53. 365 ± 48?
Während der Ball ausrauscht, ist auch die Entscheidungsschlacht abgeflaut. Alle Register wurden gezogen, und haben sich wieder verschoben. Die Illuminaten sind immer die Illustren. Auftritt Chlebnikow. An seinen Fingern zählend, skandiert er aus den Tafeln des Schicksals.
WELIMIR CHLEBNIKOW:
,,Spanien 711 – Rußland 1237 – Babylon 587 –
Jerusalem 70 – Samaria 6 n.Chr. – Indien 317 –
Israel 723 – Rom 476 – Hunnen 142 –
Ägypten 1517 – Vandalen 534 – Ägypten 672 –
Karthago 146 – Awaren 796 – Byzanz 1453 –
Serbien 1389 – England 1066 – Korea 660 –
Indien 1858 – Indien 1526 – Judäa 134 –
Jemand 1917 –––––––––––––––––––––“1
Nebenschauplatz Vereinszimmer. Ein Treffen der Arbeitsgruppe Chlebnikow. Unter Leitung der Vorsitzenden Marga Erb2 in trauter Runde: Wilhelm Tkaczyk,3 Elke Erb, Karl Mickel und Bert Papenfuß. Letzterer hat sich nach Ableistung seines „Dienstes in anderen Organen“ der Nachdichtung von Chlebnikows Gedicht Народ поднял верховный жезел4 beflissen. Mit dem Slowar fuchtelnd, gibt er holpernd zum besten, was Karl Mickel schon Jahre zuvor besser machte,5 wortreicher zwar, aber dafür präziser.
BERT PAPENFUSS:
Das Volk erhob das höchste Zepter,
Majestät stolziert durch die Straßen.
Das Volk ist aufgestanden, wie ersehnt.
Ein Palast, wie Cäsar, wund sich krümmend.
KARL MICKEL:
Das Volk geht als Herrscher durch die Straßen,
das Volk hat mir6 das Szepter abgenommen,
das Volk hat jetzt getan, was es geträumt hat!
Zusammengekrümmt der Palast! wie Julius Cäsar,
nachdem ihn die Dolche7 getroffen hatten.
BERT PAPENFUSS:
Breit gehüllt in meinen Zarenmantel,
Stürze ich die langsamen Stufen hinunter,
Doch der Ruf – Die Freiheit ist unser!
Ging wie ein Lauffeuer bis Wladiwostok.
KARL MICKEL:
In meinen Zarenmantel verwickelt
falle ich Stufe um Stufe.
Fortgepflanzt bis Wladiwostok
hat sich der Ruf: Wir werden die Freiheit nicht aufgeben!
BERT PAPENFUSS:
Der Freiheit Lieder singen euch erneut!
Vom Pulver der Lieder ist der Plebs entflammt.
Umgeschmolzen zum Götzen der Freiheit
Der Zug der Flüchtlinge, dem ich entrannt.
Die Erfindung der Radiouniversität hat mächtig reingeknallt. Mitten in der nächsten Strophe, kurz nach „Maschinengewehre“, beugen sich auf der Hauptbühne 16 Nachwuchsvestalinnen,8 die sich nicht vor den Ideen des März gehütet haben,9 über die Reling und legen ihre Scham bloß.10
KARL MICKEL:
Immer wieder diese Freiheitslieder:11
Die sind der Zündstoff, der den Pöbel ansteckt:
Der D-Zug, in dem ich abdanke,
wird ihm das Denkmal der Freiheit werden.
BERT PAPENFUSS:
Der geflügelte Geist des abendlichen Tempels
Schielt gußeisern auf die Maschinengewehre.
Wütende Scham der Kriegsgelüste –
Du, die Priesterin, zerreißt die Bande.
KARL MICKEL:
Der geflügelte Geist, der in den Kirchen umgeht12 am Abend,
schielt gußeisern auf die Maschinengewehre.
Die Wut über die Niederlage ist meine Priesterin geworden
und wird mir die Netze zerreißen, in die ich gefallen bin!
BERT PAPENFUSS:
Was hab ich verbrochen? Des Volksbluts dunkle Gimpel
Warf ich um die lichterlohen Banner,
Die Freundin13 kleidend wie Girej14
In die Garbe kosender Verkleinerung.15
KARL MICKEL:
Was habe ich getan? Ich habe mich abgewandt,
als meine Fahnen brannten, von den Blutlachen,
ich habe, wie Girej, die Maitresse gekleidet
in einen Feuerstoß zärtlicher Namen.
BERT PAPENFUSS:
Des Fluches Tage! Schrecklicher Qualen schreckliches Gestöhn.
Doch hier – Rost, verdammt, und Schimmel! –
Erscheint in jedem Bauernrock mir Danton,
Hinter jedem Baum Cromwell.
KARL MICKEL:
Jetzt täglich diese Flüche! Schreckliche Qualen und Zähneknirschen!
Was ist hier: oh, Rost und Schimmel!
In jedes Bauern Rock sehe ich einen Danton
und einen Cromwell hinter jedem Baum.
Auch Elke Erb und Wilhelm Tkaczyk präsentieren der Arbeitsgruppe ihre Chlebnikow-Übersetzungen:
ELKE ERB: (mit intellektueller Schärfe)
Die Freiheit kommt unbekleidet,
Blumen wirft sie dem Herzen zu,
Und wir sind, mit ihr im Gleichschritt,
im Gespräch mit dem Himmel per Du.
Wir, die Krieger, trommeln mit barscher
Hand auf die Schilde das Wort:
„Es werde das Volk unser Herrscher
immer, immerdar, hier wie dort!“
Singen solln an den Fenstern die Mädchen
zwischen Liedern von alter Schlacht
über die der Sonne treu untertänige
Volksselbstherrschermacht.16
WILHELM TKACZYK: (mit proletarischem Pfiff)
Die Freiheit kommt nicht „unbekleidet“ –
DIE FREIHEIT KOMMT NACKT!
Die Freiheit kommt strahlend und nackt,
streut Blumen aufs Herz, immerzu.
Wir schreiten im rhythmischen Takt
und stehn mit den Sternen auf Du.
Wir schlagen, uns bleibt keine Pause,
den Schild und vernehmen den Schall.
Das Volk soll der Herr sein im Hause,
bei euch wie bei uns, überall.
Laßt singen die Mädchen beim Baden
ein Lied von vergangener Zeit.
Wir bleiben, von eigenen Gnaden,
das Volk, nun erwacht und befreit.17
Während die Arbeitsgruppe still vor sich hin sich selbst hinterherhinkt, gerinnt auf der Hauptbühne revolutionärer Unwille zu konservativer Skepsis. Die Retrogarde wird breit ausgewalzt und in die Vorgaben der gelben Presse geschnallt. – Свобода приходим назая… und das ist ihr Schade.
