Werner Ross: Zu Gottfried Benns Gedicht „Was schlimm ist“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

− Zu Gottfried Benns Gedicht „Was schlimm ist“ aus dem Gedichtband Gottfried Benn: Sämtliche Gedichte. −

 

 

 

 

GOTTFRIED BENN

Was schlimm ist

Wenn man kein Englisch kann,
von einem guten englischen Kriminalroman zu hören,
der nicht ins Deutsche übersetzt ist.

Bei Hitze ein Bier sehn,
das man nicht bezahlen kann.

Einen neuen Gedanken haben,
den man nicht in einen Hölderlinvers einwickeln kann,
wie es die Professoren tun.

Nachts auf Reisen Wellen schlagen hören
und sich sagen, daß sie das immer tun.

Sehr schlimm: eingeladen sein,
wenn zu Hause die Räume stiller,
der Café besser
und keine Unterhaltung nötig ist.

Am schlimmsten:
nicht im Sommer sterben,
wenn alles hell ist
und die Erde für Spaten leicht.

 

Bier lyrisch

Wein ist Poesie, Bier Prosa, das ist der alte Brauch. Wenn der Dichter ihn durchbricht, steigt er von seinem Sockel, macht sich mit dem kleinen Mann gemein, für den ein Glas Bier im Sommer, goldgelb und blütenweiß, durchaus etwas Hochpoetisches hat. Wie alles Poetische steigert es seinen Wert dadurch, daß man es nicht bekommen, in diesem Falle: nicht bezahlen kann. Geldnot ist womöglich noch lyrikferner als Bier; aber der Arme-Leute-Doktor Benn, der die Berliner Kneipen und ihre Insassen liebte konnte sich leicht hineinversetzen, hatte selbst auch akut daran gelitten. Da gewinnt Bier bei Hitze den Schimmer einer großen Vision.
Die anderen Übel, die das Gedicht aufzählt, betreffen weniger den Berliner Kneipeneinsitzer als den neugierigen Leser und abenteuernden Denker Benn. Gemeinsam ist ihnen das Tantalische: da sind greifbar das Bier, der Krimi, der gute Kaffee, die Stille des Zimmers, aber dem Zugreifenden entziehen sie sich. Auch der neue Gedanke ist ein solcher neckender Kobold: man muß ihn in der Falle der Formulierung fangen, kann ihn nicht kaufen und einwickeln lassen im Altwarengeschäft für abgelegte Lyrik, auch nicht neu aufgebügelt bei der Wissenschaft. Die nächtlichen Wellen schließlich, kein Fehlen, sondern ein Zuviel, deuten auf etwas Verschwiegenes hin: ihrem Immer entspricht das Nicht-Mehr, die Vergänglichkeit der Existenz.
Benn hat dieser Vergänglichkeitsmelodie gern die Dauer der gestalteten Form gegenübergestellt. Von der, so scheint es, kann in diesem Gedicht nicht die Rede sein. Es kommt salopp und lässig daher, in Parlando-Manier, reiht Augenblickseinfälle, koppelt den Biertrinkerwunsch mit Ewigkeitsgedanken, den Krimi mit Hölderlin. Hier scheint nicht gemeißelt, eher umgangssprachlich geschlampt. Aber der erste Eindruck ist irrig; man muß durch vorgetäuschte Lässigkeit hindurch das Formgesetz aufspüren, das den Beliebigkeiten der Reihung die Struktur gibt.
Katalogpoesie, die Übel oder Güter reiht, ist so alt wie die Lyrik selbst. Sie mobilisiert den Wunschtraum wie den Angsttraum: zwei ursprüngliche Seelenlagen. Ihre Form findet sie schon bei den Griechen in dem, was die Literaturwissenschaftler Priamel nennen: einer Häufung, die beliebig weiterlaufen könnte, wenn sie nicht durch eine überraschende Schlußpointe abgebrochen oder abgerundet würde. Das Kunterbunt der Einzelzüge gehört zur Gattung: es nimmt der Aufzählung die Pedanterie.
Benn hat die Form gekannt oder neu entdeckt. Er gehorcht ihrem Rösselsprunggesetz. Bei jedem seiner Übel wird die Bühne gewechselt. Jedesmal wechselt die strophische Form, wechseln Verslänge und Rhythmus. Nur die beiden letzten Strophen ordnen sich – man könnte sagen: sonettartig – einem Parallelgesetz unter. Sie enthüllen zugleich – mit „sehr schlimm“ und „am schlimmsten“ – das Baugesetz des Gedichts, die Steigerung.
In der vorletzten Strophe wird noch einmal ein Überraschungseffekt angesteuert. „Sehr schlimm“, das wäre eigentlich, nach dem Vergänglichkeitsecho der Wellen, die von Benn oft beschworene Einsamkeit. Aber mit fast snobistischer Wendung wird aus Einsamkeit Eingeladensein, und das stille Zuhause erscheint im Vergleich dazu wie ein epikuräischer Lustort. Ausdrücklich wird die Metaphysik verlassen, zugunsten des guten Kaffees, der doch nur eine Stufe über dem Bier bei Hitze rangiert.
Erst aus dieser Unordnung, diesem dissonanten, auch im Rhythmus hart prosaischen Gepolter blüht die lyrische Melodie der letzten Strophe auf – als reine Entfaltung, als Lied. Wie bei den Vätern der modernen Musik, Hindemith oder Strawinsky, ist die Melodie dem Chaos schließlich abgerungen. Das Übel zieht sich zurück, hockt nur noch in dem kleinen „nicht“. Strahlend steigen aus allen Widrigkeiten die Schönheit der Erde, das Mitgefühl mit dem anderen, der die Grube gräbt, und tröstlich der leichte Tod. „Sommer“, „hell“, „leicht“ sind die tragenden Töne dieser wunderschönen Todesstrophe.

Werner Ross aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): 1400 Deutsche Gedichte und ihre Interpretationen. Von Gottfried Benn bis Nelly Sachs. Insel Verlag, 2002

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