Volker Braun: Wir und nicht sie

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Volker Braun: Wir und nicht sie

Braun-Wir und nicht sie

WIR UND NICHT SIE

Eins könnte mich trösten: wir haben das halbe
Land frei für den Frieden. Vor den verbrannten
Ufern der Länder, wo das Gras wächst
Liegt es, das seine Zeitungen loben und die Sprecher
Des Volks, mein Land, nicht mehr gefürchtet
Von seinen Bewohnern. Nach dem Jahrhundert
Des Granatenrechts, das wir brachen
Als die Städte brachen, müßt ich, da Freiheit
Bis heut von fern gefeiert war, ihr Lob stärker
Singen als jeder! aber sie tröstet mich nicht.
Denn wer alles auch sagt, uns kümmere nur
Dies eine, das wir schützen können: ich kenne
Nicht mein und dein vor diesen verletzlichen Ländern
Die kleineren Kriege, die beschreiblichen
Waren. Mich schert
Diese lockere Erde jeglicher Landschaft, die mein Gebein
Befliegen kann schichtweis. Und seis nur eine
Quadratmeile See unterm Raketenschiff:
Oder der Batzen Rhön, fern neben meiner Schulter
Das ist mein Land, das seh ich: und keine Welt
Tröstet mich. Ich versuche es ja, ich halte
Dies Ländchen im Auge, in meinen Händen
Als wenns mir gefiele, und was ihr macht, ich
Mach es, den Beton und den Pudding, ich fahr vom Kap
Zu den Kuppen, ich faste auf Festen, die mit Worten
Den Ruhm des Friedens mästen: es ist da um mich
Klein und lebendig, ich bin dort wie ihr
Mein bebautes Land, zufrieden, nicht schön
Das ein Trost ist, das verletzbare, friedliche
Frei vor den Ufern der Länder! aber es tröstet mich nicht.

 

 

 

Ohne Angst vor Hindernissen

 Nach Provokationen für mich und KriegsErklärung nun der dritte Band des Dichters Volker Braun: Wir und nicht sie – Umkehrung einer Zeile aus jener Ode Klopstocks, in der dieser das revolutionäre Frankreich dem zurückgebliebenen Deutschland gegenüberstellt. Der sozialistische Lyriker aus der DDR kann sich berufen auf fortschrittlich revolutionäre Veränderungen, die in seinem Lande erfolgt sind, schreibt denn auch „Eins könnte mich trösten: wir haben das halbe / Land frei für den Frieden…“, feiert die Freiheit im sozialistischen Staate, klagt an die Herrschaft des reaktionären Imperialismus in Westdeutschland.
Stets auf der Spur des Neuen, bezieht Braun Stellung und vermag es allemal, dieses Neue in eigenständiger Weise zu gestalten, seinen Lesern Haltungen zur Wirklichkeit vorzuführen. Er zeigt im Gedicht den Vollzug des Werdens und Fertigwerdens mit Vergangenheit und Gegenwart. Im Hinblick auf die Zukunft, verschweigt nicht die Schwierigkeiten am Wege, ohne etwa zu resignieren, alles andere als das, schwingt sich auf zu kraftvollem, optimistischem Handeln. Da lesen wir in dem Gedicht „Von Martschuks Leuten“, das den Prozeß des Kampfes mit der Natur beschreibt, die Verse „Zuerst ist nur Wald. Einzeln schlagen wir uns / Zum Fluß durch…“ und erfahren, wie sich bei der Arbeit einer im andern und dann schließlich sich selbst erkennt. Es gelingt Braun – wie so oft schon –, das Wesen der sozialistischen Arbeit, ihre Schönheit und Bedeutung für echtes Menschsein modellhaft zu gestalten, wobei er das „Ich“ und das „Wir“ immer stärker in den dialektischen Entwicklungsprozeß hineinstellt.
In Gedichten wie „Der Notstand“ und „Verständigung“ appelliert Braun an die demokratischen Kräfte Westdeutschlands, wachsam zu sein, nicht die Ohren hängen zu lassen und die Zungen, das Zahlbrett vom Kopf zu nehmen, weniger fern- als weit zu sehen, die Gesetze der Wölfe zu durchschauen und zu vereiteln, sich der Alleinvertretungsanmaßung entgegenzustellen.
In der Nachfolge Brechts vermittelt Volker Braun durch seine Gedichte Bewußtsein als Lebensgefühl, macht er fähig den Leser für die Zeit des Volks.

 Horst Buder, Neue Zeit, 15.4.1971

Lyrik

Ach du warst es nicht, mein Vaterland, das der Freyheit
Gipfel erstieg, Beyspiel strahlte den Völkern umher:
Frankreich wars!

Mit diesen Worten beklagte Klopstock 1790 in einem Gedicht, dass nicht in Deutschland, sondern in Frankreich Revolution gemacht wurde. Das Gedicht, gerichtet an den Herzog von La Rochefoucault, der als einer der ersten Adligen Partei für die Revolutionäre ergriffen hatte, ist überschrieben:

Sie und nicht wir.

Diesen Titel hat der heute 31jährige, in Ost-Berlin lebende Lyriker Volker Braun aufgegriffen und seinen neuen Gedichtband Wir und nicht sie genannt. „Wir“, das meint die DDR. Und schon in dem Buchtitel artikuliert sich ein Stolz und ein Selbstbewusstsein, das Gefühl, In diesem besseren Land (so der Titel einer DDR-Anthologie) zu leben – ein Gefühl, das man nicht nur bei parteiergebenen Polit-Barden findet, sondern ebenso bei kritischen Geistern wie etwa Wolf Biermann oder Reiner Kunze.
Volker Braun ist auch im Westen kein Unbekannter mehr. 1965 erschien in Halle sein erster Gedichtband Provokation für mich, dessen wichtigste Texte in die 1966 bei Suhrkamp edierte Sammlung Vorläufiges aufgenommen wurden. Neben zwei Theaterstücken (Kipper Paul Bauch und Hinze und Kunze) kam 1967 in der DDR noch ein Band Brauns mit Gedichten gegen den Vietnam-Krieg heraus, Kriegs-Erklärung: eine moderne Version emblematischer Dichtung, Vier- und Fünfzeiler zu Photos, nach dem Muster der Brechtschen Kriegsfibel. Das Leipziger Schriftsteller-Lexikon rühmt Braun als einen „Chronisten und aktiven Wegbereiter seiner am Aufbau des Sozialismus beteiligten Generation“. Sein Stil wird als jugendlich forciert, und oft subjektiv übersteigert charakterisiert, als wechselnd zwischen satirischer Ueberspitzung, sachlicher Verfremdung und preisendem Pathos; sein Ton sei frisch und hemdsärmelig provozierend.
Volker Brauns lyrische Vorbilder sind, das zeigt auch sein neuer Band, Majakowski mit seinen agitierenden frühen Revolutionspoemen, Enzensberger, von dem Braun die Vorliebe für die Langzeile, rhetorische Emphase und Alliterationen entlehnt hat, und der dialektisch argumentierende Brecht; Anlehnungen an die Klassiker kommen hinzu. Glücklicherweise hat Braun in seinen jüngsten Gedichten den oft bramarbasierenden, nassforschen Ton ein wenig gedämpft, seine Stimme überschlägt sich nicht mehr so oft wie früher in einem Pathos, das angelesen wirkt.
Ueber Brauns Band Wir und nicht sie – der übrigens einige nur unwesentlich revidierte Texte aus Vorläufiges übernimmt, was der Suhrkamp Verlag verschweigt, schrieb der Hallenser Mitteldeutsche Verlag in einer Vorankündigung:

Volker Braun befasst sich mit Verhältnissen im Deutschland unserer Tage und konstatiert die Ueberlegenheit der Gesellschaftsordnung in der DDR.

So ist es.

Zwar hörte man von Schwierigkeiten, die Braun gemacht wurden: sein Buch war in der DDR schon für den Sommer 1969 angekündigt, konnte aber, wie die West-Ausgabe, erst im Herbst 1970 erscheinen. Mag sein, dass man Braun zu Korrekturen im Manuskript veranlasst hat, dass es manchem Funktionär nicht passt, in welcher Weise hier ein junger Poet Generationsprobleme artikuliert, dass Offizielle Anstoss nehmen an Bemerkungen wie:

In einer alten Maske
die nicht passt, hockt auf dem Kontinent
der Staat der Arbeiter.

