Wallace Stevens: Menschen, aus Worten gemacht

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Wallace Stevens: Menschen, aus Worten gemacht

Stevens/Zickelbein-Menschen, aus Worten gemacht

DER PLANET AUF DEM TISCH

Ariel war froh, daß er seine Gedichte geschrieben
aaaaahatte.
Sie handelten von erinnerter Zeit
Oder von Dingen, die er gesehen und gemocht hatte.

Anderes, was die Sonne geschaffen hatte,
Waren Wüste und Wirrnis
Und der reife, verdorrte Busch.

Sein Ich und die Sonne waren eins,
Und seine Gedichte, wenngleich er sie selbst gemacht hatte,
Waren nicht weniger von der Sonne gemacht.

Es war nicht wichtig, daß sie überlebten.
Worauf es ankam, war, daß sie,
In der Armut ihrer Worte

Einiges von der Struktur oder vom Wesen,
Einiges vom Reichtum, wenn auch nur halb gefaßt,
Des Planeten zeigten, von dem sie Teile waren.

 

 

 

Nachwort

„Das Leben Stevens“, heißt es in einer amerikanischen Literaturgeschichte, „liefert ein krasses Beispiel für die Isolation des amerikanischen Künstlers.“ Bündiger lassen sich wohl kaum Person und Werk dieses Dichters umreißen. Die Sonderstellung, die er in dieser Hinsicht unter den Lyrikern der USA in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts einnimmt, stellt ihn aber nicht in Gegensatz zu ihnen; sie ist vielmehr eine Art letzte Konsequenz der Grunderfahrung, die er mit Dichtern wie Robert Frost, William Carlos Williams, Ezra Pound, E.E. Cummings und Robert Lowell – um nur die bekanntesten und uns geläufigsten Namen zu nennen – gemein hat, die Grunderfahrung, daß die Gesellschaft, in die er hineingeboren wurde, nicht in Ordnung ist und daß der Dichter als kritischer Betrachter und Anwalt des Lebens in der spätbürgerlichen Gesellschaft zwar vielleicht auf Zustimmung stößt, doch bei aller Resonanz nichts wirklich zu bewirken vermag. Die äußeren biographischen Fakten, die uns von Stevens das Bild eines erfolgreichen Versicherungsfachmannes vermitteln, könnten eher darüber hinwegtäuschen.
Geboren am 2. Oktober 1879 in Reading, Pennsylvania, als Sohn eines Rechtsanwalts und einer von holländischen Einwanderern abstammenden Mutter, studiert Stevens zunächst an der Harvard Universität, geht anschließend nach New York, wo er vorübergehend für eine Zeitung arbeitet, – besucht die New York Law School, wird Mitarbeiter eines Anwaltsbüros und erhält zwei Jahre darauf die Zulassung als Anwalt. Kurz vor seinem dreißigsten Geburtstag heiratet er. 1916 erfolgt der Umzug nach Hartford, Connecticut, dem Zentrum des amerikanischen Versicherungswesens. Bei der Hartford Accident & Indemnity Company steigt er bis zum Vizepräsidenten auf. Diese Stellung bekleidet er von 1934 an bis zu seinem Tod am 2. August 1955. Reisen führen ihn – vornehmlich in der ersten Lebenshälfte – nach Florida. Den in jungen Jahren gefaßten Plan, für einige Zeit nach Paris zu gehen, hat er nie realisiert.
Hinter dieser vita verbirgt sich jedoch das Doppelleben eines Mannes, der einmal gesagt hat: „Ich habe kein Leben außer in Dichtung. Das wäre wahr, wenn mein ganzes Leben frei wäre für Dichtung.“ Eine nüchterne Feststellung, die eine Rangordnung enthält, in der Bedauern mitzuschwingen scheint, und die wie eine Einsicht in eine Notwendigkeit formuliert ist. Das eine, das eigentliche Leben, das sich im Bereich der Reflektion vollzieht und ein umfangreiches dichterisches Werk (und einen wohl noch umfangreicheren Briefwechsel) zur Folge hat, steht neben dem alltäglichen Leben, dem Beruf, ohne die materiellen Dinge des Alltags, der Arbeit direkt zur Sprache zu bringen. Doch von beiden Leben ist die Rede, wenn Stevens immer wieder von seinen Versuchen spricht, die Einsamkeit zu überwinden, und wenn er die Welt nach haltverleihenden Gewißheiten befragt. Seine Doppelexistenz selbst ist ein ständiger Versuch, sich eines Lebenssinns zu vergewissern. Obwohl die Gedichte alles enthalten, was Menschen bewegt – die Beziehung des Vergangenen zum Gegenwärtigen, die allumfassende Natur, die Liebe, den Krieg, die Frage nach dem, was von einem bleibt −, und obwohl sie von einer universalen Welt- und Menschenliebe sowie von einem sozialen Empfinden getragen sind, das sich auf die Vorstellungen von Glück und Freude und Erfüllung gründet – Stevens kehrt nach all seinen Erfahrungen meist, wie in dem Gedicht „Gelber Nachmittag“, allein zurück,