1. Nachruf, Rückblick und Aussicht
Die Angst vor dem Tod ist ein Regulativ für das Leben, sie sorgt für genaue Orientierung, Handeln, Denken. Wo hingegen der Tod für das Individuum wirklich erscheint, gibt es keine Angst mehr: sie hat ihren Sinn verloren. Wo Mensch lebt, ist Microb immer schon anwesend – kein Wunder, daß sie den sterbenden Leib ganz erfassen: sie nehmen nur die freigewordenen Stellen ein. Jeder lebendige Leib einer Population weiß sich jeder äußeren Invasion zu erwehren: Evolution erhält, so Klima und Wetter erlauben, ihren Reichtum und baut ihn (mit Hilfe des Sonnenlichts) weiter aus. Der individuelle Tod ist ein (sexueller) Ausdruck dieses Reichtums.18
In den Jahren 1997/98 führten der Maler, Denker, Hydrologe und religionsphilosophische Querfeldein-Erratiker Hans Schulze und ich viele Gespräche, meist ging es bei grünem Tee und Hasch, Bier und Wein um Wasser. Hans arbeitete damals an seinem Langzeitprojekt „Geschichte und Auflösung des Patriarchats“ und beschäftigte sich folgerichtig mit der Natur und Kultur des Wassers.19 Der auf Stau basierenden Melioration und dem Wasserstaat setzte er „freies Fluten“ entgegen. Einige seiner Texte, Zeichnungen und „Karten“ (in der Tat waren diese großformatigen Blätter Topographien sowohl seiner Gedanken als auch der seiner Mitarbeiter und gelegentlichen Gäste in seiner Werkstatt;20 einem großen Zimmer im Hinterhaus Saarbrücker Str. 7 ganz oben, daß meine Damalige, Silka Teichert, ihm 1995–1998 untervermietet hatte) wurden in den Zeitschriften SKLAVEN, SKLAVEN Aufstand und GEGNER publiziert, die ich mitherausgab. Eine Sammlung von Hans’ Texten und Karten erschien – anläßlich einer Ausstellung in der Heimspiel Galerie in Frankfurt am Geld 2005, als wohlgemeinter Schnellschuß herausgegeben von Sascha Anderson, und nicht unbedingt zu Hans’ Zufriedenheit – unter dem Titel Fragmente zum Wasser im Gutleut Verlag. Für diese Publikation schrieb er Erläuterungen zu ausgewählten Karten, die folgende zur Karte des Werfens gibt einen Eindruck vom Inhalt unserer Gespräche:
in der konkreten gestaltung des wasserhaushalts eines lebewesens haben wir eine interne repräsentation seiner umweltbedingungen und sozialisation. um das blut und den motor, das verdauungssystem herum gruppieren sich zum punktuell-existentiellen austausch (zur geschlechtlichen vermehrung): die zellen, sowie eine fortlaufende koordination aufrechterhaltende kommunikation, die von hirnwasser gesteuert wird. diese entwickelt sich von einfachen formen aus zum universalgenie der menschlichen sprache fort. sprache spricht aus dem selbstgewißsein der hirnflüssigkeit in ihren ufern, deren wachstum und entwicklung sowohl die bedingungen des zellwassers in seinem bezugsrahmen, der evolution, wie auch des blutes zur population und des hirnwassers zu seiner aktuellen individuation spiegelt: in der zeit erhalten als gestaltung der ufer: aktuell repräsentiert in der konsistenz der flüssigkeit. eigentlicher ausdruck der reizverarbeitung ist die elektrizität, welche vom hirnwasser getragen wird. in der konstanz seiner impulse spiegeln sich die ebenen der bearbeitung der reize. im ausdruck der sprache werden sie zu einem faden versponnen – aus der reihenfolge vorläufiger markierungen auf den fraglichen ebenen, und entsprechend dem vorkommen in der welt des individuums, erstarren bestimmte kombinationen aus häufiger wiederholung zu synonymen, gestalten, namen, symbolen, indices.21
Also nicht von ungefähr schrieb ich 1998 den Gedichtzyklus „wasserwirtschaft“, der – wie ich nun überblicke – als Vorarbeit zur Ur-Rumbalotte anzusehen ist. Als essentielles und mithin flüssiges Beispiel für alle eigentlichen und weiteren Rumbalotten sei hier der Eingangstext zitiert:
WASSER ZU WASSER
ree; raus aus dem gehäus, raus
aus stadt, stuben- & stollenarrest
bäume ausgerissen, bücher verbrannt
& die söhne ins feld geschickt
törnen, törnen & nochmals törnen
die besseren sterben sobald
sie schwimmen können, & die bösen
weil sie es nun mal nicht können
ich empfehle die wässerige lösung
törnen, törnen & nochmals törnen
der sparren des oberstübchens
ist der einbaum des überbaus
sachsen & buletten in seenot
züchtigen die butter auf dem brot
driften, driften & abermals driften
segeln regt das sterben an
die see ist die totale auslieferung
schiffahrt kontrollierte versuchung
gischt wird deine letzte dusche sein
törnen, törnen & nochmals törnen
rauszuschwimmen & nicht zurückzukommen
darauf sind wir auch schon gekommen
meergeld nimmt werzins, viking ruft
– es gibt keine freiheit zur see
törnen, törnen & nochmals törnen
& nicht vergessen, zu löschen
… womit (nicht nur) Durst und Brand gemeint sind. – Soeben erfahre ich, daß Hans am 23. August 2017 im Krankenhaus Friedrichshain gestorben ist. Nach längerer Krankheit. – Geboren wurde Hans-Joachim Schulze 1951 in Schalkau (sic!) am Südhang des Thüringer Schiefergebirges, entgegen allen Erwartungen wurde er nicht Rennrodler – er war eben kein Hajo –, sondern Künstler. Von 1975 bis 1981 studierte er an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig bei Hartwig Ebersbach, der ihn unterstützte und schützte – ebenso der Rektor Bernhard Heisig, auf den Hans nichts kommen ließ.
Natürlich hat [B. Heisig] die Ordnung der DDR durchsetzen helfen, auch als hochrangiger Funktionär der SED. Natürlich hat er sich für das geistige Ideal ,Kommunismus‘ eingesetzt – ich tat das auch –, wir kämpften beide, auf unsere verschiedene Weise, für die Auflösung des Patriarchats. Ich habe 1983 die DDR verlassen wollen und einen Ausreiseantrag gestellt, weil ich endlich davon überzeugt war, daß kein direkter Weg vom ,real existierenden Sozialismus‘ zum aufgelösten Patriarchat (dem ,Kommunismus‘) führt. B. H. hat mir beim Verlassen der DDR geholfen – mir als Künstler. Er hat angenommen, was auch ich annehme: daß ein wahrer Künstler jenseits politischer (ideologischer) Grenzen für eine menschliche Gesellschaft agiert. […] Aber es geht mir um mehr: da ist dieses verstaubt klingende Wort ,Kommunismus‘, worunter ich mir immer eine Gesellschaft vorgestellt habe, in der Frauen und Männer gleichberechtigt organisiert sind (d.h. ein ,Matriarchat‘). Aus persönlichen Interaktionen kenne ich B. H. ziemlich genau: Ich bin überzeugt davon, daß er mich und meine Arbeit vor den (unter DDR-Verhältnissen vernichtenden) Angriffen fundamentalistischer Funktionäre beschützte (und nicht nur mich – viele Studenten haben diese als ,Toleranz‘ geachtete Eigenart des damaligen Rektors der HfGB schätzen gelernt) und mir so ein freies Studium und zwanglose Arbeit an der Kunst ermöglichte. Ich bin überzeugt davon, daß sich B. H. dessen zu dieser Zeit bewußt war. So hat er den großen Außenseiter der Leipziger Malerszene, Hartwig Ebersbach, als Lehrer für jene Studenten an die Hochschule gerufen, welche die Möglichkeiten ,experimenteller Kunst‘ zu erkunden suchten. Das hat meine Freundschaft mit Ebersbach und die Gruppe 37,2 herbeigeführt.22
Von 1979 bis 1985 war Hans Koordinator der Gruppe 37,2, die sich intermedial z.B. mit „Untersuchungen zum Paradigma des Spiels“ beschäftigte, und mit gelegentlichen neomarxistischen Performances23 Laienkunstzirkel in Produktionsbetrieben doch eher verwirrte. In Leipzig war er als Container-Schulze bekannt, immer auf der Suche nach weltanschaulichen Relikten und noch brauchbaren Arbeitsmaterialien. Als Frontmann der Leipziger Band Pfff… – einem Seitenprojekt von Chaos und Zappa, Musikern der Punkband Wutanfall – predigte und geiferte er zu kakophonischem Postpunk Leitartikel, Ernteerfolge, Fernsehprogramme und andere Wasserstände und Tauchtiefen aus dem Neuen Deutschland, daß er zerfetzte und sich auf dem Boden wälzte. Nach seiner Ausreise in den Westen dallerte er in der Weltgeschichte rum, lebte länger in London, der Mauerfall ereilte ihn in San Francisco.