Doch das sind Randbemerkungen. Denn Volker Braun ist ein politischer Dichter, der seinen Staat aus vollem Herzen und vollem Halse bejaht, Fortschritte und Aufbauleistungen besingt und die Welt aus der Perspektive sozialistischer Parteilichkeit sieht: der Feind steht allemal im Westen. Braun attackiert, wütend die Alleinvertretungsanmassung der Bundesrepublik (– die in der Tat viele DDR-Bewohner erbittert). Mit den Klischee-Vorstellungen, die seine Zeitungen ihm liefern, sieht er im Westen Bedrohung, Gefahr, Panzer, Polizei, Notstandsgesetze und – Heiliger Hans Magnus, steh ihm bei! – Flick und Flak, abkanzelnde Kanzler, ein Volk, das fernsieht: und nicht weit. Brauns Empfehlung für die Bundesrepublik: Aufstand des Proletariats, Revolution.
In der DDR, wo die Revolution ja bereits stattgefunden haben soll, plädiert Braun für Bewegung, Veränderung, gegen doktrinäre Erstarrung. Im Prinzip aber ist schon alles in Ordnung. Braun preist den Sieg über die Natur in Fabriken, an Staudämmen und in der kollektivierten Landwirtschaft. Er singt das Hohelied der Arbeit im Sozialismus, wo Arbeiter in „befreiten Fabriken“ „drehen schönen Stahl / Schwitzend vor Glück“.
Braun ist optimistisch und zukunftsfroh: „Wir arbeiten uns hinüber in die freie Gesellschaft“ (hinüber?), und:

Verständlich wie eine Losung, leicht wie ein Gewand
Das jedem passt, führn wir sie langsam herauf:
Die Freiheit.

Langsam! Braun ist stolz auf die „Erde, die wie unser Leib uns gehört“, auf „mein Land, nicht mehr gefürchtet / Von seinen Bewohnern“. Kurz: er lebt „im bessern / Teil der Welt.“ So spricht ein Glaubender, ein Liebender. Aber – um zum Schluss noch einmal Klopstock zu zitieren –:

Wo ist der sorgsame Wahrheitsforscher,
Der geht, und die Zeugen verhört?
Geh hin, noch leben die Zeugen,
Und halte Verhör…

Jürgen P. Wallmann, Die Tat 3.4.1971

Weitere Beiträge zum Buch:

Heinrich Vormweg: Zuhören beim Reisstampfen
Süddeutsche Zeitung, 17./18.10.1970

Heidrun Loeper: Wir – als der Zukunft Gewißheit
Neues Deutschland, 11.11.1970

Peter W. Jansen: Das Stammeln der Utopie
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 8.12.1970

Hans Richter: Fragt ihr uns oft genug?
Forum, Heft 24, 1970

Paul Kersten: Proben ohne Netz
Die Welt der Literatur, 13.5.1971

Manfred Jendryschik: Volker Brauns ‘Wir und nicht sie
Sonntag, 13.6.1971

Rulo Melchert: „Was glaub ich denn, wenn nicht an uns“
Neue Deutsche Literatur, Heft 7, 1971

Anonym: Ein DDR-Lyriker
Der Bund (Bern), 8.11.1970

Holger J. Schubert: Poetische Perspektiven
Sächsische Zeitung, 14.1.1970

H.D. Tiesema: Volker Brauns Wir und nicht sie
Het Duitse Boek (Amsterdam), Heft 3, 1971

Jürgen P. Wallmann: Schwitzend vor Glück
Der Tagesspiegel, 28.2.1971

Armin Zeißler: Volker Braun: Wir und nicht sie
Deutschlandsender (Gehört – gelesen – mitgeteilt), 16.12.1970

 

Volker Braun

Es ist der 20. Oktober 1972.
Berlin-Mitte, gegenüber von Marienkirche und Fernsehturm ein noch bewerkter Neubau, Wohnungsnummer 04/12 F, auffindbar nur mit der Methode Versuch und Irrtum. Braun (Jahrgang 39) öffnet: rotes Hemd, derbe blaue Beinkleider, auch Bluejeans genannt, freundliche Aufforderungsgesten. Das Zimmer: ein fast leerer Schreibtisch vor Fenster und Heizkörper, darüber eine ziehbare Schusterlampe, eine Liege, ein Arbeitsstuhl und ein leder-stahl-gefertigter Sessel, Regale, darin ins Auge springend die Reihen Marx, Brecht, Hegel, ein Foto der Frau Anne mit Kind, augenscheinlich im Hochsommer. Wer Braun nicht schon kannte, vermutet nicht ihn hinter dem unverhüllten Dialekt (eine Braunsche Wendung: Es ist unproduktiv, andauernd auf Schminktöpfen herumzutrommeln), der zeitweise verlegenen Wortsuche, der abwiegelnden Zurücknahme von Formulierungen (nicht Meinungen), dem häufigen Einschub eines gedehnten Äh. Als er auf die Figuren seines Stücks Lenins Tod zu sprechen kommt, steht er auf, kneift die Lider, ballt die Fäuste und schildert die Freude an solchen Stoffen.

Joachim Walther: Noch auf dem Weg hierher habe ich deinen neuen Prosa-Band Das ungezwungene Leben Kasts gelesen. Du kannst mich jetzt prügeln, aber mir fehlte da etwas Stofflichkeit, Fangeisen für die Sinne.

Volker Braun: So? Ich habe eine Geschichte erzählt – eine allerdings komplizierte, und es ist die Frage, ob man sie nicht hätte mehr aufblähen müssen. Doch gelungen ist etwas nur dann, wenn der Vorgang gegeben wird und nichts als der Vorgang, der aber in sich so ausgelotet ist, daß die Aussage aus ihm selbst heraus spricht.

Walther: Ja, genau das! Aber ist es nicht so, daß du im Kast die Probleme in Kaskaden von Fragesätzen manchmal direkt servierst?

Braun: Da nicht ich frage, sondern meine Figuren sich fragen, durfte ich das nicht verhindern. Und das hat seine Tradition. Beispielsweise in Radistschews Reise von Petersburg nach Moskau. Der Witz ist doch, daß er dort Leute sprechen läßt und damit Ansichten transportiert: Aber das gehört zu der Geschichte, es ist sie.

Walther: Das Ganze ist berichtend, fast tagebuchartig. Führst du ein Tagebuch oder dergleichen?

Braun: Nein. Ich mache nur Notate. Das sind zugespitzte Dinge. So etwas zu publizieren ist nicht ungefährlich, denn manche Kritiker hängen an solchen Kontexten und beurteilen dann alles nur von ihnen her – statt in den Text zu steigen.

Walther: Derartiges ist möglich, hier aber nicht bezweckt.

Braun: Ich sag ja auch was…

Walther: Ich bin beruhigt. – Und frage: Wie ist das bei der Ideenfindung? Ist etwas zuerst da, oder sind Idee und Gegenstand gleichzeitige Erscheinungen?

Braun: Die Idee kommt aus Grunderlebnissen, aus Erlebnissen, die mich im Grunde anrühren. Bei meiner unzufriednen Verfassung werden das meist Augenblicke des gesellschaftlich Neuen sein, Das In-die-Tiefe-Gehen fördert dann die „Idee“ des Vorgangs zutage; des Vorgangs also in sinnlicher Form. Das dauert mitunter. Aber ohne dieses Ausloten geriete alles kleinlich und unbedeutend. Wie es weitergeht? Eben immer tiefer in den Vorgang hinein, und zwar mit mir selbst.

Walther: Eine etwas hinterfotzige Frage: Wenn du bewußt Vorgänge zu analysieren versuchst, die dich angerührt haben, ist dann die dazu notwendige Klugheit dem Poetischen nicht abträglich, da ein hochentwickelter Intellekt für alles eine Erklärung finden kann und am Ende nichts offenbleibt? Ist Naivität nicht begehrenswerter?

Braun: Nur die Dummheit hat für alles immer Antworten parat. Naivität dagegen bedeutet, eine Sache aus sich selbst heraus zu sehen. Naivität verlangt Selbstlosigkeit, die das Resultat von Kenntnissen ist.

Walther: Gibt es für dich einen Gegenstand, der nicht zu gestalten wäre?

Braun: Nein. – Aber meist wird das Schreiben hart weil es eine Menge Dinge gibt, deren weiterer Ablauf uns nicht ganz geheuer ist, denen wir uns aus ganz bestimmten Gründen nicht stellen oder nicht stellen können. Die Literatur aber muß sich allen Dingen stellen, sie arbeitet mit einem Vorlauf. Sie nimmt sich ihr Recht aus ihrer Unbestechlichkeit und verlöre es mit ihr. Außerdem sind wir in einer neuen Lage: Wir gehen nicht mehr von außen an die Gesellschaft heran, sondern wir versuchen, immanent zu arbeiten.

Walther: Wo setzt beim Arbeiten die Lust ein, wann wird es leidvoll?

Braun: Das Zeigen einer Sache macht Spaß, solange es die Entdeckung der Sache ist. Also solange ich sie erlebe. Da ich ähnliche Lust auch bei und nach anderen (wenn auch wenigen) Beschäftigungen empfunden habe, möchte ich sagen: Es ist die Lust am Schöpferischen. Wenn einer morgens von einer Frau weggeht, kann das ein ähnliches Gefühl sein.

Walther: Welches sind deine Antriebe zum Schreiben? Hast du beim Schreiben selbst einen Zweck im Sinn?