Um sich auf sein Bett zu legen, neben sich
Ein Antlitz ohne Mund und Augen, das spricht und einen ansieht.

Wallace Stevens trug die Veranlagung zum Einzelgänger in sich. Das prädestinierte den mit einem außerordentlichen sinnlichen und emotionalen Wahrnehmungsvermögen sowie mit einem ebenso scharfen Verstand begabten Mann dazu, zum Seismographen für die leisen Schwingungen der in Unordnung geratenen bürgerlichen Welt zu werden, zu der er in Widerspruch geriet, obwohl er ganz dem Bereich der tradierten Begriffe und dem tradierten Erfahrungsfeld der historisch gewachsenen bürgerlichen Gesellschaft verbunden blieb. So gelangte er selbst an Grenzen, die Grenzen seiner Welt sichtbar machend.
Eine Tagebucheintragung des Fünfundzwanzigjährigen aus dem Jahre 1904 mag man zunächst noch für den Aufschrei eines in die Anonymität der Großstadt verschlagenen jungen Mannes halten: „Ich bin wieder in der Schwarzen Höhle, kenne keinen meiner Nachbarn. Das lebendige Tier in mir schreit nach einem Pferch. Ich möchte jemanden sehen, jemanden mit mir sprechen hören, möchte jemanden ansehen und selbst mit jemandem sprechen. Ich brauche Gefährten. Ich brauche mehr als meine Arbeit, mehr als den flüchtigen Gruß von Bekannten, mehr als dieses kleine Zimmer.“
In diese Zeit fällt auch Stevens’ Feststellung, daß die ihn umgebende Wirklichkeit „so chicagohaft, so platt, so bar allen Nachdenkens“ ist. Da spricht schon einer nicht mehr nur über sich selbst, und diese Wahrnehmung korrespondiert mit einer weit zugespitzteren und in dieser Direktheit nicht wieder gestellten Frage aus dem dreiunddreißig Jahre später erschienenen Gedicht „Der Mann mit der blauen Gitarre“:

Ist dieses Bild von Picasso, diese ,Anhäufung
Von Zerstörtem‘, ein Bild unserer selbst,
Oder ein Bild unsrer Gesellschaft?

Stevens stellt sich dieser Frage. Seine Position lautet: „Der Dichter ist der Vermittler zwischen den Menschen und der Welt, in der sie leben, und auch zwischen den Menschen untereinander; aber nicht zwischen Menschen und irgendeiner anderen Welt.“ Ersatz oder Illusionen als Trost verwirft er. Er bekennt sich zur Realität. Die „Gültigkeit eines Dichters als Wesen von Einfluß und Ansehen, zu dem er berechtigt ist, besteht einzig und allein darin, daß er dem Leben etwas hinzufügt, ohne das es nicht gelebt werden kann, nicht lebenswert ist, keine Würze besitzt, ohne das es in jedem Fall anders ist als jetzt“. Die berufliche Arbeit stellte dabei für Stevens einen Ordnungsfaktor dar, der ihm half, seiner Berufung als Dichter gerecht zu werden: als ein Dichter, für den Dichtung nicht nur Selbsthilfe und schon gar nicht Selbstzweck bedeutete, sondern hilfreiche Mitteilung auch für andere angesichts des Widerspruchs zwischen Kunst und spätkapitalistischer Wirklichkeit.