Zurück in Berlin bildete er mit dem Komponisten Robert Linke und der Weltversteherin Renate Uhlmann eine informelle Gruppe, die von Café Schliemann aus ihre Anschläge plante: Videoprojekte, Kurzopern,XL-Opern und (oft stundenlange) Performances, bei denen Hans sich gern zum Obst machte. Er konnte sich – weiß Gott – selbst auf den Arm nehmen, alle anderen natürlich auch. Allein bei „weiß Gott“ hätte er schon kakelnd protestiert und losdoziert:
Eine Gesellschaft, deren organisatorische Voraussetzungen von dem Fließen der Energien ihren Ausgang nimmt, muß schlechterdings mindestens zwei Geschlechter von ihren Göttern zu nennen wissen, besser noch fünf oder sieben, denn jede Zirkulation eines im Fluß befindlichen Mediums bildet Hochs und Tiefs, Plus und Minus aus (das Volk der Chinesen nennt sie Yin und Yang.24
Seine Lebensphasen lassen sich in Themen- und Werkgruppen einteilen, an denen er mit anderen zusammenarbeitete; mit Renate und Robert sowie Kassandra Bossell und Michael Pfender von 1994 bis 1996 an dem Komplex „Maths of Water“; von 1996 bis 1998 zusammen mit Isa Adolphi an der „Geschichte und Auflösung des Patriarchats“; auf diese Art und Weise war er mehrfach polygam verheiratet. Irgendwann nach der Jahrtausendwende kam es zum Bruch mit Robert Linke, sie beschlossen, zehn Jahre nicht miteinander zu sprechen, fortan saßen sie an getrennten Tischen im Café Schliemann und umgingen sich auf dem Helmholtzplatz, zu dessen Stammpersonal die beiden langhaarigen Barfüßigen mit freiem Oberkörper gehörten, Hans mit Vollbart, Robert unrasiert.
Gern schmiß Hans sich in Schale, im Sommer bestand diese oft nur aus einer eleganten Anzughose, wenn es kühl wurde, kam noch eine antike Weste dazu. Auch im Winter stand er mit Socken auf Kriegsfuß, solange es ging, war er barfuß unterwegs; eine Art Roßkur gegen die ihn periodisch quälende Thrombose, sein durchaus ulkiges Getänzel sollte Gerinnsel „verzwirbeln“. „Verwirbelung“ und „Verzwirbelung“25 waren zentrale Begriffe in seinem Denken, gemeint war die Chaotisierung (Wiederbelebung) verfestigter Strukturen – Dichotomien sollten aufgebrochen und vervielfältigt werden. Die Gesellschaft war nicht im Fluß, daran litt er psychosomatisch.
Er war ein guter Radiohörer, leider wurden die Programme immer schlechter, Fernsehen war für ihn immer was besonderes – manchmal kam er zu uns in die Küche und wir sahen zusammen Wa(h)re Liebe oder andere Werbesendungen –, er konnte jeden Schwachsinn theoretisieren; je blöder, desto besser, Kuttner hätte er links ausgestochen, wir hätten uns gebogen vor lachen. Leider kam es nicht zu dieser Art öffentlichen Besprechung von Gesehenem; man konnte auch nie ergründen, was er eigentlich sah – oder imaginierte –, er war ja stark kurzsichtig.
Seine letzte große Ausstellung fand – Christoph Tannert sei Dank „mit freundlicher Unterstützung durch den Regierenden Bürgermeister von Berlin“ –, 2008 im Künstlerhaus Bethanien statt. 2007 zitierte er Freunde und Mitarbeiter in sein Seitenflügellabor in der Lychener Straße und porträtierte sie für diese Ausstellung: Göttinnen und Götter.26 – Hans lebte als Kirchenmaus, die Altersarmut hätte er – als aufrechter Kommunist reinsten Wassers – auf ’ner halben Arschbacke abgesessen, sie hatte ihm nichts Neues zu bieten. Praktisches Geld war ihm fremd, es interessierte ihn als „Flüssigkeit“, „Austausch“ und „Kreislauf“. Mit runtergeschraubten Lebensbedürfnissen konnte man ihn nicht beeindrucken, er kam mit weniger aus. – Er war ein „Teil unseres Lebens“ schrieb Sascha Anderson mir, nachdem ich ihm die Nachricht von Hans’ Tod übermittelt hatte. Ein Teil, das jetzt fehlt, und ersetzt werden muß, wohl durch eigenes Bemühen. Mir graut jetzt schon davor… religionsphilosophische Plackerei ist andererseits aber auch eine Herausforderung, deren Bewältigung Freude machen kann.
Aus dem Fluß… zurück in den Fluß der Dinge. – Ich bin kein Freund der Seefahrt, mir sind schon Segeltörns unleidlich. Ein Boot zu besitzen, empfinde ich als spießig. Ringelhemden sind mir peinlich. Schließlich lebe ich in Weißensee und nicht am Schweriner Meer oder Müggelsee. Seefahrt ist leider etwas anderes, als sich auf einer Fähre irgendwohin zünftig zu besaufen. Hierarchische Mannschaftsstrukturierung, Befehlsgewalt, Dienstränge und andere autoritäre Sperenzchen sind nichts für mich, ich vertrage kein Aye-aye-Geschrei. Allerdings steht mir auch kein Zivil, deswegen trage ich Uniformteile und Ausrüstungsgegenstände aller Waffengattungen kreuz und quer unorthodox. Früher dem Gespött der Leute zum Trotz, heute geh ich wohl als „urban outdoor man“ durch.
Der Kaufhausbrandstifter, Mann des Wortes und unentwegte Verleger Thorwald Prall erzählt:
Ich wohnte damals 1978 in Ottensen in der Keplerstraße. An einer Hauswand befand sich ein populäres Graffiti: Anarchie ist machbar Frau Nachbar! Eines Tages hatte jemand etwas darunter gesprüht: Aber nicht auf hoher See. So hatte ich den Namen für einen eigenen Verlag gefunden.
Seither heißt sein Verlag Auf hoher See. – Anarchie in die Seefahrt zu bringen, ist eine schöne Herausforderung; leider bin ich – Bakunin-Kropotkin-Goldman sei Dank – nur dafür zuständig, zaudernden Künstlern, zögernden Rockern und anderem schwankenden Fußvolk die Mutter der Ordnung zu verklickern.
Privat bin ich übrigens potamophil, ich mag Rinnsale wie den Ryck, mächtige Ströme wie die Peene, notfalls auch das Kattegat. Neben Fließgewässern haben es mir Waldseen angetan, besonders solche in Meeresnähe oder auf Inseln, möglichst in der Ostsee. Der Herthasee auf Rügen, der Pølsøse (bzw. Borresø) auf Bornholm, der Jezioro Dobre in Kaschubien (von Putzig aus Richtung Westen an den Mechauer Grotten vorbei nach Domatówko, dann rechts die 218 drei Kilometer Richtung Norden), ganz besonders aber zwei Tümpel auf Usedom.
BERLIN-ZIRCHOW/KORSWANDT. J.W.D.
nich’ jewußt, wohin jemußt; um Kamminke rumjegurkt.
Das Schwarze Herz27 anner Grenze hat mich schon lange jenervt;
hoch nach Korswandt, am Wolgastsee vorbei, ran an den Rest-Teich.28
Wat’n Scheiß, Natur pur, allet schön, liegt am Wetter –
dies ist kein Feldzug, sondern ein Spaziergang – jerechnet
hab ich nich’ damit, aber die Ahnengrube29 ist da gut plaziert.
Am Rande des Elends am Krebsloch30 winkt ein Hünengrab,
die seichte Hügelkette raufgekraxelt, finden wir es zwar knapp,
de facto aber nicht – kieken wir ebend nächst’ Jahr nochmal nach.
aaaaaHab ich da oben im Dornicht eben Uwe Kolbe gesehen?
aaaaaMit ’nem Klappspaten31 fuchtelnd! Nee, nee, jetzt ist Siesta:
aaaaaLetzte Gedanken verlöschen – bevor sie zu tröpfeln beginnen.
So, det Jahr is rum,32 Prämissen ham sich jeändert. Zwischen
Dargen und Borken in Stolpe – wo der Sarazene haust33 –, „kannste
doot übern Zaun hängen“34 und Buletten verarschen, wenn du’s schaffst.
Trotzdem schön, hier herrscht nichts; aber es „herrscht“
Panik in Pankow, Chaos in Karlshorst und Anarchie in Adlershof.
Setzt sich leider nicht durch; haken wir ebend nächst’ Jahr nochmal nach.
Ja, unter der Maske auf Route brilljiert er, der Eskamoteur,
fortgeschrittene Reife gebiert unter der Zunge lauter Ungeziefer.