Braun: Majakowski sprach vom sozialen Auftrag, den er fühlte. Dieses Gefühl habe ich auch, es bestimmt meine Arbeit. Aber einmal an der Arbeit, kann ich nicht viel nach anderen fragen, im Gegenteil, ich kann nur fragen: Ob mir gefällt, was ich schreibe, ob ich es brauche. Ich muß mich zum Maßstab machen; meine Arbeit ist danach, wie ich bin. Sie wird, wie ich werde. Das macht den Stil aus. Es nützt niemandem, lediglich anderen mundgerecht zu schreiben (Kunert sagt: Eine Literatur für streng presbyterianische Handwerksgesellen von Orten unter 30.000 Einwohnern über das presbyterianische Handwerksgesellenproblem ist keine).

Walther: Was hältst du von Preisen, was vom Nachruhm?

Braun: Etwas. Aber nichts von staatlichen Preisen, solange sie heruntergewirtschaftet sind. Nachruhm wird verhältnismäßig unbürokratischer verliehen.

Walther: Gibt es einen erinnerbaren Anlaß zum Schreiben überhaupt?

Braun: Ja. Eine Reise in die Schweiz, 1948, als unterernährtes Kind, durch das Rote Kreuz. Ich bekam, außer Sodbrennen von der Bauernkost, von einem Wilhelm Tell erzählt und einem deutschen Dichter Schiller, der ihn in ein Schauspiel verpackt habe. Zurückgekommen, nahm ich wieder ab, aber fraß mehrere Stücke von Schiller in mich hinein. Und begann ein fünfaktiges Trauerspiel zu schreiben: Das untauglichste Handwerk, um die Brotfrage zu lösen. Auf Klassik war kein Verlaß.

Walther: Hölderlin hat geschrieben: Fürchtet den Dichter nicht, wenn er edel zürnet, sein Buchstab / Tötet, aber es macht Geister lebendig der Geist. Begreifst du dich beim Vortragen deines Anliegens als verschämt Vorschlagender oder als edel Zürnender?

Braun: Ich hoffe, dieser Unterschied bleibt nicht sehr von Belang; die Literatur der praktischen Haltung verlernt diese Trennungen. Ich sage nur, daß ich die schärferen Formulierungen vorziehe.

Walther: Welches ist dein zentrales Thema?

Braun: Die sozialistische Demokratie.

Walther: Welches Werk hältst du für dein gelungenstes und warum?

Braun: Lenins Tod. Weil ich das Stück gespielt sehen will.

Walther: Welche Eigenschaften schätzt du bei Schriftstellern?

Braun: Unbestechlichkeit und Konsequenz.

Walther: Arbeitest du regelmäßig?

Braun: Unregelmäßig. Bei einer Arbeit, die das Durchbrechen von Sehweisen und Schreibweisen erfordert, kann man sich nicht wie ein Beamter an den Schreibtisch nageln. Allerdings, nach der langwierigen Entstehung der Stücke Die Kipper und Hinze und Kunze versuchte ich, die neuen Stücke in vier, fünf Wochen zu schreiben (wobei der vorhergehende Fabelbau zur Hauptarbeit wird): Zum Beispiel Lenins Tod und (nicht ganz) Tinka sind so in einem Guß geraten. Solche Gewaltarbeiten verlangen, daß ich die Stadt unerreichbar verlasse. Aber das grenzt an Wahnsinn, nach den fünf Wochen kommst du als Ruine zurück (das laß aber weg beim Abschreiben).

Walther: Hast du Schwierigkeiten in einem bestimmten Stadium einer Arbeit beim Weiterschreiben?

Braun: Ja, mit der gewissen Unerschöpflichkeit der Fabeln von Stücken, die sich aus dem Wesen der neuen Dramaturgie ergibt, nicht mehr schicksalhafte oder klassenkämpferische, also nicht mehr antagonistische Konflikte darzustellen, für die es nur den einen Ausgang gab, in denen es um Sein oder Nichtsein ging – sondern Kämpfe zu zeigen um ein Mehr an Lebensmöglichkeiten aller. Das macht die Entscheidung für die optimale Fabelführung schwerer. Das ist auch Arbeit nicht nur an dem Stoff, sondern an der Gesellschaft.

Walther: Welche Autoren magst du besonders? Beeinflussen dich diese Vorlieben?

Braun: Ich mag die Autoren, die ihre Epoche in so prägnanten und bedeutenden Stoffen faßten, daß sie uns anregen zum Umstülpen der Stoffe, oder vielmehr: zum Sättigen unserer Stoffe mit ihrer Vorgeschichte, um unsere Epoche sinnfällig darzustellen, als gewordene. Goethe zum Beispiel, der selber ein Umstülper war, und den Negierer und Erneuerer Brecht, der uns zu Negationen der Negation herausfordert, nämlich zu dem, was nach Faust und Johanna der Schlachthöfe fällig ist.

Walther: Wonach beurteilst du die Qualität von Literatur?

Braun: Daß einer seine eigne Angelegenheit auskämpft. Daß er sich selbst und dem Leser nichts vormacht. Daß er sich rückhaltlos selbst ausspricht. Es kommt darauf an, daß Subjektivität objektiv von Belang ist – schlimm ausgedrückt. Mich interessiert also das Dokumentarische (in diesem weiten Sinne). Andererseits die große Erfindung, die Zeitvorgänge plastisch und plausibel macht. Das sind zwei Möglichkeiten: die große Erfindung und die „Authentizität“, Gargantua und Werther (da unterschlage ich sicherlich die übliche Literatur).

in Joachim Walther: Meinetwegen Schmetterlinge. Gespräche mit Schriftstellern. Buchverlag Der Morgen, Berlin, 1973

Brecht

(…)

Da ist es nicht weit hin zu der „mittleren“ Dichter-Generation der DDR, zu diesen bestimmten Haltungs-Erben Brechts. (Für seine bekennenden Bewunderer im Westen von Peter Weiss und Erich Fried bis zum solitären Christoph Meckel, ist es unterschiedliche dichterische Haltung, konnte aber nicht die Brecht-patentierte Lebensform werden, von der hier die Rede ist.) Der weiteste, von Beginn an nicht landsmannschaftlich verstandene Begriff der sächsischen Dichterschule bringt sie alle zusammen. Karl Mickel, vor der Folie des Staatsanspruchs auf nützliche Literatur einerseits und gewöhnlich freiwillige, kritische Teilhabe der Dichter andererseits, Mickel also – vielleicht schon von den 1970er Jahren an ein literarischer innerer Emigrant der DDR wie, trotz deutlich abgesetzter Ästhetik, der Ritter des schwarzen Humors Adolf Endler auch oder, wieder ganz anders, die Betreiberin eines Sprachlabors von kontinentalem Ausmaß Elke Erb –, selbst dieser Karl Mickel, der Hochseilartist und Hohepriester des klassisch orientierten Versbaus, dieser Snob war nie frei von dem Wir einer Gruppe Nachgeborener, die sich kollektiv auf Brecht berief, um auf differenzierte Weise immer bei ihm zu bleiben. Dessen dialektischer Materialismus inkarniert in suggestiver poetischer Sprache, grundierte und beeinflusste ihrer aller Denken noch bis in die letzte ironische, zynische und sarkastische Volte hinein. Der Germanist Peter Geist zitiert in seiner Studie „Die wandlose Werkstatt“ eine Erinnerung Karl Mickels, die nachzeichnet, wie man Anfang der 1960er Jahre, auch und gerade unmittelbar nach dem Mauerbau, im Leipziger Literaturinstitut zusammensaß:

Wir waren sämtlich Anfänger und standen im Begriffe, andere Götter neben Brecht, unserem Jupiter Optimus Maximus, zu etablieren. Ein sonderbarer Geist war uns erschienen… Klopstock!

