voransteht über westliche Anmaßungsfeuilletons, über die neu dargebotenen Werte, die er verwirft:

Was ich niemals besaß wird mir entrissen.
Was ich nicht lebte, werd ich ewig missen.

Volker Braun ist kein Wendehals. Die kleine Prosastudie „Die vier Werkzeugmacher“ zeigt vielmehr, mit welcher Verve und geradezu pamphletistischer Schärfe er uns unsere Gewissenlosigkeit ins Gewissen ruft:

Wie der Mensch, seiner Gewißheiten verlustig, in der Kälte steht, so die Menschheit, wenn sie der Überlegenheit ledig ist, des Wissens von ihrer besseren Welt; sie verliert ihren Gleichsinn und ist am Rande der Tollheit, sie schafft und vernichtet, erfindet und vergißt und erkennt sich nicht wieder in der Landschaft, gefangen entmachtet verwandelt von der Natur, die sie ist und nicht ist in ihrem fantastischen Zwiespalt, Wahnsinn Vernunft.

Das ist die Prosaversion seiner Antwort „Ein monströser und unglücklicher Vorgang“ auf die Frage seines Interviewers in der Frankfurter Rundschau:

Ärgert es Sie, wie in der alten Bundesrepublik mit der DDR-Vergangenheit umgegangen wird?

Jedoch: Auch dies wäre noch immer, wenngleich achtbar, lediglich ein Antifeuilleton.
Brauns Veränderung aber geht viel tiefer. Ein scheinbar winziger Werteverschub macht das deutlich. Liebe ist in späten Gedichten Brauns zum Symbol der Hoffnungslosigkeit geworden. Der Glückshorizont ist abgesunken. Worte wie „frauliche Unscham“, „die Frau wie ein besondres Tier“ häufen sich, die Summe heißt:

Der Stoff zum Leben, der nach Liebe schmeckt
Und Salz und Tod, ich habe ihn geleckt.

Wie ein früherer Text über das Ende des Prager Frühlings versinkt in dem Satz „Kann man sich lieben, mit diesen Vorgängen im Kopf?“, so sind Volker Brauns Fenster zur Welt nun zugefroren mit Eisblumen. Bei einem seiner Vorfahren, Walther von der Vogelweide, findet man das Wort „entwonnen“.
Kälte ist gut für den Essay. Die essayistischen Arbeiten dieses Kundigen gleichen einem Skalpell. So behutsam wie unerbittlich legt er Fett, Nervenstränge, Verwucherungen bloß. Ein Meisterstück seine Überlegungen zu den Briefen Georg Büchners und zu dessen Ein-Satz-Poetik „Was ist das, was in uns lügt, mordet, stiehlt?“. Braun – wie jeder anständige Essayist – spricht von sich, wenn er uns an die Finsternisse, das Aufbegehren und diese Höllengelächter-Verzagtheit des revolutionären Revolutionsskeptikers erinnert mit dem Bekenntnis:

Ich spürte die Tinte der Lügen brennen auf meiner Haut. Es war wie ein Bad im Dreck, in Gedärm, in zerfetztem Gehirn.

Man spürt diesem Text ein Beben an, wie um und um und umgestülpt sein Verfasser ist angesichts der Not jenes mit 24 Jahren gestorbenen Medizinstudenten, dem wir den Danton und den Woyzeck zu danken haben.
Noch in seinem Gedichtband Tumulus schmuggelt Volker Braun die zwei Zeilen ein:

Geht einmal euren Phrasen nach
Bis zu dem Punkt wo sie verkörpert werden.

Das aber ruft der Deputierte Mercier seinen Mitgefangenen zu, und Büchner läßt Danton antworten:

Man antwortet heut zu Tage Alles in Menschenfleisch […] Mein Leib wird jetzt auch verbraucht.

In den Mittelpunkt seiner Interpretation voll hell leuchtender Schwärze stellt der Schriftsteller Büchners Sätze:

Ich fühlte mich wie zernichtet unter dem gräßlichen Fatalismus der Geschichte. Ich finde in der Menschennatur eine entsetzliche Gleichheit, in den menschlichen Verhältnissen eine unabwendbare Gewalt, Allen und Keinem verliehen. Der Einzelne nur Schaum auf der Welle, die Größe ein bloßer Zufall, die Herrschaft des Genies ein Puppenspiel, ein lächerliches Ringen gegen ein ehernes Gesetz, es zu erkennen das Höchste, es zu beherrschen unmöglich.

Fritz J. Raddatz, aus Fritz J. Raddatz: „Schreiben heißt, sein Herz waschen“, zu Klampen Verlag, 2006

 

Wolfgang Fritz Haug: Roter Orpheus, taube Zeit

 

NACHTS, FERN VON DER MORAL
Nach Volker Braun

Nachts, wenn der Rauch alle ist
Nachts, wenn der Lärm alle ist:
Laß deine Brüste heraus, Mädchen,
Bis meine Hand, der zärtliche Bagger,
Bis mein Mund einen Umweg macht
Und lächelnd dir beischläft –
Für Butter, Mädchen, für Butter!

Denn meine Liebe allein ist kein Beweis.

Kurt Bartsch

 

In der Reihe Klassiker der Gegenwartslyrik sprach Volker Braun am 9.12.2013 in der Literaturwerkstatt Berlin mit Thomas Rosenlöcher.

Welche Poeme haben das Leben und Schreiben von Karl Mickel und Volker Braun in der DDR und Michael Krüger in der BRD geprägt? Darüber diskutierten die drei Lyriker und Essayisten 1993.

 

 

Die Geschichte macht keinen Stopp von Peter Neumann. Ein Besuch beim Büchnerpreisträger Volker Braun, der den Weltgeist immer noch rumoren hört.

 

Zum 80. Geburtstag des Autors:

Katrin Hillgruber: Der ewige Dialektiker
Der Tagesspiegel, 5.5.2019

Rainer Kasselt: Ein kritischer Geist aus Dresden
Sächsische Zeitung, 7.5.2019

Hans-Dieter Schütt: Die Wunde die bleibt
neues deutschland, 6.5.2019

Cornelia Geißler: „Der Osten war für den Westen offen“
Frankfurter Rundschau, 6.5.2019

Helmut Böttiger: Harte Fügung
Süddeutsche Zeitung, 6.5.2019

Erik Zielke: Immer noch Vorläufiges
junge Welt, 7.5.2019

Ulf Heise: Volker Braun – Inspiriert von der Widersprüchlichkeit der Welt
mdr.de, 7.5.2019

Oliver Kranz: Der Schriftsteller Volker Braun wird 80
ndr.de, 7.5.2019

Andreas Berger: Interview zum 80. Geburtstag des Dresdner Schriftstellers Volker Braun
mdr.de, 7.5.2019

 

 

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shi 詩 yan 言 kou 口

 

Bild von Juliane Duda mit den Übermalungen von C.M.P. Schleime und den Texten von Andreas Koziol aus seinem Bestiarium Literaricum. Hier „Der Volkerbraun“.

 

Bild von Juliane Duda mit den Zeichnungen von Klaus Ensikat und den Texten von Fritz J. Raddatz aus seinem Bestiarium der deutschen Literatur. Hier „Braun, der“.

 

Beitragsbild von Juliane Duda zu Richard Pietraß: Dichterleben – Volker Braun

 


Volker Braun – 50 Jahre Autor im Suhrkamp Verlag.

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