Walter Helmut Fritz: Zu Marie Luise Kaschnitz’ Gedicht „Nicht gesagt“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Marie Luise Kaschnitz’ Gedicht „Nicht gesagt“ aus dem Band Marie Luise Kaschnitz: Überallnie. –

 

 

 

 

MARIE LUISE KASCHNITZ

Nicht gesagt

Nicht gesagt
Was von der Sonne zu sagen gewesen wäre
Und vom Blitz nicht das einzig Richtige
Geschweige denn von der Liebe.

Versuche. Gesuche. Mißlungen
Ungenaue Beschreibung

Weggelassen das Morgenrot
Nicht gesprochen vom Sämann
Und nur am Rande vermerkt
Den Hahnenfuß und das Veilchen.

Euch nicht den Rücken gestärkt
Mit ewiger Seligkeit
Den Verfall nicht geleugnet
Und nicht die Verzweiflung

Den Teufel nicht an die Wand
Weil ich nicht an ihn glaube
Gott nicht gelobt
Aber wer bin ich daß

 

 

Klarheit des Blicks

Das Gedicht erschien mir, seit es vor zwanzig Jahren in dem Band Ein Wort weiter zu lesen war, als eines der stärksten von Marie Luise Kaschnitz. Es spricht von Versäumnissen, von dem, was sie nicht gesagt hat, zu sagen vergaß, zu sagen unterließ, nicht sagen wollte, nicht sagen konnte. Läßt sich „das einzig Richtige“ von der Sonne, dem Blitz, der Liebe sagen? Sicher nicht. Was möglich ist, sind Annäherungen, Winke, Hinweise, „Versuche“.
Das Morgenrot, der Sämann, der Hahnenfuß, das Veilchen – warum mußten sie „weggelassen“ werden? Weil die Zeit eines Lebens zu kurz, die Aufmerksamkeit eingeschränkt ist, die Sprache, vor allem die Sprache des Gedichts, nicht ausmalt, nicht auf Vollständigkeit in der Wiedergabe von Welt zielt, sondern etwas suggeriert, mit vergleichsweise wenigen Sätzen Räume skizziert, markiert, andeutet, in denen unsere Vorstellung, unser Gefühl sich entfalten können.
Wiegt es nicht schwer, daß Marie Luise Kaschnitz ihren Lesern nicht den Rücken gestärkt hat „mit ewiger Seligkeit“, daß sie Verfall und Verzweiflung nicht geleugnet, den Teufel nicht an die Wand gemalt und Gott nicht gelobt hat?
„Aber wer bin ich daß“ – die letzte Zeile des Gedichts bleibt (wie schon die Anfangszeile der letzten Strophe) unvollständig, bricht ab. Warum? Weil damit auch im Formalen augenfällig werden soll, was an Erfahrung in den Zeilen zum Ausdruck kommt: Ratlosigkeit, Einsicht in das Fragmentarische menschlichen Tuns, menschlicher Fähigkeit und Zuständigkeit, in die Tatsache, daß wir oft genug – statt eine Lösung zu finden – nur Unlösbares ins Licht rücken können.
Marie Luise Kaschnitz macht uns nichts vor, beschönigt nichts, verschließt ihre Augen nicht vor dem Grauen, verhehlt nicht ihr Ungenügen, nennt ihre Versuche „mißlungen“. Aber dank des Ernstes, mit dem sie das tut, verstehen wir, daß uns ein Werk der Kunst, der Literatur um so mehr angeht, je stärker in ihm gerade auch das Bewußtsein von der Gefahr des Mißlingens (der Arbeit, des Lebens) anwesend ist, das mit den Jahren wachsende Bewußtsein von dem, was wir versäumt haben und immer neu versäumen.
Diese Strophen sind nicht nur Ergebnis künstlerischen Vermögens, sondern auch bestandener Jahrzehnte. Klarheit des Blicks, Trauer darüber, daß unsere Bemühungen Stückwerk bleiben, und lakonisch-ruhiges Sprechen verbinden sich zu einem meditativ-intensiven Gedicht, einer „Zusammenfassung“ langen Hinschauens und Nachdenkens. Schwierige Erfahrung ist aufgehoben in einfachen Worten. Sie sind sehr persönlich und zugleich von allgemeiner Bedeutung.

Walter Helmut Fritz, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Hundert Gedichte des Jahrhunderts, Insel Verlag, 2000

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