Nichts kommt so antipodisch daher wie Klopstocks Oden einerseits und Brechts Rhythmen und Reduktionen andererseits. Beider Stil im Vergleich taugt zur Demonstration der Spannweite des deutschen Satzbaus, der Auffassung vom Vers, zu dessen Definition. Ihr Zusammentreffen in der ästhetischen Synthese der Jungdichter der 1960er Jahre war trotzdem kein Zufall. „Jubel und Fluch“ angesichts der Revolution der Franzosen und der zeitgleichen deutschen Misere, wie sie ungebremst in Klopstocks „Sie und nicht wir“ Ausdruck finden, war neben der harten Fügung nach chorlyrischer Manier prädestiniert für die Ausgestaltung des vom „größten und besten Gott“ Brecht vorgelebten Haltungsschadens bei dieser Generation. Das Denken „einesteils andererseits“ (so Sarah Kirsch über Volker Braun in ihrem Gedicht „Reisezehrung“) war etabliert. Der Geist, der im Literaturinstitut „Johannes R. Becher“ über dem Tisch des großen, klassisch gebildeten (und in einem eigenen Klassizismus dichtenden) Lehrers Georg Maurer vor denen schwebte, die in den 1930er bis 1940er Jahren nachgeboren waren, klemmte zwischen Groß und Klein, zwischen Aufbegehren und Zensur, zwischen Weltanspruch und jäh vermauertem Horizont. Implizit auch politische Triebkraft des Kollektivs, das sich hier eher als Gegen-Kollektiv zum staatlich verordneten sah, war kritische Parteilichkeit und parteiliche Kritik bei höchstem Kunstanspruch. So sollte es sein, bleiben, beginnen zu klemmen, immer mehr verklemmen bei den – wie viele der Kollegen Schriftsteller waren es eigentlich? – damals jüngeren Mitgliedern der Einheitspartei.
Volker Braun gehörte zentral zu jener halbernst so genannten, später als solcher in die Literaturgeschichte eingegangenen Dichterschule. 1970 antwortet er prominent auf Klopstock, prominent schon deshalb, weil er dessen „Wir“ von der Untröstlichkeit hinten zum Anspruch vorn verschiebt. Braun wendet den Klopstock’schen Stoßseufzer-Titel um. Er macht den Ausruf, der es nun ist, zum Titel eines ganzen Gedichtbands: Wir und nicht sie. Interessant, wie stolz die neue Betonung das ungenannte Kollektiv daherkommen lässt. Braun verdreht obendrein Klopstocks zentral hymnisches Thema in sein Gegenteil. Der Mann des 18. Jahrhunderts feiert 1790 die Freiheit, wie sie die Franzosen eben errungen haben. Er wählt dazu die Form der Elegie, weil sie Hexameter um Pentameter ein dialektisches Wägen erlaubt, die Widersprüchlichkeit der Gefühle rhythmisch nachformt. Er leidet darunter dass sein Vaterland Deutschland, dass das deutsche Volk Vergleichbares wie den Triumph der Freiheit als geistliche Reformation, aber eben nicht als weltliche Revolution vermocht hat: „Ach du warest es nicht, mein Vaterland, das der Freyheit / Gipfel erstieg“, „sie“ waren es „und nicht wir“. Klopstocks Identifikation mit deutscher Tradition und deutschem Volk, das zu seiner Zeit längst nicht Nation ist, im Zusammenklang mit ungebremster Begeisterung für die Französische Revolution zeugt von der Ambiguität, die in dem folgenden Auf und Ab notorisch für das deutsche Geistesleben ist. Vor allem Heinrich Heine wird sie zu seiner Zeit auf jede Spitze treiben. Selbst der Gedanke, mit dem Klopstock sein Gedicht beendet, dass im jungen nordamerikanischen Staat, dem der Virginia Declaration of Rights, der Menschenrechtserklärung, die der französischen vorausging, immerhin auch Deutsche „leuchten“ – „er tröstete nicht“. Was für ein politischer Dichter ist dieser Klopstock allemal! Auch darin, dass er, 1792 mit demselben Erlass wie Joseph Priestley und George Washington zum französischen Ehrenbürger ernannt, schon im Jahr darauf angesichts des revolutionären Terrors seinen „Irrthum“ bereut und in dem Gedicht unter diesem Titel Ross und Reiter nennt: „die Thäter!“
Womit tröstete sich nun Volker Braun als Bewohner der kleineren, aber sozialistischen Hälfte Deutschlands gegen Ende der Ära Ulbricht (die zu Brechts Zeit begann) angesichts des Zustands der Freiheit?

Eins könnte mich trösten: wir haben das halbe
Land frei für den Frieden.

Das Gedicht, das so anhebt, vermeidet das große Wort zunächst, das Klopstock schon in der ersten Zeile ausschreibt. Erst nach dem Zeilenbruch gibt es ein Rudiment von Freiheit:… „frei für den Frieden“. Was könnte das bedeuten? Mir schwant, dass der verhaltene Ausdruck etwas meint, wovon seine Leser in der Landschaft, in der das Buch (im Mitteldeutschen Verlag) erschien, ein Liedchen singen konnten: Freiheit für Frieden! Oder auch: Frieden statt Freiheit! – in dem Sinne, das eine dem anderen zum Opfer zu bringen. Jeder Kritiker des Regiments an der Westgrenze der DDR, jede und jeder, der nur geringere unbequeme Fragen stellte, wurde umstandslos konfrontiert mit der Frage: Sind Sie nun für den Frieden oder nicht? Die Ultima Ratio, die letzte Erpressung, wenn man in der Amtsstube zu sitzen kam (Polizei, Justiz, Stasi, Rat der Stadt usw.), war in der DDR nach 1968 nicht mehr die Frage nach dem Sozialismus, nach dem Einverständnis mit dem System. Die Gretchenfrage war die nach dem Frieden. Mit ihr wurde – je nach Ernst der persönlichen Lage, je nach dem Charakter der Daumenschrauben, die ansaßen – nicht mehr große Begeisterung eingefordert, kein Glaubensbekenntnis. Der Festgesetzte musste nur Einsicht zeigen und Gehorsam wenigstens heucheln. Jener Einsicht entsprach der DDR-notorische Begriff von Freiheit als Einsicht in die Notwendigkeit, ein verkürztes Zitat, soweit ich mich erinnere, aus Engels’ Dialektik der Natur, wo vom freien Handeln des Menschen die Rede ist, welches auf dem Einsehen, dem Verstehen von Zusammenhängen beruht. Was aber jeder spätestens in der fraglichen Lage „einsah“, war, dass die kurze Wahrheit hinter den langen Lügen lautete: Freiheit oder Sozialismus. Ich weiß, wie das für westlich sozialisierte Ohren klingt – wie eine Wiederholung von Losungen aus dem kältesten Kalten Krieg, aus dem ältesten Hut der „Springerpresse“. Im Osten verbat sich die schlichte Zusammenfassung der Erfahrung am eigenen Leib auf diese Weise. Die Springerpresse war so weit weg wie jede andere demokratische Öffentlichkeit. Auf einen Satz wie diesen, auf die einfache Feststellung dieses „oder“, des nach aller Erfahrung offenkundigen gegenseitigen Ausschlusses stand Gefängnis.
Das Niederwalzen des Prager Frühlings und der damit verbundenen Träume, diesen Widerspruch aufzuheben auf einer Art dritten Wegs lag nicht lange zurück. Der dritte Weg war hier schon etwas geworden, was Volker Brauns Ambitionen als Kommentator des Politischen prägte. Er war damit – für den Zusammenhang der Brecht-Nachfolge gesprochen – in guter Gesellschaft über die Kolleginnen und Kollegen Dichter hinaus. Robert Havemann, Wolf Biermann, auch der Rudolf Bahro der Alternative von 1977, argumentierten beständig genau für etwas, das sich so nennen ließ und lässt. Genau dies war bei unterschiedlicher Radikalität, bei unterschiedlichen Graden der Politisierung und Bereitschaft, das literarische Werk so direkt im plumpen zeitgenössischen Kontext, in der permanenten Reaktion auf die Verhältnisse der geschlossenen Gesellschaft zu verstehen, der wunde Punkt, der Klumpfuß, der Stein am Bein der ostdeutschen kritischen Intelligenzija. Brechts Steilpass gehörte zu diesem Denkspiel, zu diesem „Sprachspiel“ unabdingbar dazu, was die Dichter betraf. Der war in der Luft, und die meisten Köpfe reckten sich die längste Zeit, ihn anzunehmen.
Zurück zu Volker Brauns Gedicht. Es kann sich mit seiner gehobenen Sklavensprache darauf verlassen, dass mit bestimmten Formulierungen jeder Zeitgenosse weiß, was gemeint ist. Es handelt sich dabei nicht um die „harte Fügung“ à la Klopstock, also nichts, was die Syntax an die Grenzen treibt, Sprachlust hervorbringt, was Kondensation des Gedankens und dialektische Scharnierbewegung wäre. Es macht stattdessen eine Andeutung:

wir haben das halbe
Land frei für den Frieden

Zeithistorisch gesehen, kommentiert der Satz das Potsdamer Abkommen den Kalten Krieg, den Status quo. Er sagt, die Teilung Deutschlands sei der Preis für den Frieden. So gelesen, ist er konform mit der zeitgenössischen Propaganda. Wenn er diese Deutung der Situation akzeptiert, tut er das auch mit dem Mauerbau: Um des Friedens willen musste das Bauwerk errichtet werden. Dem ist schwer zu widersprechen. Um die Machtansprüche des Sowjetimperiums auf einen Teil der deutschen Bevölkerung aufrechtzuerhalten – gegen den Strom der davor Fliehenden –, wäre die Alternative zur Einmauerung der Ostdeutschen die Ausdehnung des Imperiums auf ganz Deutschland gewesen. Das hätte Krieg bedeutet, zu der Zeit den größten Krieg.
Brauns Gedicht gibt ansonsten zu erkennen, dass sein Autor nicht zufrieden ist mit dem halben Land. Nichts tröstet ihn angesichts der Teilung der Landschaft, genauer gesagt der deutschen Teilung, welche er, wie vorangeschickt, um jenes Friedens willen zugleich akzeptiert:

der Batzen Rhön, fern neben meiner Schulter
Das ist mein Land, das seh ich

Es ist durchaus beachtenswert, dass hier ein damals schon sehr bekannter DDR-Autor etwas schreibt (wenn auch in seiner Art poetischer Verklausulierung), wofür der westdeutsche Schriftsteller Martin Walser achtzehn Jahre später, kurz vor dem Ende der deutschen Teilung, außerordentlich heftig angegriffen wurde. Es war dessen Rede „über das eigene Land “ von 1988:

Leipzig ist vielleicht momentan nicht unser. Aber Leipzig ist mein.