Sense für die Bande; das Abendessen kommt noch dies’ Jahr aufn Tisch.35
aaaaaDen Ausblick aufs blanke Haff stören Känguruhorden,
aaaaaund drüben das brennende Bambusröhricht vor Ückermünde
aaaaamüßte auch mal gelöscht werden – hat aber irgendwie auch wat.
Wie man die Öfen auch baut: Hinter uns in der Buchte
wandert der Schwamm. Aufsteigende Nässe schlägt nieder
– einfach sollten die Fenster sein, und vor allem niemals dicht.
Solch ist des Schwadronierens; Schlämmkreide statt Dispersion
– jeder Furz ist autobiografisch. Verfall hält auf Trab, macht Betrieb
und Appetit, holt zwar kein Bier, läßt sich aber dafür auch nicht rauchen.
Geflüchtet, vertrieben und umgesiedelt aus Prenzlauer Berg
müssen wir uns was einfallen lassen; die volle Wucht der Revolution
und die Bevölkerungsrotation rumort in den in Wallung gesetzten Kaldaunen.
aaaaaWir haben nichts zu verlieren, verstehen aber auch keinen Spaß
aaaaaund haben auch sonst nichts zu lachen, wenn wir uns auf die Schenkel
aaaaaklatschen… die Staatliche Geschäftsstelle für den bewaffneten Aufstand
hat sich ans Ernst-Fuhrmann-Institut36 um Unterstützung gewandt;
eine vorläufige Abwiegelung brennt den Bürokraten unter den Nägeln,
die wir mit Köpfen präpariert haben, nicht umsonst haben wir kooperiert.
Aber es ist zu spät, die V-Männer haben landesweit zugeschlagen,
mit einer kurzen Unterbrechung der Reibungslosigkeit37 des Bahnverkehrs
und Datentransfers gelang es, Ablehnung gegen „Linksextremisten“ zu züchten.
Störtebekers Rabauken fristen Durststrecken in Strandkörben, zur Not
reicht ihnen eine Tube Lakritzensaft, die allerdings keine Abhilfe schafft.
Von Statusverlust reden „Statuierte“ – wer aber ist „statuiert“? Wer saturiert?
Satt habe ich die ganze Kaiserei auf Usedom schon lange;
vielleicht sollten wir uns mit den militanten Panpommeranzen38
alliieren und eine anarcho-sozialistische Freihandelszone39 situieren.40
Soweit diese Prosavariante von wasser zu wasser, zugegeben schweift der Text detailliert ins Autobiographische und Antipolitische ab, wie die meisten meiner längeren Jedichte, das will ich nicht verhehlen – insbesondere die, an denen ich jahrelang schreibe –, wobei die Chronologie einer Traum- und Aufarbeitungsstruktur folgt. Es ist nichts hinzugeschrieben, persönliche Erinnerungen (und Zeitzeugenaussagen) sind schon Flunkerei genug. Selbstverständlich hat der Text – wie das Leben so auch die komplette Ur-Rumbalotte und die Menschheitsgeschichte – keine (geschlossene) Handlung. Feldzüge, Schlachten, Ruhe- und Aufbauphasen, Affären, Liebesbeziehungen, Rückschläge, allmähliche Reifung, meist verbunden mit galoppierender Infantilisierung in keiner besonderen Reihenfolge bestimmen unser Streben und schlagen gelegentlich zu Buche. Is’ schon ’n ziemliches Gekrebse, die janze Geschichte. Von der Raumfahrt ganz zu schweigen. Und dann noch die ständigen Zeitreisen. Noch vor 15 Jahren hätte ich aus dem Inhalt eines Textes wie Berlin-Zirchow/Korswandt. J.w.d. einen ganzen Gedichtband geschrieben, insofern arbeite ich heute effektiver und den Lesern bleibt einiges erspart.
2. Schicksalsdämmerung auf Trockendock
Im November 1999 begann ich – zumeist im klitzekleinen Büro der just gegründeten Tanzwirtschaft Kaffee Burger – an einer Rockoper zu arbeiten. Befreundete Musiker der Ostberliner Bands Freygang, Herbst in Peking, Inchtabokatables, Infamis, Britannia Theatre, Tarwater u.a. traten im Burger auf und hingen dort auch sonst ab, kollidierten und kollaborierten mit dem ansässigen Literatenpack. Nie hatte ich die Absicht, eine Oper zu schreiben, mir schwebte eine Rockrevue vor, bestehend aus Streiflichtern sozialrevolutionärer Umtriebe der letzten Jahrhunderte, und zwar der egalitären und libertären. Da bot es sich an, mit den Likedeelern zu beginnen. Zufällig stand der 600. Todestag von Klaus Störtebeker ins Haus; zwar gibt es verschiedene Theorien über den tatsächlichen Hinrichtungstermin, aber der 20. oder 21. Oktober 1401 ist wohl wirklich der wahrscheinlichste, und selbst wenn nicht; das Motiv brezelt das Datum, auch wenn man – wie ich – runde Jahrestage verabscheut.
Ich schrieb Rollen für befreundete Sänger, die sich in historisch zeitnahen Zusammenhängen teilweise auch selber spielen sollten, was – wie sich herausstellte – viele nicht wollten, in manchen Fällen wurde auch mein Humor nicht (richtig) verstanden. Die Arbeit an dem Manuskript war kurzweilig und schnell getan, wurde jedoch nie abgeschlossen. „Es gibt ohnehin eine Literatur von Bruchstücken. ,Fragmente‘ sind das Beste, was man bringen kann. Geben Sie her.“41 – Am 29. Juni 2000 kopierte ich das Manuskript der „(Arbeits-)Rumbalotte“ siebenmal. Ein Exemplar brachte ich Frank Castorf in sein Büro; wir trafen uns öfter in der Torstraße, wenn ich die Scherben der Nacht vor dem Kaffee Burger wegfegte und er zur Arbeit ging, dort hatte ich ihm von der „Opera semiseria“ erzählt. Er hat nach Erhalt nie was zur Sache gesagt und ich habe nicht gefragt. Weitere Kopien erhielten die Rockmusiker und Sänger André Greiner-Pol, Rex Joswig und Ronald Lippok. Ein Exemplar schickte ich an den Regisseur und Intendanten Christoph Schroth ins Staatstheater Cottbus; wir hatten uns bei der Feier von Volker Brauns sechzigstem Geburtstag im Mai 1999 getroffen, dort erzählte ich von dem Projekt einer Rockoper, die es damals noch nicht mal in Ansätzen gab. Er interessierte sich für die Idee und fragte brieflich nach, ich antwortete ihm am 13. März 2000. Hier ein Auszug aus meinem Brief:
Zur Opera semiseria RUMBALOTTE: Dat Opus thematisiert 600 Jahre Geschichte der Sozialrevolutionäre. Ein herkömmlicher Handlungsstrang ist nicht erkennbar, außer in den Zwischenspielen, die ,outgesourct‘ sind und für sich stehen. Die ,Handlung‘ (Dynamik) der Oper wird durch die Vorgänge der einzelnen Szenen(-couplets) vorangetrieben. Der Ausgang ist offen – sollte ständig aktualisiert werden. Ich hoffe, im April/Mai das Libretto abzuschließen. Zur Komposition übergebe ab sofort die einzelnen Parts an die jeweiligen des Komponierens mächtigen Rockmusiker, zumeist von Bands, mit denen ich zum Teil seit Jahren zusammenarbeite, als da wären: Ornament & Verbrechen (jetzt To Rococo Rot und Tarwater), Freygang, Herbst in Peking, Inchtabokatables, Infamis usw. Die Arbeit an den Kompositionen sollte dann zum Jahresende abgeschlossen sein. Am 21. Oktober 2001 jährt sich zum 600. Mal der Tag der Enthauptung Störtebekers; das sollte der Tag der Premiere sein.