Stevens’ erstes Gedicht erscheint im Januar 1898, und es trägt den bezeichnenden Titel „Herbst“. Motiv und Wort kehren später häufig wieder, sein Gedichtband von 1950 heißt Die Sonnenaufgänge des Herbstes. Die ersten von der Öffentlichkeit bemerkten Gedichtpublikationen fallen in die Jahre zwischen 1910 und 1920. Kleinere Zeitschriften drucken ihn, einige Gedichte erscheinen 1914 in Poetry, dem Sprachrohr der Imagisten, einer kleinen Gruppe bürgerlicher angloamerikanischer Lyriker, die im zweiten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts durch ihr auf Erneuerung der Lyrik zielendes Programm in ihrem Sprachraum von beträchtlicher Wirkung war und zu deren Vätern der an seiner Zeit scharfe Kulturkritik übende amerikanische Dichter und Kritiker Ezra Pound gehörte. Zu dieser Zeit ist Stevens, der dieser Gruppe nicht angehörte, von ihr aber wie die meisten amerikanischen Lyriker der ersten Jahrhunderthälfte nicht unbeeinflußt blieb, bereits Anfang dreißig. 1920 erhält er den Helen-Haire-Lewinson-Preis. Drei Jahre später, ein Mann von vierundvierzig, publiziert er seinen ersten Gedichtband, Harmonium. Der nächste folgt erst nach über zehn Jahren. Von da an wächst und rundet sich sein Werk Band um Band, vorwiegend Gedichte, aber auch Essays; ein Jahr vor seinem Tod erscheint eine Ausgabe seiner gesammelten Gedichte, und aus dem Nachlaß werden neben Gedichten und Essays auch Theaterstücke publiziert sowie Adagia 1930-1955 (Aphoristisches über Leben und Dichtung), eine Auswahl von Briefen und Tagebüchern. Geehrt wurde er u.a. auch mit dem Bollingen- und dem Pulitzer-Preis.
„Viele sind jetzt davon überzeugt“, schrieb der amerikanische Kritiker Frank Kermode 1977, „daß Wallace Stevens der größte amerikanische Dichter des 20. Jahrhunderts ist. 1955, als er starb, war noch die Meinung vorherrschend, sein erster Band, Harmonium, sei das beste von ihm, und die darauffolgenden dreißig Jahre des Schreibens … hätten im Vergleich dazu lediglich weit traurigere und selbstmitleidsvollere Gedichte hervorgebracht. Aber jetzt wird deutlich, daß sich Stevens kontinuierlich entwickelte und seine wahre Stärke um die Sechzig herum erreichte.“
Die Wesenszüge dieses kontinuierlich gewachsenen Werks sind bereits in den frühesten Arbeiten und Aufzeichnungen angelegt. Von Anbeginn ist darin eine Herbst-, eine Endzeitstimmung gegenwärtig. Der Kontinuität widerspricht weder, daß der erste Band, Harmonium, Gelöstheit ausstrahlt, noch die Tatsache, daß mit dem zweiten Band, Ideen der Ordnung, eine – allerdings nicht unvorbereitete – Zäsur markiert wird.
Die meisten Harmonium-Gedichte lassen sich mit Wörtern wie Rausch, Feier und Preis umschreiben. Sie sind Faszinationen. Schöne exotische Dinge gewinnen in schönen, wohlklingenden Worten und melodisch fließenden Rhythmen Gestalt; ein gesteigertes Empfinden, ein intellektuell verfeinerter Hang zum Genuß der Schönheiten der Welt wird reflektiert. In dem Schwelgerischen sehen manche Kritiker gewiß nicht zu Unrecht einen Reflex auf den materiellen Wohlstand der zwanziger Jahre, das „Jazz-Zeitalter“, mit seinem Luxuskult; wesentlicher aber ist in diesem Zusammenhang der Hinweis auf die Repräsentanten der französischen Lyrik in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, auf die Symbolisten (Rimbaud, Lautréamont, Mallarmé – im Vorfeld Baudelaire) und deren Vorläufer, die Parnassiens (z.B. José Maria de Heredia), sowie auf den von Stevens besonders geschätzten Guillaume Apollinaire, einen der Ahnherren der modernen europäischen Dichtung des 20. Jahrhunderts. Aus diesem Bezugsfeld ergeben sich aufschlußreiche Hinweise für das Verständnis der Dichtung Stevens’, die – historisch versetzt etwas aufnimmt, was aus einer ähnlich gelagerten Wirklichkeitserfahrung erwuchs. Folgerichtig erweist sich der Rausch als Episode; die eigentliche, fortwirkende Reaktion auf das Jazz-Zeitalter ist die substantiellere Distanz zur gesellschaftlichen Realität der Vereinigten Staaten, zur spätbürgerlichen Welt überhaupt, sowie das unablässige Bemühen, Brücken zu schlagen zwischen den verzagten Menschen in einer ihnen entfremdeten Gesellschaft sowie zwischen ihnen und der entrückten Naturwelt. Stevens wollte, daß die Erde als ein Zuhause angenommen werden kann.