Eine auffallend negative Karriere durchläuft das „Wir“ im Gedicht vom fulminanten Auftritt in der Überschrift bis zum raschen Verschwinden im ersten Drittel. Die Überschrift lesend, liegt in Kenntnis von Klopstock und durch die herausfordernde Position des Pronomens der Gedanke nahe, hier werde einer behaupten, die Freiheit sei nun bei „uns“, „wir“ hätten eine Revolution aufgeführt und sie errungen. Das „Wir“ des Titels ist und bleibt überaus groß. Für sich genommen, ausgekoppelt als Titel des Gedichtbands, kreiert die Zeile Volker Brauns ein Missverständnis. Zufall? Ein Lapsus? Die anderen, jenseits der deutschen Grenzen, wären nun in der Lage von Zuschauern, so wie vormals Klopstock und seine Landsleute diesseits. So also, wäre mit dem Titel von Brauns Gedichtband anzunehmen, schauten zum Beispiel die Westdeutschen, auf jeden Fall aber die Westeuropäer, die noch im Kapitalismus lebten, über den Zaun, sprich die Mauer, her in das Land der Freiheit, das heute etwas wie die Französische Revolution vollbracht habe. Diese Vermutung zerschlägt sich mit Lektüre des Gedichts. Orthographisch unverändert gibt es nur noch einen zweiten Auftritt des Pronomens: „Jahrhundert des Granatrechts, das wir brachen / Als die Städte brachen“. – Der Leser könnte verstehen, dass Volker Braun, als Kind Zeuge der Bombardierung und des Brands von Dresden, hier behauptet, „wir“ Deutschen oder gar nur „wir“ Ostdeutschen hätten den mörderischen Teil des Jahrhunderts beendet, also mit dem Vernichtungskrieg gebrochen in der Zerstörung der deutschen Städte. Das mag sein. Korrekter wäre vielleicht festzustellen: Die – mit Brauns Neologismus nach Vorbild des Faustrechts – das „Granatrecht“ anwandten, die Deutschen, die der größte Schrecken des Jahrhunderts waren, wurden am Schluss endlich gebrochen. Und basta! Stimmt schon, „wir“ brachen trotz späterer Wiederbewaffnung mit der Option des militärischen Angriffs. Das gilt bis heute und für alle Zeit, soweit das zu sagen ist von lebenden Deutschen einer bestimmten Zeit. Die Formulierung des Gedichts ist jedoch aus Lust am Wortspiel ungenau. Das dritte und letzte Mal tritt das „Wir“ gebeugt auf in Vers 11 von 30:

Denn wer alles auch sagt, uns kümmere nur
Dies halbe, das wir schützen können: ich kenne
Nicht mein und dein vor diesen verletzlichen Ländern.

Die Formulierung lässt die Assoziation zu dem langlebigsten Lied der Pionierorganisation der DDR zu, in dem es 1951 hieß:

Und wir lieben die Heimat, die schöne, und wir schützen sie, weil sie dem Volke gehört, weil sie unserem Volke gehört.

Der kleine Auftritt des Wir in gebeugter Form jedenfalls, „uns kümmere nur“, er ist der heikelste. Das Titel-Wir ist das größte, in Antithese zu Klopstock eindeutig auf „die Deutschen“ bezogen, die von der damaligen historischen Aktualität in die des heutigen Gedichts geholt werden. Der Gebrauch im ersten Vers changiert noch etwas. Durch das Aufrufen des halben Landes könnte es sich hier wieder um „die Deutschen“ handeln, die auf ihr Land und dessen ungenannte Hälfte schauen, die das Gedicht „frei“ nennt. Andererseits könnten hier aber auch eingeschränkt nur die Bewohner jener freien Hälfte sprechen. Beim Weiterlesen ergibt sich, dass diese Lesart gelten soll. Es handelt sich bei dem halben Land um dasjenige, „das seine Zeitungen loben und die Sprecher / Des Volks, mein Land“. Der Autor legt den Ort, das Wir und sich selbst fest. Das Bekenntnis zieht Folgen nach sich. Über „uns“ sagen alle möglichen etwas, nämlich, wir kümmerten uns nur um das halbe Land, „das wir schützen können“. Immer wieder lässt dieses wie andere Gedichte Brauns sich auf die politische, vor allem ideologische Tagessprache seiner Umgebung ein. Das ist einer der Gründe, warum die Gedichte veralten. Klopstocks Verse verstehen sich selbst in einer ganz bestimmten historischen Situation. Doch schlagen sie von antiker Unterwelt-Metapher für den Krieg über die Deutschen im Amerika der Unabhängigkeitskriege bis dahin, dass die Freiheit sich „von dem Staube des Bürgers“ erhob, einen gewaltigen Bogen. Es steigt von dieser Höhe nirgendwo ab. Keine Andeutungen, wie sie Brauns Gedicht aus den Niederungen deutsch-deutscher Selbst- und Gegendarstellungen bezieht. Den letzten Auftritt eines Mehrzahlpronomens gibt es dann noch, nachdem die Leser viel von dem Ich in Brauns Gedicht erfahren haben, von seiner Herkunft etwa, der „Quadratmeile See“ einerseits, die wohl mit dem Krieg zu tun hat, und der Rhön andererseits, wo in beidem etwas ist, das er „schichtweis“ befliegen kann, das heißt, wovon er reden kann als von Bestandteilen seiner Identität. Das dem Autor nahe Subjekt des Gedichts hat sich hier schon vom Kollektiv entfernt. Es ist solo unterwegs in gewissen Kreisen, wo der Frieden, von dem anfangs die Rede war, offenbar unschönen Worten ausgesetzt ist:

ich faste auf Festen, die mit Worten
Den Ruhm des Friedens mästen: es ist da um mich
Klein und lebendig, ich bin dort wie ihr.

Was ist da „um mich“? Der Teil des Landes, von dem vorher die Rede war, was sonst? Das Subjekt, der redende, schreibende Autor lässt sich in leicht arroganter Manier, als irgendwie von außen Dazustoßender herbei zu den anderen, denen es schließlich genauso geht wie ihm in dem halben Land in der DDR. Er sieht sich, in der Welt, in der Worte den Frieden mästen, als Teilnehmer an einer Art Orgie. Er bekennt sich dazu, Hedonist des Friedens zu sein, preist ihn hoch, hat die Freiheit, die Klopstock meinte, ganz aus den Augen verloren, so klein und lebendig, wie er hier ist, gemein mit den Gemeinen: „wie ihr.“

*

Warum befasse ich mich mit einem Gedicht von Volker Braun, das vor 45 Jahren in einem längst verflossenen Staat unter heute historischen und fast nicht mehr nachvollziehbaren Umständen veröffentlicht wurde? Dass der Autor sich ausdrücklich in Brecht-Nachfolge versteht und auch damit weltweit akademisch kanonisiert ist, daran liegt es nicht. Volker Braun kann allerdings wie sein Meister Brecht etwas herstellen, das der musikalische Laie einen „Ohrwurm“ nennt. Bei dieser wie bei anderen seiner „antwortenden“ Findungen handelt es sich um einen solchen. Die Titel seiner Bücher und einzelner Gedichte wurden es immer wieder: Provokation für mich oder Gegen die symmetrische Welt oder Training des aufrechten Gangs. Gerade aus dem Missverständnis heraus das die obige Analyse aufklärte, ging mir der Titel des Bandes von 1970 nach. Ich las auf diesem Buch von Volker Braun: WIR, und nicht sie. Ich las das „Wir“ in Versalien und hörte den Anspruch des Lyrikers, für viele zu sprechen, nach dem Vorbild Klopstocks unmissverständlich sogar für das deutsche Volk, seinen in der DDR lebenden Teil selbstverständlich. Zu Ulbrichts Zeiten, also noch in den Jahren, in denen Braun das Gedicht schrieb (spätestens 1968), handelte es sich um den Teil eines Ganzen. Letzteres hörte erst mit der Umdeutung zum Staatsvolk der DDR auf, also mit der Verfassung von 1968. Zur Staatsgründung hatte Artikel 1 noch betont:

Es gibt nur eine deutsche Staatsangehörigkeit.