Der Brief, auf den ich – glaube ich – keine Antwort erhalten habe, war für mich eher eine Motivation, die Arbeit an dem Opus voranzutreiben und mir selbst eine Deadline zu setzen. Die Musiker, die ich angesprochen hatte, sich der Texte anzunehmen und gefälligst einer Vertonung zu bequemen, erwarteten von mir, daß ich die Sach’ unter Dach und Fach vermittele. Nun konnte ich ihnen sagen, Castorf und Schroth hätten sich der „Rumbalotte“ angenommen und irgendwas würde schon dabei herauskommen. Die Ostberliner Musiker, die in der Zeit ihre liebe Not hatten, ihre Bands über Wasser zu halten, wollten Verträge sehen, Versprechen hatten sie schon genug. Noch dazu nervte ich sie mit Essays, in denen ich ihnen mein Musikverständnis und meine Weltanschauung verklickern wollte. Die erste Zumutung war „Knochenrock auf Tour“,42 im ersten Kapitel „Grund und Schmutz“ dieses Essays heißt es:
Die Intelligenz der Rockmusik ist agnostisch, die Grundsubstanz aquatisch. Beider Substrat vermengt sich gelegentlich mit dem Chtonischen und läßt das Matschig-Marine raushängen. Aber erst mal ist der Trommler der Pilot, leider – wie so oft; zwei Bässe tun’s auch – Klirren, Scheppern und Sirren zengen doch sehr auf den Senkel – und ein ansonsten versteckt Gehaltener spielt sich nicht so auf. Der Bass muß rollen, das Brett plätschern, Rhythmus is’ Kitt, braucht man nur bei dünnem Besteck, aber behutsam – Taktsprünge provozieren Infarkte. Zurückhaltend hantiere man mit dem Schlüsselbrett, das immer dazu neigt, sich zu verselbständigen. Dem Georgel keinen Fußbreit, damit es sich auf einem erschöpft. Holz und Blech sind heiße Eisen, die es gilt, ganz weit von sich oder strikt zurecht zu weisen. Zehn Saiten müssen reichen – die Welt paßt in einen Schrank wie die Straße in einen Tank.
Das zur Instrumentierung; im fünften Kapitel „Schicksalsdämmerung auf Trockendock“ erhielten die Musiker Anweisungen für ihre Lebensführung. Vorangestellt ist eine Lebensmaxime von Bastian Biedermann: „Ich verlier am liebsten zügig, damit ich den Kopf frei hab.“ Fallengelassen am 10. Februar 2001 im Verlauf eines unser damals häufigen 17 und 4-Turniere. Los geht’s: „Rock ist steinalt. Rock kommt von røk, altnordisch für Schicksal, gleichbedeutend mit slawisch poĸ. Rock nimmt das Schicksal in die Hand. Rock bringt Struktur in die Kakophonie der zivilen Gesellschaft. Wahrer Rock ist unversöhnlich gegenüber dem Kapital und weiß sich selbst zu behaupten. Der betroffene Standort bist immer Du selbst. Der allerletzte Schrei ist der allerletzte Schrei – wir sind schließlich nicht mehr die jüngsten.
Wirf doch nur mal einen Blick auf den Schirm: Der Ausdruck der Rockprostituierten schwankt zwischen akutem Entsetzen, nackter Panik und triefender Lebensangst. Das Funkeln der Unsicherheit in den Gesichtern der Beatmusiker der 60er Jahre wirkt vergleichsweise mutig gegenüber den Droh- und Unterwerfungsgebärden des zeitgenössischen Rocknuttentums.
Ich verlange ja nicht, daß Künstler partout Revolutionäre werden müssen, aber Feigheit vor Staat und Wirtschaftsmagnat ist eine schwerwiegende Untugend und ein untrügliches Zeichen für Talentlosigkeit.
Mancher, der im Untergrund gestocken,
neigt im Verlaufe zum Andocken.
Auch ein Arbeiter- und Literatenrat
macht in langen Winternächten Staat.
Der Ursprung muß freigeschaufelt werden. Erkenntnis kommt zu Potte. Urbarmachung zieht Unwägbarkeit nach sich. Warum politisch, wenn’s auch persönlich geht?
Seltsam die Welt,
die Sprache so grausam,
daß es selbst die Samen grauselt.
Ohne Übertreibung, die elf kleinen Mängel der Rockmusik des blutjungen dritten Jahrtausends bestehen doch lediglich in Nepotismus, Hinterhältigkeit, Eskapismus, Egoismus, Revanchismus, Desinteresse, Gleichgültigkeit, Feigheit, Oberflächlichkeit, Veteranismus und mangelnder Selbstkritik. Mit fortgesetzter Menschwerdung und Entwicklung, mit ein bißchen Musikalität und Mutwillen werden wir die doch wohl abstellen.
Solange einer Mensch ist,
lockt er die Leute.
Dziwny jest ten świat! – Die Seele ist die Quelle.“ – Wie ernst es mir mit dem bißchen Moralismus war, beweist das letztliche Berufen auf Niemens Lied „Dziwny jest ten świaf“,43 das weiß Gott ein Georgel vor dem Herrn war, da beißt die Seele keinen Faden ab. In dem Essay „Rock als Unterhaltungstektonik und Überlebensstrategie im Landesinneren (Arabesken zum notgedrungenen Umgang mit Fels’n’Wulst als Bedienungsanleitung für die Opera semiseria RUMBALOTTE)“,44 einer weiteren Gebrauchsanweisung für Musiker, heißt es im dritten Kapitel „Va banque“:
Der Rockmusiker selber ist bestenfalls eine berüchtigte Kirchenmaus. Ab mittlerem Bekanntheitsgrad und gehobenem Taschengeld gibt es keine Rockmusik mehr. Dann herrscht New Wave mit Zimperlichkeit und Stulle, inklusive Bundesverdienstkreuz. Ausnahmen bestätigen die Regel,je nach Rheinpegel. Ein bißchen Loreley ist immer dabei. Die Toten sprechen Bände.
Kurz und gut, mit diesen und etlichen noch detaillierteren Texten,45 deren Rezeption einen guten Humor voraussetzt, trat ich wohl etlichen Musikern auf den Schlips. Unabsichtlich natürlich, ich schreib eben gerne über Musik; versuche eine Rockmusik herbeizuschreiben, die ich gerne hören und anderen präsentieren würde. Da ich schon mal dabei bin, mich zu entschuldigen… bin ich? – Ja, der musikjournalistische Jargon der Regieanweisungen in der Ur-Rumbalotte tut mir nicht wirklich leid, ist mir so rausgerutscht – was soll’s, gesagt ist gesagt. Manche finden sowas keck; Frechheit ist ja wohl das mindeste, was man von Newcomern – deren einer ich bis auf den heutigen Tag in der Librettistenszene durchaus bin – zu Recht erwartet.
Als Rex Joswig und ich 2013 – mal wieder – an einer abgespeckten Version46 der Ur Rumbalotte arbeiteten, nannten wir das zu gründende Orchester „Rumbalotte All-Star Rock and Roll Band, Motorcycle Club & Starship Squad“ – meinerseits natürlich eine Reminiszenz an die Pink Fairies Motorcycle Club and All-Star Rock and Roll Band. Allerdings hatten wir noch gar nicht über die Besetzung gesprochen. Es wäre 2013 wie 2000 gewesen: Die Musiker hatten – gänzlich anders, als ich dachte – nicht auf so ein aufgeblasenes Projekt gewartet, zumal ich von ihnen auch noch eine Zusammenarbeit mit Kollegen erwartete, mit denen sie über Kreuz waren. Es gab und gibt viele Animositäten, die sich nur im Dienst an der „Sache“ überspielen lassen. Aber was ist – heute noch, und immer mehr – die „Sache“? – Immer noch die der Likedeeler, die in der Ur-Rumbalotte zur Genüge erläutert wird.