Bereits mit den Harmonium-Gedichten befindet sich Stevens im Widerspruch zur bestehenden gesellschaftlichen Ordnung, die trotz der Annehmlichkeiten ihrer materiellen Segnungen in der Phase nach dem ersten Weltkrieg nicht als Segnung empfunden wird. Was im Vollgefühl der Diesseitigkeit gepriesen wird, ist die sich immer wieder erneuernde Natur. Darin steckt ein Protest, der bei Stevens zunächst mehr in der Tradition der Parnassiens und deren unpersönlichem Preis der Schönheit steht und erst in der Folge deutlicher die Verwandtschaft zur Auflehnung in den Gedichten der Symbolisten erkennen läßt, die sich mit ihrer „poesie pure“, ihrer „reinen Poesie“ – zu der sich Stevens bekannte −, bewußt zur bourgeoisen Umwelt in ein gewissermaßen asoziales Verhältnis setzten. Sie forderten „l’art pour l’art“, „Kunst um der Kunst willen“, weil sie sich nicht vereinnahmen lassen wollten durch eine vom Kapital beherrschte Ordnung, die mit allem, was sie tat und unterließ, nur die Zerstörung des Menschen bewirkte. „Kunst um der Kunst willen“ hieß für sie und auch für Stevens Kunst um des Lebens, um der Menschen willen; von daher ist der Anspruch als gerechtfertigt zu begreifen, Probleme der Dichtung nachdrücklich zum Gegenstand der Dichtung zu machen. Für sie waren, und auch hierin folgt ihnen Stevens, Gott und die Götter von einst tot, doch fanden sie angesichts der Aushöhlung aller humanistischen Werte, zumal der von der Französischen Revolution unter der Losung „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ postulierten Ideale, keine gesellschaftliche Alternative.
Es ist aber für Stevens nicht nur diese Strömung der französischen Lyrik von Belang. Auch die englische Romantik (William Wordsworth, Samuel Taylor Coleridge und John Keats) sowie die Amerikaner Ralph Waldo Emerson und Walt Whitman haben sein dichterisches Werk inhaltlich wie formal beeinflußt, und nicht unerwähnt bleiben soll Friedrich Hölderlin, zumal sehr aufschlußreich ist, wodurch Stevens’ Interesse für ihn ausgelöst wurde. Es waren Hölderlins Worte angesichts hoffnungsloser gesellschaftlicher Zustände: „… und wozu Dichter in dürftiger Zeit.“ („Brot und Wein“)
Diese Dichter haben bei all ihrer Eigenart etwas gemeinsam, was sie mit Stevens verbindet: die Enttäuschung über ihre Zeitumstände und den erklärten Willen, wenigstens in der Dichtung die humanistischen Werte zu bewahren und der brutal prosperierenden oder restaurativen kapitalistischen Wirklichkeit entgegenzustellen, sowie die Besinnung auf die Natur, als deren höchste, sie reflektierende Hervorbringung der Mensch betrachtet wird, der die Pflicht hat, die Natur und damit sich selbst stets aufs neue in die angestammten Rechte einzusetzen. Was bei den erwähnten Dichtern trotz gravierender Unterschiede zwischen ihnen deutlich u.a. als Reflex auf die Ideen des Aufklärers und Wegbereiters der Französischen Revolution Jean-Jacques Rousseau in Erscheinung tritt, verengt sich bei Stevens, dem Vertreter bürgerlicher Endzeit, zu einer vom unmittelbaren gesellschaftlichen Bezug losgelösten Naturauffassung.
Daß ein Dichter wie Walt Whitman für Stevens wichtig werden konnte, hat nicht nur poetologische Gründe. Dieser Sänger der Demokratie und des Fortschritts, der Natur und Menschenwerk rühmte, mußte am Ende seines Lebens feststellen, daß die Entwicklung in seiner Heimat weder sein Vertrauen in die Gegenwart, noch seinen Traum von der Zukunft tragen konnte. Das heraufziehende Zeitalter des Imperialismus ließ die Kluft zwischen Ideal und Wirklichkeit ins Unermeßliche wachsen. Diese Erfahrung mußte Stevens machen. Das bürgerlich-humanistische Erbe der von ihm geschätzten Dichter der Vergangenheit wirkte fort in seiner Verweigerung eines endgültigen Verzichts. Welch ein erschreckender, ehrlicher Weg in die Machtlosigkeit, aus der heraus er immer wieder versucht, Kraft zu schöpfen und zu vermitteln. Seine Gedichte sind somit auch Zeugnisse für eine weitverbreitete Haltung bürgerlicher Intellektueller, die sich nicht von ihrer Klasse zu lösen vermögen und von der Position eines moralisch bestimmten und von sozialem Empfinden getragenen Narzißmus her ihre Auseinandersetzung mit der Zeit führen.
Die erwähnte Zäsur in Steven’s Schaffen, markiert durch den Band Ideen der Ordnung, wird programmatisch deutlich in dem Eingangsgedicht „Abschied von Florida“:

Fahr zu, hohes Schiff, jetzt da die Schlange
Ihre Haut zurückließ an der Küste.

Das ist ein aus Erfahrung gewachsener und gewollter Abschied, der vom Dichter als notwendig empfunden wird. „Ihr Geist band mich ringsum“, wird von dieser Welt des Südens gesagt. Vom „Haß auf die strotzenden Blüten“ ist die Rede. Die Alternative faßt er in die Worte:

Wie zufrieden werde ich im Norden sein, wohin ich fahre,
Mich sicher fühlen und den gebleichten Sand vergessen.

Das Gedicht gipfelt in der Strophe, die von dem Wissen erfüllt ist, wohin die Reise des mittlerweile fünfundfünfzigjährigen Dichters geht, wie diese ihm gemäßer dünkende Wirklichkeit beschaffen ist. Es ist eine Reise in die Kälte, was in mehrfachem Sinn verstanden werden muß: als eine Reise in eine nicht sonnige Gegend, als Reise in ein unwirtliches soziales Klima, als eine Reise, die von dem Vorsatz geprägt ist, sich kühlen Kopfes der Welt zu stellen und nicht länger schöne Gegenden selbstbetrügerisch für Offenbarungen einer glücklichen Ordnung zu nehmen.
Abschied und Ankunft des Dichters, Ankunft an jenem Punkt, von dem aus er künftig mit Entschiedenheit den Weg seiner Suche nach Gewißheiten beschreitet.

Mein Norden ist blattlos und liegt in einem Winterschlamm
Von Menschen und Wolken, ein Schlamm von Menschen in Massen.