Brauns Titel provozierte, Klopstocks Klage im Kopf, den Gedanken: Hier, sprich „bei uns“, hat die Revolution stattgefunden. Es war eine Provokation, die damals bei mir ankam.
Hier hatte doch überhaupt keine Revolution stattgefunden. Da lachten ja die Hühner, über jene antifaschistisch-demokratische Phase und den Übergang (Braun liebte, brauchte, benutzte dieses Wort wie viele andere in dem Loop seiner Wendungen) zum Aufbau der sozialistischen Gesellschaft und schließlich die Gestaltung der entwickelten usw. Der Stalinismus konnte leicht exportiert werden, gepfropft auf totalitäre Gewohnheiten in den mit Persil, pardon: mit Gemol gewaschenen NS-Köpfen. Besitz-, Verteilungs- und Machtverhältnisse waren vergleichsweise leicht zu ändern und anders zu gestalten in einem besetzten Gebiet. Es handelte sich, wie so oft bei Volker Braun, um Kopf-Fragen, um weltanschauliche, um abstrakte Diskussionen mit sich und dem Kreis derjenigen, denen die Jacke passte, in der sie sagten: Wir. Ihre Sinnlichkeit bestand höchstens im Aufeinanderprallen von Einerseits und Andererseits, von hochfahrender Theorie und kleinwüchsiger bis schäbiger Realität. Formuliert wurde das in Brauns Diktion als Widerspruch des eigenen Anspruchs und seiner realen Möglichkeiten zur Umsetzung:

Jeder Schritt, den ich noch tu,
reißt mich auf.

Schrieb’s – und blieb gut beieinander, war nicht aufgerissen, war heil in seiner Rhetorik. Anspruch als Aperçu, So etwas kann ich sagen, das kann ich schreiend behaupten, das kann ich einer Bühnenfigur in den aufgerissenen Mund legen. So what? Brauns Gestus des Aufbegehrens verhallt genau wie jener des nach dem Aufstand vom 17. Juni intern sehr forschen, sehr fordernden Meisters Brecht. In den Buckower Elegien ballte er die Faust. Doch die Gedichte, in denen der Zorn fordernd wurde, nach Alternative rief, las erst die Nachwelt. Auch, wie der Besserwisser die Skrupel formulierte:

Heute nacht im Traum sah ich Finger, auf mich deutend
Wie auf einen Aussätzigen. Sie waren zerarbeitet und
Sie waren gebrochen.
Unwissende! Schrie ich
Schuldbewußt.

So ging es ja auch jenem berühmten Zettel von Lenins Hand auf dem er Stalin und Trotzki als mögliche Nachfolger gegeneinander abwägt und vor Stalins charakterlichen Schwächen warnt. Überlassen wurde auch der einer Zeit und Zeitgenossen, die nur mehr historisches Interesse daran haben konnten.
Mit Brauns Paraphrase auf Brecht unter dem Titel „Fragen eines regierenden Arbeiters“ verlässt er sich wiederum auf einen Ohrwurm und erneuert ihn. Nicht anders verfuhr Hanns Eisler mit der Melodie der Nationalhymne der DDR. Er verließ sich auf die Vertrautheit des Yankee Doodle und von „Good Bye Johnny“. Hieß Brauns Text nicht bei Erstveröffentlichung noch „Fragen eines Arbeiters während der Revolution“? Schwamm drüber! Er kämpfte regelmäßig und, recht formuliert, heldenhaft mit der Zensur. Sarah Kirsch hat das wie gesagt in ihrem freundlich-ironischen Freundes-Gedicht „Reisezehrung“ erinnerungs-lächelnd auf den Punkt gebracht:

Braun
Dachte einesteils andrerseits und erwog den Gedanken
Sein Schauspiel zum siebten Mal zu verändern

So wird es gewesen sein. Brauns „Fragen“ nehmen das genial einfache Ende von Brechts Gedicht auf, den zweizeiligen Seufzer:

So viele Berichte. So viele Fragen.

Braun variiert:

So viele Berichte. So wenig Fragen.

Zur Zeit des Gedichts ist in dem Staat, in dem der Dichter es schreibt, fast nur noch die Rede von den Arbeitern und Köchen, nach denen Brecht dreißig Jahre vorher mit gewissem Recht noch fragt. Dessen poetisch-soziale, eigentlich pädagogische Forderung ist nun erfüllt. Sie war es schon zu seinen Lebzeiten zur Genüge. Spätestens im Geschichtsunterricht in der DDR ist nur noch die Rede von Sklaven, Arbeitern und Bauern, angelegentlich noch von ausgewählten, als fortschrittlich oder humanistisch apostrophierten Wissenschaftlern, Philosophen, Dichtern und Künstlern wie Demokrit, Galilei, Dürer, Beethoven, Goethe, Einstein, Brecht, Pablo Neruda. Die Namen der Feldherren, Königinnen und Kaiser von Alexander dem Großen und Julius Cäsar über Elisabeth I. von England und Philipp II. von Spanien, vom bourbonischen Ludwig XIV. bis zur Habsburgerin Maria Theresia, vom Preußen Friedrich II. bis zum sich selbst krönenden General Napoleon Bonaparte werden zwar erwähnt. Doch gehen sie unter in der Begrifflichkeit des historischen Materialismus. Da dominieren Schablonen: Urgesellschaft, Sklavenhalterepoche, Feudalismus, schließlich der Kapitalismus und dessen letztes, verfaulendes, stinkendes, absterbendes Stadium, der Imperialismus. Die Rede ist nur noch und beinahe ausschließlich von der Unterdrückung und dem Aufbegehren derjenigen, die alle Werte schufen und schaffen, alles, was Geltung hat, von den Pyramiden bis zum Eiffelturm, von der Großen Mauer in China (die Brecht und erst recht seine DDR-Nachfolger sehr interessierte) bis zum Stahlkochen und zur Autoherstellung am Fließband. Auch werden sie, von Brecht und dessen russischen und chinesischen Helden- und Heldinnen-Entlehnungen herkommend, insbesondere aus dem DDR-Theater nie wieder verschwinden. Brecht und seine Nachfolger verlangen obendrein ab sofort als Publikum von ihnen, nicht mehr „romantisch“ zu „glotzen“, sich nicht mit irgendwelchen Helden zu identifizieren, sondern das Nachdenken über die Verbesserung der menschlichen Verhältnisse, der Produktion und des Staats, wie es auf der Bühne vorgeführt wird, zu genießen. Bekanntlich wurde daraus nichts. Selten erfüllte das Theater in der Geschichte seinen Zweck wie „Die Mausefalle“ im Hamlet, obwohl es sicher oft auch so eingesetzt wurde. Selten war es die „moralische Anstalt“, wie Schiller sie zweihundert Jahre vor Brecht entwarf (und dem Brecht nichts Wesentliches hinzufügte außer gewissen Spiel-, Inszenierungs- und Bühnentechniken). Obwohl seine Macher neben der Unterhaltung des Publikums immer auch Absichten verfolgten. Selten ging es so zu wie in dem Film Leuchte mein Stern, leuchte des sowjetischen Regisseurs Alexander Mitta von 1969, dessen Held (ein Theatermacher im Bürgerkrieg der 1920er Jahre) auf plattem Lande von seinem Thespiskarren ruft:

Genossen Bauern, wir spielen revolutionäres Theater. Wir spielen – Shakespeare!

Der setzte wohl auf die gute alte Katharsis. Die hat Brecht zwar seine Theatertage lang und breit bekämpft. Ohne sie aber bliebe eben nur der Zweck übrig von der Kunst, sie entbehrte des Sinns. Sein Galilei, seine Mutter Courage, sein Kreidekreis und auch Der gute Mensch von Sezuan wirken, horribile dictu, immer wieder kathartisch. Von vielen Gedichten ganz zu schweigen, bei denen Einsicht und Einfühlung untrennbar sind, die Einsicht zugleich mit dem Gefühl im Verstand ankommt, sagen wir besser: wo das Erleben von Kunst zur Erfahrung wird. Nur so kann es von Bedeutung sein für das spätere Handeln.
Volker Brauns Antwort- oder Fortsetzungs-Gedicht beginnt damit, dass Fragen wie zu Brechts Zeiten kaum mehr gestellt werden. „Zu wenig“ davon heißt, es sollten oder könnten mehr Fragen sein. Drauf Zeile 3: „Die Zeitungen melden unsere Macht.“ Der Arbeiter des Gedichts spricht in dem Modus, den der Arbeiter als Modell des Genossen Volker Braun anzunehmen hat.
Ein Mann derselben Generation mit der allerdings lebensprägenden Erfahrung des Arbeiters, Wolfgang Hilbig, ging in einem zeitnah, 1969, geschriebenen Gedicht von einem anderen Wir aus:

keiner bemerkt wie schwarz wir angefüllt sind

nein wir werden nicht vermißt
wir haben stark zerbrochne hände steife nacken –
das ist der stolz der zerstörten

Sein vielleicht berühmtestes Gedicht, in dem diese Zeilen stehen, heißt wie sein erster Gedichtband, der 1979 nur in Westdeutschland erscheinen konnte, abwesenheit. Es ist die Abwesenheit der Arbeiterklasse im Arbeiterstaat. Hilbig entschied sich übrigens mit wenigen Ausnahmen für konsequente Kleinschreibung im Gedicht. Beeinflusst von Hans Magnus Enzensberger, schloss er damit indirekt an Brechts Produktionsästhetik an. Hilbigs Poesie gehört jedoch, wo sie eigenständig ist, dem Zweig der Moderne an, der sich weder dem Mythos verweigern wollte noch einer Ideologie aufsaß.
„Wieviele von uns“, fängt der stärkste Satz von Brauns Gedicht an und fährt fort:

Halten noch immer den Mund versteckt
Wie ein Schamteil?