Daß die Musiker sich gut kannten, bedeutete nicht, daß sie gern miteinander auftraten.47 Nicht umsonst spielten sie ja in verschiedenen – auf ganz eigene Art gewachsenen – Bands. Meine Lieblingssänger, die ich damals alle besetzen wollte, waren Robert Beckmann (Inchtabokatables, GrüßAugust), Rex Joswig (Herbst in Peking), Andre Greiner-Pol (Freygang), Brian Bosse (Freygang), Mario Mentrup (Knochen-Girl, Vivacide, Ladybird, Pasadena Projekt), Ronald Lippok (Ornament & Verbrechen, Tarwater), den sehr geschätzten Alexander Krohn (Britannia Theatre, Majong, Straßenschaden, Feindin) kannte ich damals noch nicht. Über Frauenstimmen hatte ich noch gar nicht nachgedacht, im Manuskript wird nur Tatjana Besson (Die Firma, Freygang) erwähnt, von der ich wußte, daß sie sich unter den ganzen Mannsbolzen würde durchsetzen können. Wie jede richtige Rockband (Pink Fairies, Hawkwind, Melvins) sollte auch die „Rumbalotte All-Star Rock and Roll Band, Motorcycle Club & Starship Squad“ zwei Schlagzeuger haben, nämlich Titus Jany (Inchtabokatables, GrüßAugust) und Benno Verch (Infamis), Keyboard sollte Trötsch spielen und Jakob Enderlein Cello. Einige der Sänger sind Instrumentalisten (Gitarre, Bass, Geige, Schlagzeug), über Solisten hatte ich damals auch noch nicht nachgedacht, der Appetit kommt beim Essen – und dann kommt die Moral.
Klar war mir, daß die Musiker Probleme haben würden, meine geschriebenen Texte zu vertonen. Die von mir vorgegeben Struktur entspricht oft nur bedingt der Rhythmik einer Komposition, das wußte ich schon seit Bands wie Rosa Extra oder Aufruhr zur Liebe in den 80er Jahren meine Texte verändert hatten, um sie für sich singbar zu machen.
Einen einfachen – d.h. nicht in eine Opera semiseria à la Rumbalotte eingebundenen – Rocktext schreibt man eigentlich so: Reminiszenzen, Danksagungen und Verweise – Rocksongs handeln seit den Minnesängern vorwiegend von Rocksongs –, Schrullen, Allüren und Ideen – wenn vorhanden, wenn nicht: klauen – grob systematisieren; Skizze anlegen und in Form bringen; dann üben, dabei Proberaummiasma und aktuellpolitische Verwurstungen einbringen, eigene persönliche und zwischenmenschliche Zipperlein rauslassen bzw. pointiert einsetzen, um die Spannung zu erhöhen und ein Schadenfreudeamüsemang zu gewährleisten. Als Beispiel für eine „Rocktextskizze in Form“ (RTSiF) diene hier die „sexistische Kackscheiße“…
NACHTBOCK
Sie will mir die Zähne schneiden48
und es unhanseatisch krachen lassen;
schlauer kommt man aus der Frau raus.
aaaaaRuppig, struppig,
aaaaaregel- und besinnungslos
aaaaa– oder Sex zurück: Nachtbock.
Sie hat’n Integrationskurs belegt,
aber nich’ mit mir, Lärm und Dreck;
schlauer kommt man aus der Frau raus.
aaaaaRuppig, struppig,
aaaaaregel- und besinnungslos
aaaaa– oder Sex zurück: Nachtbock.
Zur Sicherheit geb ich dem Sänger und Komponisten noch ein paar Ersatz- oder Zusatzstrophen mit: „Schabrackenalarm ohne Darm / aufm ausverkauften Gendarmenmarkt“ oder „Gottseidank herrscht Burkapflicht / entlang der Prioritätsachse für Sachsen“ – und los geht’s, immer locker bleiben und sich nicht vom Dichter gängeln lassen. Bedeutungsschwere kann man nicht komponieren, nur hineininterpretieren. – Anders jedoch war es 1999/2000 mit der Ur-Rumbalotte: allein der Arbeitsaufwand – soviel Drogen gab’s damals gar nicht aufmMarkt.
Natürlich war die Konzeption überbordend; entweder ein Aufzug samt After-Show-Programm pro Abend oder eine Monstershow. Und dann noch die Original Cast Recordings: pro Aufzug – inklusive der verschnörkelten Rohrvortriebe, hier Vor- und Zwischenspiele genannt – ein Doppelalbum. Und ein 10-Zoll-Dreifachalbum für das After-Show-Programm. Und eine Schachtel mit zehn Singles: Best of Rumbalotte Radio Remixes.
3. Рыбъя холера
Zum Konvolut Rumbalotte gehören – abgesehen von dem Gedichtzyklus wasserwirtschaft (und einigen anderen Gedichten in: SBZ – Land und Leute, Zeichnungen von Silka Teichert; Druckhaus Galrev, Berlin, 1998) – neben der hier erstveröffentlichten Ur-Rumbalotte, der 2005 erschienene Gedichtband Rumbalotte (Gedichte 1998–2002, Zeichnungen von Ronald Lippok; Urs Engeler Editor, Basel/Weil am Rhein und Wien), die zwischen 2004 und 2010 im jährlichen Wechsel im Verlag Peter Engstler (Folgen 1, 3, 5 und 7) und im Karin Kramer Verlag (Folgen 2, 4 und 6) erschienenen Fortsetzungen Rumbalotte continua (alle mit Zeichnungen von Silka Teichert), der Essayband Haarbogensturz (Versuche über Staat und Welt, mit 12 Grafiken von Thomas Platt; BasisDruck Verlag, Berlin, 2001) und Teile des „Fortsetzungsromanes“ Tanzwirtschaft (zwischen 2001 und 2004 auf der Internetseite der Tanzwirtschaft Kaffee Burger).
Nach der letzten Publikation 2010 eröffneten meine Frau Mareile und ich die Veranstaltungskneipe Rumbalotte continua und gründeten 2014 auf Anraten von Schwiegervater Arne Fellien den Verein Rumbalotte Prenzlauer Berg Connection e.V. – solchermaßen zum Gesamtkunstwerk ausgeartet, flottiert die aufgebrachte Rumbalotte gegen die Stagnation der sozialen Revolution an. Rumbalotte never stops!
Abgeschlossen wird die Ur-Rumbalotte-Vorarbeit wasserwirtschaft mit dem leider vergurkten – weil komplett unmitteilsamen – Jedicht „fischcholera“;49 mein zweiter mißlungener Versuch an dem Sujet – noch dazu unter falscher Flagge – findet sich im 1. Aufzug der Ur-Rumbalotte unter dem Titel „ett öppet rum“; ein dritter Anlauf erfolgte 2007 unter dem Titel „Fisch-Xolera“ (in: Rumbalotte continua, 4. Folge) – auch dieser Text verfehlte mein Ansinnen, der einzige, der ihm etwas abgewinnen konnte, war Hans Schulze. Bei bestimmten Texten reicht das auch, war aber in diesem Falle nicht intendiert.
Nun also ein weiterer Anlauf in Form eines Abschnitts in einem Vorwort. Neben anderen sowjetischen Revolutions- und Bürgerkriegsfilmen mochte ich als Kind besonders das Rührstück Der letzte Schuß 50aus dem Jahre 1956, ausdrücklich empfohlen sei aber auch die Stummfilmvariante aus dem Jahre 1926.51 Vorlage für die Filme war eine 1924 erstpublizierte Novelle des preisgekrönten52 russisch-sowjetischen Schriftstellers Boris Andrejewitsch Lawrenjow (eigtl. Sergejew, 1891–1959), der sich nach dem Militärdienst im 1. Weltkrieg 1917 der Roten Armee anschloß und u.a. als Kommandant eines Panzerzuges in Turkmenien und Frontberichterstatter am Bürgerkrieg (1917–1922) teilnahm.
In der Novelle Сорок первый (Der Einundvierzigste) verarbeitet er Erlebnisse und Eindrücke aus seiner Kampfzeit. – Die Vollwaise Marjutka aus dem Wolgadelta ist Scharfschützin in einer kleinen Einheit der Roten Armee in Turkestan. „Fischcholera – das war Marjutkas Lieblingswort. Gemeine Flüche liebte sie nicht.“53 Um sich Luft zu machen, benutzt sie den Astrachaner Ausdruck „рыбьа холера“ („Fischcholera“) – so auch wenn sie ihre Abschüsse zählt. Bei einer Attacke auf eine von weißem Militär begleitete Kirgisen-Karawane schießt sie auf einen Offizier: „Der einundvierzigste, Fischcholera.“54 Sie hat ihn jedoch verfehlt und er ergibt sich. Bei einer Leibesvisitation wird ein geheimes Dokument gefunden, in dem er – Gardeleutnant Wadim Goworucha-Otrok – zum Regierungsvertreter von Admiral Koltschak in der Transkaspischen Regierung des Generals Denikin ernannt wird. Die Hobbydichterin55 Marjutka muß Wadim bewachen und erhält später den Auftrag, ihn zusammen mit zwei seefesten Rotarmisten mit einem Segelboot über den Aralsee zum Stab der Roten zu bringen. Der Kommissar schärft ihr ein:
Du trägst die ganze Verantwortung. Paß auf den Kadetten auf. Geht er dir durch – dann wehe! Liefre ihn lebend oder tot im Stab ab. Wenn ihr aber auf Weiße stoßt, gib ihn nicht lebend aus der Hand.