Das Preisen der irdischen Schönheit mit ihrem Stirb-und-Werde („Der Tod ist die Mutter der Schönheit…“) als dem höchsten und wahrhaft menschlichen Gut im Gegensatz zur lähmenden Vorstellung von einem sich nie erneuernden jenseitigen Paradies („Die Zweige hängen ewig mit ihrer Last in den vollkommenen Himmel…“), einst bereits vollzogen in dem Gedicht „Sonntagmorgen“, soll jetzt fernab südlichen Sommers in einer Welt auf die Probe gestellt werden, von der es in dem Gedicht „Ein Verblassen der Sonne“ heißt:

Wer gewahrt schon der Sonne Spiel im Gewölk,
Wenn die Menschen verstört sind,
Oder die Nacht, klar und stark,
Wenn alle erwachen
Und laut um Hilfe schrein?

Ankunft in der Kälte, die für ihn gleichbedeutend ist mit Klarheit. Häufig ist in den Gedichten fortan davon die Rede, auch häufiger vom Herbst, der sowohl die Gewißheit des Sterbens als auch des sich erneuernden Lebens versinnbildlicht und für Stevens zu einem Quell der Zuversicht wird, dem allerdings Melancholie beigemischt bleibt, da die Einordnung eines Menschenlebens in die universelle Ordnung nicht ausreicht, um der menschlichen Existenz einen umfassenden Sinn zu verleihen. Denn der Mensch ist Naturwesen und Gesellschaftswesen zugleich. Als letzteres nur ist er sich seiner selbst bewußt geworden. Der Verlust gesellschaftlichen Geborgenseins, das aus vielen Gedichten Wallace Stevens spricht, konnte von ihm also nur erfahren werden, weil er als Gesellschaftswesen und geprägt durch die Menschheitsgeschichte dieses Auseinanderbrechen des Menschen wahrnahm. Beizukommen versucht er allerdings diesem Problem außerhalb des Wirkungsfeldes gesellschaftlicher Gesetzmäßigkeiten. So bleibt ihm, der den Menschen als Schöpfer begreift, am Ende nur die „schöne Sucht nach Ordnung“ („Die Ideen der Ordnung in Key West“), nach Ordnung begründenden Werten, die sich ihm in „ideas“, „first ideas“ (annähernd zu übersetzen mit „Grundwahrheiten“) offenbaren, welche der Mensch zu gewinnen vermag, wenn er sich mit der Natur verbrüdert.
Und immer wieder die Suche nach Gewißheiten wie in dem Gedicht „Der gut angezogene Mann mit einem Bart“:

Nach dem endgültigen Nein kommt ein Ja,

Ein Ding, das fest wäre, wenn auch nicht größer
Als der Fühler einer Heuschrecke, nicht mehr
Als ein Gedanke, den ganzen Tag gedacht, ein Sprechen
Des Ichs, das sich an Sprache halten muß,
Ein Ding nur, das, unfehlbar, bliebe, wäre
Genug…

Die Beziehung zum Nächsten, zur geliebten Frau, stellt eine dieser möglichen Gewißheiten dar, die das Einander-Fremd-Sein aufheben kann. Das Gedicht „Bestätigung“ preist die kraftspendende Zweisamkeit, von der das Paar über alle Einsamkeiten erhoben wird, macht jedoch zugleich die Not der Menschen deutlich, denn die Zweisamkeit ist letztlich eine Einsamkeit zu zweit.
Eins seiner ergreifendsten Gedichte ist „Kadenzen im Krieg“ aus dem 1942 erschienenen Band Teile einer Welt, weil es von der selbst noch der Ohnmacht abgerungenen Stärke kündet, die zwar nicht die Schrecken zu wenden vermag, wohl aber einen Weg anbietet, sie nicht ganz ohne Hoffnung zu ertragen. Dieses Gedicht weist bereits auf die letzte Phase im Schaffen des Dichters hin, die man als die stoische bezeichnen könnte. Die meisten späten Gedichte artikulieren in aller Bescheidenheit die Zuversicht und Gewißheit eines Mannes, dem nur noch die Dinge selbst etwas bedeuten und nicht die „Bauchredereien“ des Reflektierenden, wie es in einem seiner letzten Gedichte, „Nicht die Vorstellungen von einer Sache, sondern die Sache selbst“ heißt:

… Und es war
Wie ein neues Wirklichkeitsverstehn.