Das Rollengedicht legt dem Arbeiter in den Mund, er wisse, dass Arbeiter zuvor nichts zu melden hatten, dies aber nun tun könnten. „Die Sender funken der Welt unsern Kurs“, lässt es ihn sagen. Wessen Kurs genau? Den des Staatsschiffs DDR? Ich muss diese lange Betrachtung darauf hinauslaufen lassen, wo Volker Braun das Schiff seines Gedichts endgültig versenkt.

Auf den Thronen sitzen
Unsre Leute: fragt ihr uns
Oft genug? Warum
Reden wir nicht immer.

Was für ein Mut, Throne zu erwähnen, auf denen Funktionäre sitzen. Aber „unsre Leute“ sind es nur für den Autor und seine Klientel, nicht Arbeiter, sondern Parteisekretäre, die irgendwie ganz gewiss zu der Zeit dergleichen meinten. Sie waren ja am Aufbau des Himmelreichs auf Erden beteiligt. Sie wollten ja etwas. Sie stellten die Fragen des „regierenden Arbeiters“ in seinem Namen wie der Dichter. Guten Glaubens, nehme ich an. Wollten sie doch das andere zum Kapitalismus jenseits der Grenzen bauen, schützen, ausgestalten. Die Dichter wähnten sich Wegbereiter der klassenlosen Gesellschaft, immer, wenn sie zur privilegierten Feder griffen. Sie waren große Pädagogen, nicht etwa vor den darauf nicht wartenden Arbeitern, sondern vor den Funktionären, die über ihnen thronten. Volker Brauns Wir begrüßt emphatisch den Aufbruch in eine bessere Welt nach dem 13. August 1961. Entgegen allen vorherigen Abstufungen der Zerknirschung, erst mit dem 9. November 1989 begreift dasselbe Kollektiv sein Scheitern ganz. Was bleibt, ist dieses Wir der Gemeinschaft als Phantomschmerz.
Erst heißt es ironisch, aber selbstverständlich unter dem Titel „Provokation für mich“: „Genossen, ausdauernd / Preisen wir das Positive“ und über die Arbeiterfiguren auf der anderen Seite:

Sie preisen den Plan, indem sie ihn ändern.
Wir aber rühmen nur…
Uns nenn ich noch: negative Dichter.

Das Dichter-Wir strebt zum Arbeiter- und Genossen-Wir! Später der Wunsch eines Mannes der Klassiker, anspielend auf das Ende des blinden Faust und den Stoßseufzer aus Hölderlins Hyperion:

Sähe ich Brüder und keine Lemuren.

Und dann, zum Scheitern, zum Abbruch des sozialistischen Experiments an lebenden Menschen auf deutschem Boden, da heißt es beim Dichter:

Wann sag ich wieder mein und meine alle.

Volker Braun meint das ernst. Er strebt nach der Fortsetzung der Gemeinschaft in einer Art Schiller’scher Dauerbegeisterung angesichts der ächzenden Statik von vierzig Jahren grauen und grauenhaften Staatswesens. Wohin soll es denn da noch einmal und schon wieder gehen? Sein Seufzer ist gleichauf mit dem, was aus den Kreisen der DDR-Bürgerrechtler, die sich später „Bündnis 90“ nannten, unmittelbar nach dem Mauerfall verlautete: dass es zu früh wäre. Das falsche Signal. Dass es eines unabhängigen Staats bedürfte. Dass man doch etwas vorhabe, besser als Kapitalismus, sprich anders als die weiter verachtete bürgerliche Demokratie. Zeigt mir was Besseres, meint auch Volker Braun weiter und weiter. Dass er damit nicht allein steht, dazu siehe damals sowieso, aber genau genommen bis heute den so ganz anderen Brecht-Verehrer Wolf Biermann.
Braun, auf seinen Wir-Begriff angesprochen auf einer der Autorentagungen der Bertelsmann-Stiftung, die Anfang der 90er Jahre auf der Insel Hiddensee stattfanden gerät ins Stottern. Er verneint. Er habe nicht „Wir“ gesagt, als er von dem Versagen, von dem Scheitern der linken Elite sprach, die den anderen Sozialismus wollte, den wahrhaften und offenen, den echten der Klassiker des Marxismus-Leninismus plus Rosa Luxemburg plus Trotzki plus Che Guevara, der nur verwässert worden sei (oder was auch immer!) durch Stalin, Ulbricht, Breschnew, er habe nicht „Wir“ gesagt, nicht von den echten Revolutionären unter den Mitgliedern der Einheitspartei gesprochen, die schließlich immer das andere gewollt hatten und den Mund aufgerissen wie er, Volker Braun, selbst. Er hatte nicht gemeint, „wir“ glaubten weiter an die Möglichkeit des Sozialismus auf deutschem Boden, nun eben auf gesamtdeutschem ab 1990, 1991. Er wollte nicht Positionen einnehmen mit seinem „Wir“, die geteilt wurden und werden von den am wenigsten demokratischen Kräften innerhalb der Partei SED oder PDS oder Die Linke? Jedenfalls fuhr Volker Braun auf dem Podium fort, im Wir-Modus zu reden, nachdem er Minuten zuvor irritiert behauptet hatte, er benutzte das Mehrzahlpronomen nicht. Wasch mich, aber mach mich nicht nass! Der vielfach in Abstrakta des Einerseits und Andererseits, zwischen Hinze und Kunze schlingernde, immerzu „Verhältnisse zerbrechende“, immer „an den Beginn zurück“ gehende, ob mit Lenin, Che Guevara, mit Vater Brecht oder Arm in Arm mit seinem Gesprächspartner, dem Exzensor oder was immer der ist, den er im gleichnamigen Buch den Wendehals nennt, diesen Sparringspartner immer neuer Anläufe, der Welt Verbesserung anzutragen, statt noch ein paar Gedichte zu schreiben, die nicht nur aus Behauptungen bestehen. Essenz des letztgenannten Werks, in den Mund der titelgebenden Figur gelegt, ist immerhin ein Satz mit Widerhaken. Da heißt es, forsch sich und jeden entlastend:

Opportunismus ist ein Menschenrecht.

Was für ein hübsches Spiel mit den Begriffen, selbstverständlich eine Provokation, ironisch in den deutsch-deutschen Gesprächsraum der 1990er Jahre gesetzt.
Fest steht, Anpassung ist menschlich, biologisch wie sozial notwendig. Sie bedeutet Überleben und Erfolg des Einzelnen und der Art. Opportunismus ist zum Ersten und Größten ein Begriff der Biologie. Dem folgt der soziale nach. So fundamental und allgemein, wie er ist, bedarf er des Dachs der Menschenrechte nicht. Die und ihre spätere Definition und Codierung stehen für einen Prozess in der Sozial- und Rechtsgeschichte, der in der Frühzeit begann, in der Antike mit den ersten echten Rechtssystemen Kontur bekam, im Europa des 16. bis 18. Jahrhunderts durch die bürgerliche Revolution in England, die europäische Aufklärung, insbesondere durch Jean-Jacques Rousseaus Konzept der Freiheit gleich geborener Menschen, durch die amerikanische Unabhängigkeitserklärung und schließlich die Deklaration der Menschenrechte in der Französischen Revolution, zu einem einigermaßen umrissenen Standard formuliert wurde. Seitdem sind „die Menschenrechte“ etwas, auf das sich beruft, wer Unfreiheit erfährt oder davon bedroht ist oder sich für andere, für Mitmenschen einsetzt. Als eine Art Erbpacht von Kriegsherren seit Napoleons Zeiten geraten sie seither allerdings auch immer wieder selbst unter Beschuss. Und dem Ernst, der Inanspruchnahme und Verteidigung ihres ohnehin variablen Kanons stand schon immer der Popanz von Übertragung, Verballhornung, Überdehnung gegenüber.
Dreißig Jahre vor Brauns Zusammenfassung des Verhaltens der Mehrheit im Sozialismus lautete Biermanns Ratschlag schon:

Die allzu hart sind, brechen.