In einem Unwetter erleiden sie Schiffbruch, die beiden seetüchtigen Kämpfer ertrinken, Marjutka und Wadim retten sich auf die menschenleere, unwirtliche und mythenumwobene Insel Barsakelmes – laut Lawrenjow kirgisisch für „Menschenverderben“; nach anderen Quellen kasachisch für „Geh, und du kommst nicht wieder“ –, die von Fischern als Depot für ihre Fänge genutzt wird, die sie abholen, sobald das Wetter es im Frühling wieder erlaubt. Es entspinnt sich eine, leicht durch Fieber, Skorbut, Überdruß und Langeweile sowie weltanschauliche Dispute getrübte,56 Liebesgeschichte. Inzwischen fahnden die Weißen nach ihrem Regierungsvertreter Goworucha-Otrok. Als am Horizont ein vom Wind geblähtes Segel – in der Verfilmung von 1926 ein kleiner Dampfer – auftaucht, feuert Wadim mit dem Gewehr in Luft, und das Boot nimmt Kurs auf die Insel. Als an den Schulterstücken der Besatzung zu erkennen ist, daß es sich um Weiße handelt, erinnert Marjutka sich an ihren Auftrag:
Wenn ihr auf Weiße stoßt, gib ihn nicht lebendig aus der Hand.
Sie erschießt ihn, sein letztes Wort ist:
Mascha!
Sie stürzt zu seinem Leichnam und sagt wieder und wieder:
Blauäugiger.
So endet die Verfilmung von 1956. In dem älteren Film setzt der Dampfer ein kleines Boot mit einigen Soldaten ab, die auf die Insel kommen. Sie sehen, wie Marjutka Wadim erschießt und den Leblosen in ihrem Schoß hält. Als sie Marjutka fragen „Worum geht es? Wer ist das?“, richtet die Kamera das Augenmerk auf ein weißgardistisches Schulterstück und schwenkt zurück auf Marjutkas trauriges und trotziges Gesicht. Sie sieht Folter und Tod entgegen.
Schrecklicher als jedes Geflimmer ist immer noch das Buch. Wadim rennt auf das anlandende Boot zu, Marjutka ruft ihm hinterher:
He, du… verdammter Kadett! Zurück… Zurück, sage ich, du Teufel!
Er ist nicht zu bremsen, sie erschießt ihn.
Plötzlich hörte er hinter sich ein ohrenbetäubendes Donnern, wie wenn ein Planet in Feuer und Sturm untergeht. Er konnte nicht verstehen, woher das kam, sprang zur Seite, um sich vor der Katastrophe zu retten. Und dieses Donnern des Weltuntergangs war der letzte irdische Ton, den er vernahm.57
Mit leeren Augen starrte Marjutka auf den Gefallenen [sic!] und stampfte aus irgendeinem, ihr unbewußten Grunde mit dem linken Fuß auf. […] Im Wasser schaukelte an einem roten Nervenfaden der aus seiner Höhle gerissene Augapfel. Blau, wie das Meer, schaute das Kügelchen sie erstaunt und klagend an. […] Von der Barkasse aber, deren Kiel knirschend in den Sand schnitt, blickten die Menschen voller Bestürzung auf das Vorgefallene.
Schluß. Verhör, Folter und Tod- oder Verrat?- Verschlungenes Gekröse sind die Wege des Realismus, bringen wir Licht und Richtung in die Sache:
KURZER LEHRGANG
der Geschichte der MaStdAR (M).58
Vom Praktiker für Praktikanten.
1. Der Kampf für die Schaffung
der AStER59 in Laurasia (1842–1886)
Die Geburt des Realismus
zieht sich nun schon ewig.
Flaubert und seine Kameraden
„fühlten sich als Ausnahmen
in der platten Menschheit um sie her.
Sie träumten vom Räuberleben,
von der Liebe großer Damen
und dem Kampf für den Islam […]
trugen Dolche, benutzten sie auch
und verstanden zu sterben“,60 und zwar
aus dem Zusammenhang gerissen
„modern, wissenschaftlich und nüchtern.“61
Eine Geistesmode hatte sie verspätet erreicht,
und sie begannen, schreibend zu überholen,
was nicht einzuholen war einstweilen
auf dem Boden der Tatsachen, die im Weg standen.
Notgedrungen wurden aus Söhnen von Vätern Realisten,
wenn auch nur in Blättern und Blättchen mit Aussetzern.
– Drogen stoben so sie schroben
im Kampf um Verwirklichung.
2. Die Bildung der StERiL62 (1887–1917)
Fontane, der „Apotheker erster Klasse“,
wurde nicht nur der Stimulanzien überdrüssig:
„Außerdem denke ich gar nicht daran,
die Berliner Novellenschreiberei –
von der die Leute in ihrer Dämlichkeit glauben,
ich wäre nun ein für allemal darauf eingeschworen –
noch fortzusetzen.“63 „Die Leute mögen dann sehn,
daß ich auf Zoologischen Garten und Hanckels Ablage
nicht eingeschworen bin und daß ich imstande bin,
meine Personen ebensogut eine Simplizitätssprache
wie die Bummel- oder Geistreichigkeitssprache
des Berliner Salons sprechen zu lassen.“64
„Ich will einen neuen Roman schreiben
(ob er fertig wird, ist gleichgültig)…“65
Dieser löblichen Haltung entspringt
„das Gespenst der Likedeeler“,
das „durch die Welt geht“,
Gestalt annimmt und
vorab durchgreift.
3. Die Entstehung der Fraktionen der Mehrheitler
und der Brettbohrer innerhalb der StERiLag66 (1918–1956)
Der Lehrling Heinrich Mann hingegen
„braucht wildere Absonderlichkeiten,
eine Welt der Ungeheuer und Gifte,
einen Himmel, der wie ein Alpdruck ist;
eine Welt auch, wo die Worte rasseln
und klirren dürfen wie Panzer und Foltern,
trompeten wie Elefanten, hysterisch beben
wie eine mit Wohlgerüchen durchseuchte
Priesterin“,67 die es ihm besorgt; so jedenfalls
behält wenigstens er den Überblick,
den er den Akademikern abspricht,
die ihrerseits neoromantisch zurückgiften.
Blickerige Adepten versteifter Fronten
hantieren mit den dicksten Bohlen,
bilden die Keimzelle der Brettbohrer
und schreiben gegen ein System an,
das Kontrahenten unterwandert.
Ein unschönes Kapitel nimmt seinen Lauf,
schweigen wir drüber und scheißen drauf.
Zuhauf, Genossen, der Isolator brennt
bis auf den heutigen Tag; StERiLag,
in eins nun die Hände, kreischen
dicke Bände, die erbleichen
und dem Kommerz weichen.
4. „Zwei Schritte vorwärts, ein Schritt zurück.“ (1918–1956)
Die „diamantne Sprache“ der „goldenen Rose“
des sozialistischen Realismus ist der „Ruf des Herzens“,
der uns zwischen den Kriegen im Ebereschenhain ereilt.
Wir müssen von Reichen absehen, die erhaben siechen,
prompt die Scheibe erahnen und Häscherbeinen entrinnen.
„Wir brauchen alles, was die Innenwelt des Menschen
[…] bereichert, alles, was sein Gefühlsleben vertieft.
Muß man diese Binsenwahrheit erst noch beweisen?“68
aaaaaEng die Schiffe, eng unsre Lager.
aaaaaImmens die Ausbreitung der Wasser,
aaaaaschlimmer noch unserer Erfahrungen
aaaaain der Untersuchungshaft des Verlangens.69
Das Lebensmaterial wird nicht studiert;
Schriftsteller leben innerhalb dieses Materials,
es ist „in die Herzrinde geritzt“, wie Paustowski sagt.