Wallace Stevens ist bei aller Abstraktion ein sehr gegenständlicher Dichter, der in seiner Sprache höchste Meisterschaft erreichte, was die Nachdichtungen mit Rücksicht auf den oft äußerst präzisen Sinngehalt nahezu eines jeden Wortes nur unvollkommen vermitteln können; kaum war der ausgewogene Wohlklang der Gedichte wiederzugewinnen. Wenn in dieser Hinsicht die hier vorliegenden Übertragungen ins Deutsche auch manches schuldig bleiben müssen, so vermitteln sie doch einen tiefen Eindruck von dem Ernst und der Akribie dieses Dichters, der sich seiner Realität stellte und dem es um die Verteidigung des Menschseins ging.
„Dichtung“, hat Wallace Stevens einmal gesagt, „ist eine Antwort auf die tägliche Notwendigkeit, die Welt ins Lot zu bringen.“

Klaus-Dieter Sommer, Nachwort, Mai 1982

 

„Der Dichter macht Seidenkleider aus Würmern.“

Dieser Ausspruch umreißt in gelungener aphoristischer Kürze das Anliegen des amerikanischen Dichters Wallace Stevens (1879-1955), der das komplizierte Beziehungsgeflecht von Ding und Geist, von Realität und künstlerischer Imagination auf besonders anspruchsvolle Weise zu ergründen suchte.
Stevens – den größten Teil seines Lebens als Beamter in der wohlgeordneten, nüchtern-sachlichen Welt des Versicherungswesens tätig, vom Wesen her wenig kontaktfreudig und äußerst penibel – hat in klangvollen, disziplinierten oft dunklen, schwer zugänglichen Versen nach einer höheren humanen Ordnung des Lebens gestrebt. Beeinflußt von Ralph Waldo Emerson, Walt Whitman, den englischen Romantikern und den französischen Symbolisten, gelangte er zu einer eigenwilligen Weltbetrachtung, deren Ausgangspunkt im unmittelbaren Spannungsfeld von Mensch, Natur und Universum liegt und die in der realistischen Maxime gipfelt: „Dichtung ist eine Antwort auf die tägliche Notwendigkeit, die Welt ins Lot zu bringen.“ In beherrschter Subjektivität, die nicht frei ist von Widersprüchlichkeiten, mit großem Empfindungsreichtum und in sprachlicher Gediegenheit spiegelt Stevens den Verlust gesellschaftlichen und individuellen Geborgenseins in unserer Zeit und schafft sich damit einen gleichberechtigten Platz an der Seite namhafter bürgerlich-humanistischer Lyriker der USA wie Robert Frost, Robert Lowell und e.e. cummings.

Verlag Volk und Welt, Begleitzettel, 1983

 

Das Ganze von The Whole of Harmonium

ist ein musikalischer Tropus; aber es ist eine Art Meistertropus von solcher Komplexität, daß selbst der Versuch einer Aufzählung Verwirrung stiften kann. Pianos, Oboen, Orchester, Mandolinen, Gitarren, Klaviere, Tamburine und Lieder; die Musik von Mozart und Brahms und all die Vogellieder und anderen Geräusche der Natur; die zu Vokabeln dekonstruierten Klänge der Sprache; die visionäre Phonetik transzendenter Zungen; Musik, die für Sprache in Anspruch genommen wird, wie auch Sprache für Musik; konkrete und abstrakte Musik; ganz einfache oder komplex verbildlichte Musik – vom Hufgeklapper der Rehböcke bis zum dünnen Schrei von draußen. Stevens’ Lyrik ist mit systematischem Klang durchzogen. Aber es ist sicher nicht genug, wenn man sagt, daß diese ganze Musik – hoch, tief, geräuschvoll, verbal – metaphorisch ist. Selbst wenn man diese Metaphern ausmißt – sagen wir die Entwicklung von „Musik“ zu „einer Musik“ in „Peter Quince at the Clavier“, und die Übergangsarten von Abschnitt zu Abschnitt im Gedicht, die der Programmusik angehören (das „Klavier“, oder nein, das Gedicht spielt Schumann) –, dann heißt das, sich auf dichtem Terrain zu bewegen. Figurative Personen, Dinge oder Handlungen sind bei Stevens immer voller Schatten und Echos von anderen Bildlichkeiten und sind vor allem Figurationen vorheriger Tropen. Es ist beinahe so, als ob das Analogon des Prozesses, durch den verbaler Witz ein Klischee oder eine tote Metapher wiederbeleben kann (indem sie sie zum Beispiel für einen Augenblick wörtlich nimmt), die Imagination beim Verfertigen der Sprachfiguren von Sprachfiguren wäre.