Der meinte auch, das Beste gegen Sozialismus wäre, dass man ihn aufbaut. Das war Dialektik Brecht’scher Provenienz, doch mehr als zum guten Spruch taugte sie nicht. Der Sozialismus baute breite Straßen für Paraden, Repräsentationsgebäude, Gefängnisse und schwer überwindbare Grenzen, auf denen das Wort „Internationalismus“ prangte. Er verwaltete die Einwohner seines Territoriums so umfassend, dass die meisten individuellen Rechte dabei gestört hätten. In den Wäldern auf dem Kamm des Erzgebirges verkrüppelten die Bäume. Flüsse wie Saale, Mulde, Pleiße waren an den Unterläufen biologisch tot und stanken zum Himmel. Im Kontext des Zusammenspiels von Macht und Intelligenzija muss ich nicht erklären, dass es einen Alltag auch hier wie überall und unter allen Bedingungen gab. In Kinos liefen Filme, ja. Es gab Makrelen in der Büchse zu kaufen, ja. Die Kneipen schenkten billiges Bier aus, ich weiß. Dass es den Deputatschnaps fast geschenkt gab, interessierte die Bergleute in Sachsen, Thüringen und in der Niederlausitz mehr als das, was in der Parteipresse stand. Das Umschreiben der Verhältnisse zum speziellen Idyll im Halbschatten der Mauer begann unmittelbar nach deren Ende. Ich gehöre zu denen, die das für gefährlich halten.
Der deutsche Staatssozialismus war von Beginn an eine Veranstaltung zum bloßen Zwecke des Machterhalts der Parteielite. Die seit der Illegalität und den Stalin’schen Säuberungen nicht einmal sich selbst trauende Männerclique mit wenigen hard-boiled Frauen darunter bedurfte der Dichter. Mit ihren dialektischen, scheinbar ohnmächtigen, doch das Ganze hochhaltenden und auffrischenden Stichworten stellten sie den verlorenen Sinn immer wieder her.
Das schwarze Loch, das am Werderschen Markt in Ostberlin, dem Sitz des Zentralkomitees der Einheitspartei, hockte, zog jeden Strahl dieser Lichtbringer begierig auf sich. Kulturpolitische Entscheidungen wurden hier oft zu geheimen Staatsaktionen. Beide Seiten, Machtzentrum und Intelligenzija, waren extrem selbstreferentiell, daneben aber eng aufeinander bezogen. Es funktionierte als sozialistischer Musenhof:

Wenn der Eiserne sie prügelt
Singen die Musen lauter.

Dass auch Prosa, Film, bildende Kunst, Fotografie und vieles andere mehr zu dem kulturellen Feudalismus gehörten, versteht sich von selbst. Nicht nur die Dichtung folgte Brecht, den von ihm und seinen Zeitgenossen geprägten ästhetischen Standards und seiner Haltung vor dem Thron.
Unter dem Titel „Zu Brecht, Die Wahrheit einigt“ hieß es bei Volker Braun schon 1979 in einem Sonett, Brecht wurde „Klassiker und ist begraben“. Die Anspielung des Titels gilt einer der erst postum veröffentlichten Buckower Elegien, einer, die erneut Lenin hochleben lässt: „So wie Lenin: Morgenabend / Sind wir verloren, wenn nicht…“ „Freunde, ein kräftiges Eingeständnis / Und ein kräftiges WENN NICHT!“ So eine der Reaktionen Brechts auf den Aufstand vom 17. Juni 1953, der dieses Gedicht zwar nicht veröffentlichte, aber angeblich an Otto Grotewohl schickte, der solle es im Politbüro der SED vorlesen. Brauns Gedicht kommentiert:

Das war sein Vorschlag blickend auf das Grab.
So was ist noch auf dem Papier zu haben.
Wir haben ihn nicht angenommen, nur
Gewisse Termini und die Frisur.

Das ist hübsch, das passt mir zu den eigenen Kommentaren, gehört zur Sparte Ironie der Nachgeborenen. Doch hier bitte ich, auf eine Kleinigkeit zu achten: Wir hätten ihn nicht angenommen, heißt es von dem Vorschlag. Wer wären denn diese, wer wäre – erneut dem nachgefragt – dieses Wir? Brecht spricht „Freunde“ an. Gemeint ist die Einheitspartei, die Führung des Staats, diejenigen, die das Ruder aus seiner Sicht herumreißen könnten. Wenn sie nur auf ihn, auf den Dichter Brecht hören würden, das hieße, durch ihn auf die Prinzipien des Lenin’schen Parteilebens. Volker Braun schließt sich in jenes Wir Brechts selbstverständlich ein. Er sagt: Wir Genossen Nachgeborenen, mitverantwortlich für die Geschicke des sozialistischen Staats wie Brecht zu seiner Zeit, auch wir haben diesen wie andere seiner Vorschläge nicht angenommen.
„KRIEG DEN HÜTTEN FRIEDE DEN PALÄSTEN“, dreht Braun später die Botschaft des Hessischen Landboten um. So schaut er in die Welt aus nach dem Fall des Eisernen Vorhangs. Von welcher Welt spricht, welche sieht er? Auf das Ende des 20. Jahrhunderts schaut er mit der revolutionären Maske des 19. Jahrhunderts. Das ist ein Verfahren des Bertolt Brecht. Die Maske passt aber nicht das Reden wird undeutlich durch sie. Und wo Braun zum Ende des Staats, den er „mein Land“ nennt, noch behauptet: „Ich selber habe ihm den Tritt versetzt“, da überhebt er sich. Junge, qualifizierte und frustrierte Arbeiterinnen und Arbeiter schnappten ihre Kinder, fuhren nach Prag und kletterten über den Zaun der westdeutschen Botschaft. Oder sie fuhren durch Ungarn Richtung Neusiedler See und fanden den Weg über die grüne Grenze. Oder sie gingen montags auf die Leipziger Ringstraße und riefen, sie wären das Volk. Sie rüttelten am Abend des 9. November 1989 auf der Bornholmer Straße in Berlin am Tor des Grenzübergangs, bis es aufging. Wenn, dann waren es deren Tritte. Die Dichter rühmten zur gleichen Zeit vielleicht wie so oft nur sich selber.

(…)

Uwe Kolbe, aus Uwe Kolbe: Brecht, S. Fischer Verlag, 2016

 

GEDICHT NACH BRECHT UND BRAUN

Die Wahrheit
Brüder, ihr fürchtet um sie
daß ihr sie hinter den Lippen verschließt
ihr sorgt euch
sie könne verzweifelt machen
den, den sie trifft unverhofft
ihr sagt
sie könne manchmal verwirren
mag sein, aber seht ihr denn nicht
daß da, wo sie fehlt
auf den Straßen, den Plätzen
sich anderes breitmacht
Gerüchte und Lügen
die Leute ausfüllen den freien Raum
und maßen mutlos
voll Mut die Besten
wo die Wahrheit nicht spricht
Brüder, Freunde
da schweigt sie.

Gerd Adloff

 

VOLKER BRAUN

vorwärts ist vergessen
das ist kein holz
mehr im kamin
rotkopf ward
gefressen
die jäger
sind befreit
wolf schmatzt
von zeit zu zeit
die revolutionären
kinder die braven
schlafen
unterdessen

Peter Wawerzinek

 

In der Reihe Klassiker der Gegenwartslyrik sprach Volker Braun am 9.12.2013 in der Literaturwerkstatt Berlin mit Thomas Rosenlöcher.

Welche Poeme haben das Leben und Schreiben von Karl Mickel und Volker Braun in der DDR und Michael Krüger in der BRD geprägt? Darüber diskutierten die drei Lyriker und Essayisten 1993.

 

Zum 80. Geburtstag des Autors:

Katrin Hillgruber: Der ewige Dialektiker
Der Tagesspiegel, 5.5.2019

Rainer Kasselt: Ein kritischer Geist aus Dresden
Sächsische Zeitung, 7.5.2019

Hans-Dieter Schütt: Die Wunde die bleibt
neues deutschland, 6.5.2019

Cornelia Geißler: „Der Osten war für den Westen offen“
Frankfurter Rundschau, 6.5.2019

Helmut Böttiger: Harte Fügung
Süddeutsche Zeitung, 6.5.2019

Erik Zielke: Immer noch Vorläufiges
junge Welt, 7.5.2019

Ulf Heise: Volker Braun – Inspiriert von der Widersprüchlichkeit der Welt
mdr.de, 7.5.2019

Oliver Kranz: Der Schriftsteller Volker Braun wird 80
ndr.de, 7.5.2019

Andreas Berger: Interview zum 80. Geburtstag des Dresdner Schriftstellers Volker Braun
mdr.de, 7.5.2019

 

 

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shi 詩 yan 言 kou 口

 

Bild von Juliane Duda mit den Übermalungen von C.M.P. Schleime und den Texten von Andreas Koziol aus seinem Bestiarium Literaricum. Hier „Der Volkerbraun“.

 

Bild von Juliane Duda mit den Zeichnungen von Klaus Ensikat und den Texten von Fritz J. Raddatz aus seinem Bestiarium der deutschen Literatur. Hier „Braun, der“.

 

Beitragsbild von Juliane Duda zu Richard Pietraß: Dichterleben – Volker Braun

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