Wolfgang Rothe: Zu Gottfried Benns Gedicht „Melodie“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

− Zu Gottfried Benns Gedicht „Melodie“ aus dem Gedichtband Gottfried Benn: Sämtliche Gedichte. −

 

 

 

 

GOTTFRIED BENN

Melodie

Ich sterbe an diesem Sommer,
sein wolkenvoller Verlauf,
nur wenige Tage glomm er
etwas glühender auf.

Mein Herz schlug so zerschlagen,
dass es am Ende war,
wenn die Radios immer sagen
ihre Sprüche von millibar.

Nun kommen die Raben geflogen;
− mit Odin flogen sie hell,
dunkel nach Norden gebogen,
schwarze undeutbare Wogen,
noch nie geschaute – farwell.

 

 

Die Ferne ist gut

Erlebnislyrik? Oder ein Jahreszeitengedicht? Klage über einen verregneten Sommer, dessen Niedrigdruck dem Herzen des Achtundsechzigjährigen zu schaffen machte? Nein, diese Strophen entstanden am zweiten Novembertag 54, anderthalb Jahre vor Benns Tod, der dann tatsächlich in einen Sommer fiel.
Benn als Lieddichter? Wer erwartet ausgerechnet von ihm den Volksliedton? Aber es ist so. Dahin der einst verkündete „substantivische Stil“, keine blitzenden Wortgeschmeide mehr, keine narkotisierende Sprachmagie und keine waghalsigen Neologismen, also nicht mehr „Asphodelentrust“, „Rosenschwangerschaft“ und „Amati-cello“, das Bennsche „Sprachbordell“ ist geschlossen, die Verben haben mit den Substantiven gleichgezogen. Das früher den kostbaren Vokabeln innewohnende Pathos, so oft bis zu Feierlichkeit, Manier und Bombast gesteigert, hat ausgedient. Auch das bedeutet einen Abschied.
Zuerst zwei kreuzgereimte Vierzeiler – konventionell wechseln weibliche und männliche Reimfügungen ab −, sogenannte Volksliedstrophen. Die Zeilen simple Dreiheber, lose gefüllt, trochäisch einsilbig oder daktylisch zweisilbig. Der sechste Vers – „dass es am Ende war“ – rührend volksliedhaft, der Reim des dritten gibt sich ungeschickt, als halbwegs unreiner Reim, ist jedoch wohlkalkuliert, kunstvoll. Selbst die einfache Melodie soll (und muß in einer Endzeit) hochästhetisch sein.
Die dritte Strophe schließt mit dem unauffälligen „Nun“ und dem bekannten Märchenmotiv des Raben scheinbar bruchlos an die leichtfüßige Elegie an. In Wahrheit ist in ihr alles anders als bisher. Daß der Wechsel zum Fünfzeiler das Reimschema zerbricht, ist nur äußerliches Anzeichen hierfür. Was zwischen Gedankenstrichen, in Parenthese, beiläufig gesagt wird, bildet die zentrale Aussage. Der Liebhaber der Mythen winkt uns noch einmal zu, der pessimistische Geschichtsphilosoph ruft im „hell“ letztmals die Menschheitsfrühe auf, das Licht des Aufgangs, die mythische Urzeit, um in der harten Zäsur des Zeilenbruchs ein „dunkel“ folgen zu lassen, das nun aber primär auf die Existenz des Sprechenden bezogen scheint.
„Norden“ steht nicht mehr, wie im Frühwerk, kulturkritisch für die Verstandesdiktatur eines wissenschaftlichen Zeitalters, den Triumph der „Stirn“, vielmehr für des Dichters Herkunft aus einem Dunkelland der oberen Erdhälfte und zugleich für die Dunkelheit des eigenen nahen Endes. Der skandinavische Odinn, südlicher Wodan geheißen, war nicht nur Krieger-Priester und Weiser, der die Vogelsprache verstand, sondern er vereinte Geist mit Kraft – Benns nietzscheanisches Lebensthema −, er war Dichter, vates, Herr des Zaubers, und er vermochte die Runen zu lesen.
Benn liest vergebens die schwarze Rune am Himmel. Aus dem Märchenvogel und den beiden Schwarzgefiederten auf Odinns Schultern wird bei ihm ein ganzes Heer von Todesvögeln. Sie geben das einzige Bild in diesem Poem ab – ein machtvolles Bild, die Sprachbewegung drängt unaufhaltsam vorwärts, diese Daktylen hüpfen nicht heiter, wie sie sollen, das Niezuvorerblickte wirkt drohend, ja strömt leises Grauen aus. Der Vogelzug bleibt unausdeutbar – mit solchem „Ich weiß es nicht“ enden auch andere Poeme des spätesten Benn. Er ist bescheiden geworden.
Und das allerletzte Wort? Ein Schreibfehler? Mangelhafte Englischkenntnis ? Ein phonetisches Wortspiel à la Joyce? Sofern dieses, wäre ein „Fahr wohl“, „Gute Reise“ gemeint. Vielleicht dürfen wir es aber sogar mit „Das Ferne ist gut“ oder „In der Weite wird mir wohl sein“ eindeutschen. Das bleibt offen, dennoch ist der Sinn klar: es ist ein Lebewohl.
Entfernung eines Dichters, eine Melodie singend – oder eines Ich, sich singend? Wohl beides.

Wolfgang Rothe aus: Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): 1400 Deutsche Gedichte und ihre Interpretationen. Von Gottfried Benn bis Nelly Sachs. Insel Verlag, 2002

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