John Hollander, in: Frank Dogett, Robert Buttel (Hrsg.): Wallace Stevens. A Celebration, Princeton 1980

 

 

Über Wallace Stevens

Some things, niño,
some things are like this

Roucou, roucou, Don Don,
tom tom, c’est moi,
lobster bombay with mango chutney,
hoyo hoy,
so fang ich am besten mal an,
mit den frivolsten Noten
aus deinem trägen Graduale
eines denkenden Dichters als Kantor.
Hier hat man höflich zu sein, ich weiß,
bei diesem mächtigen Herrn,
der die Poesie verwandelte von Singen
und Klagen
in höchste Fiktion,
Wirklichkeit, vom Dichter gesehen
in der Stunde seines Augenblicks,
ohne Mythos oder Credo,
ein Gegenvatikan,
mit deinen Titeln wie Totems:
Notes Towards a Supreme Fiction,
Meditation Celestial and Terrestrial,
The Ultimate Poem is Abstract.

2
Für Dich kein Traum zwischen
Dichten und Dingen
du lehntest das Märchen ab
von der Sonne als Gott,
das die Sonne selbst für dich verdüstert,
das alles Versuchung, unnötiger Aufwand,
Entführung aus dem einzigen Dasein, nur
für einmal, hier, jetzt,
auf dem zufälligen Planeten.

Schwer warst du im Leib, in deinen langsam und träge
strömenden Versen, und doch,
hoyo, roucou, tom tom,
Kanoniker Aspirine und Nanzia Nunzio
hoobla hoobla how
mit deinen französischen Schnörkeln
zwischen den Paragraphen,
kleiner Triangel aus Jubel
zum kontinuierlichen Baß
deiner meditierenden Hummel.

Dein Gesetz ist aus Marmor:
deine höchste Erfindung
schrieb Zeile für surrende Zeile
dein mundo von dir allein,
jetzt von uns,
Wirklichkeit, immer gekleidet in
einen anderen Gedanken, und
dann erst ganz als Gedicht.

3
Adieu, waving adieu adieu
demjenigen, den es nicht gibt,
adieu,
es sollte ja ohne, immer,
und klar
mit dem schärfsten Auge,
immer.

Alles, was dir gelang
im massiven Palast deiner Worte,
gilt noch immer:
das Axiom der Sonne,
das Diktat von Birne und Fels, und soll wieder neu,
das war ja die Lektion:
it is possible, possible, possible. It must be possible.

Wenn das keine Versicherung ist!

Adieu, adieu.

Cees Nooteboom

 

 

Hannes Hintermeier: Geschäftsmann mit lyrischer Neigung. Über die Abwesenheit von Wallace Stevens. Merkur, Heft 593, August 1998

Peer Trilcke: Lyrik auf dem Weg ins Versicherungsbüro

Joachim Zünder: Die Wirklichkeit ist das Motiv 
Die Notes toward a Supreme Fiction und die Poetologie des späten Wallace Stevens

Zum 80. Geburtstag des Autors:

Richard Exner: Wallace Stevens – Gedenken an den amerikanischen Dichter
Die Tat, 3.10.1959

Fakten und Vermutungen zum Autor + Society + MAPS 1, 2 & 3 +
KLfGIMDbPennSoundInternet Archive + Poets.org + Kalliope
Porträtgalerie: Keystone-SDA

 

Wallace Stevens liest Final Soliloquy Of The Interior Paramour.

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