„Man soll sich niemals einbilden, diesen Ebereschenbaum hier […]
könnte man irgendwann einmal für eine Erzählung gebrauchen.“70
– Ist schon geschehen, Extremisten testen Mixer
meist extern, wir können jetzt gehen.
5. Die MaStdAR (i.G.) im Kampf für die Vollendung des Aufbaus
einer befreiten Gesellschaft: die sich weiter hinziehende Durchführung
der Abschaffung jeglicher Verfassung und die 6+4-Verhandlungen (1959–2017)
Prüder als Mann, linientreuer sowieso, legt
sich der DDR-Staatsdichter Kuba ins Zeug
mit Sprechchor-Balladen und Kantaten.
Als Störtebekers Freundin Trebele
verhört wird, höhnt sie den Büttel:
aaaaa„Wo Störtebekers Schätze sind,
aaaaawill dieser Tölpel wissen. –
aaaaaDas weiß der Teufel […]
aaaaaSuchen – Herr – nur suchen!
aaaaaDie Schätze sind jedoch
aaaaaversteckt in Köpfen“.71
Störtebeker währenddessen inspiziert
fernab die Reste einer gelebten Utopie:
aaaaa„Nur Aschen – Aschen […]
aaaaaBesitztum ist ein Netz
aaaaamit dichten Maschen.“72
Die „ökonomische Hauptaufgabe“
ist keine persönliche Sache –
darum teilen wir lieber gleich.
Alles für Alle! Mit aller Gegengewalt.
aaaaa„Massaraksch!“73 – Anarchia.
Рыбъя холера… Nichts als Parolen, jib ma die Patronen.
Die „harte Schreibweise“ der heiteren Muse hat abgedankt,
da beißen auch die Sleaford Mods keine Takelage ab,
es sei denn, Jason Williamson startet ein Anarchist Black Metal74-Projekt.
Wir haben die höhere Stufe des kritischen Realismus erreicht.
Arbeiterkorrespondenten haben den Boulevard übernommen.
Die geistige Ausbeute belletristischer Prosa ist weithergeholt.
Ronja Larissa von Rönne schlägt bei Stefanie Sargnagel nach.
Heut ist Prosa Geschwätz, dem keine Taten folgen. Nicht mal
Rügenfestspiele, geschweige Massenunruhen oder nur Randale.
Anarchistischer Realismus demgegenüber gibt keine Antworten,
stellt von den dummen Fragen die klügsten, die es nicht gibt.
Seine Schilderungen des Nichtmehrwerdens sind nicht wahr,
sondern möglichst wirklichkeitsnah, je nach Verdauungsstand.
aaaaaDie maßlosen Experimente der Brettbohrer75
aaaaaBrüterich Stolterfoht, Rock & Pop-Papenfuß
aaaaaund Grunzmucke-Werder sind von gestern –
aaaaabekloppte Dünndarber kriegen ihr Fett weg,
aaaaaan dem noch Unschuldige knabbern werden.
Sprach der Fraß zum Fressen: „Jetzt könnt ich Dich essen.“
Sagt das Fressen: „Kannste vergessen, so sehr Du schepperst
mit den Hohlzähnen, bequem liege ich ausgebreitet, vergiftet
bis zum Tellerrand – ein schönes Stück Votze, wie der Neger sagt.
Sowas wie mich, würde ich an Deiner Stelle nicht anfassen,
geschweige in den Mund stecken.“ – „Was machen die Bücher?“
– „Die fangen Staub und schützen sich.“ Auf dem Seziertisch
der Antideutsche bietet keinen schönen Anblick, die Rezensenten
erst recht nicht. Zensor spickt Sirup nach Rückstoßprinzip
mit Reizworten und einer wirren Zote, Verunglimpfung
ist der Verminung Pflug. Schießpulver brauchen wir mehr
für die Dicken 6 und Denis Scheck. – „Kerl kaut irritiert
irrer Taktik Urteil.“ – Schickendes schickt sich nicht
in der Schießpulverbereitung, Versuch birgt neues Spiel…
Keine Literatur braucht auch keine Literaturkritiker;
wer Leut’ karikiert, irrt auf seine Art, hat bis heut
noch keinen Suchspielvers entschlüsseln gekonnt.
aaaaaDer Weg von Zola, Balzac und Flaubert
aaaaahat direkt in den Prenzlauer Berg geführt.
6. Die Liquidierung der Überreste massenmedienkompatibler Spione
und anderer Schriftsteller (Politiker). Das Versagen der 6+4-Fraktion im Kampf
gegen den Roman. (Jüngste Vergangenheit und provisorische Gegenwart)
„Die Menschen, die man so als relativ Freie heute kennt,
leben in einer geistigen Degeneration,
die nicht ihres Gleichen in der ganzen Weltgeschichte hat.
Da sind viele Tausende an eine Form gefesselt,
die man den Journalismus nennt.
Andre Tausende sind gefesselt an den Roman.
DER ROMAN IST IMMER SCHLECHT.
Er ist eben eine Kompromißform, die sich entwickelt hat,
gleichschlecht für den Leser und für den Schreiber.
Die Schreiber erdenken ein Leben,
sie verbinden Bruchstücke von Wirklichkeit und Phantasie.
Die Wirklichkeit, unendlich schwer darzustellen, wäre ein Wert.
DER ROMAN IST EINE FÄLSCHUNG.
Aber das ist noch nicht das Schlimme.
Die ROMANSCHREIBER SIND KEINE MENSCHEN von innerer Weite.
Sie haben nicht gelebt um zu verstehen, um zu verzeihen,
zu erklären, um eindeutig zu entscheiden, sondern
sie sind als Mitbeteiligte in der Welt umhergelaufen,
haben ein bißchen gehaßt und ein bißchen geliebt,
sie wollen sich selbst schonen und Fremde
einmal verzerren, ein andres Mal schonen.
Die Wahrheit allein vermeiden sie in jedem Fall.
Sie fühlen sich sogar schuldig, wenn sie der Wahrheit näher kommen,
und gewiß, wenn sie einmal der Wahrheit näher, wahrhaftig näher kämen,
dann würden sie ihre Schuld nach und nach klarer fühlen und wüßten,
daß sie die Schuld durch Arbeit an der Wahrheit abtragen können.
Denn die Wahrheit kann durch viele Arbeit erobert werden.
Man soll nun nicht meinen, daß hier das Wort Wahrheit
in einem irgendwie philosophischen Sinn gebraucht ist.
Es soll die Weite im Wissen der Zusammenhänge bedeuten,
nichts mehr und nichts weniger. Wahrheit
im absoluten Sinne der Philosophie ist Unsinn.
Um vieles fortzulassen, will ich wenig sagen:
Der geistige Mensch von heute kann mit Geschäftigkeit fleißig sein,
er ist geistig faul, schmutzig faul und das gilt für den Dichter
und den Denker, für den Gelehrten wie für den Geistlichen.
Geistige Faulheit, das ist das eigentliche Wesen unsrer Gegenwart.
Es hat gar keinen Zweck, so sehr viele andre Mängel
in den Motiven unsrer Zeit zu suchen.
Geistige Faulheit ist ein so schweres Leiden,
daß daran bei den Schaffenden und den Aufnehmenden alles scheitert,
jede Entwicklung steht seit Jahrhunderten in Europa still.
aaaaaMan muß nur richtig verstehen lernen,
aaaaadaß es großen Fleiß und Geschäftigkeit zugleich
aaaaamit einer echten geistigen Faulheit geben kann.
aaaaaDaß eben um die geistige Faulheit zu erhalten
aaaaaauch viel gearbeitet wird, und zwar in einer Weise,
aaaaadie nicht zu Ergebnissen führt.
Dann hat man das Rätsel.“76
7. Schlußfolgerungen aus der „Miteinbildung“
(vorläufige Gegenwart und jüngere Zukunft)
In einer befreiten Gesellschaft
hat man keine Zeit für Romane;
es gibt keine Freizeit, erst recht keine Ferien,
keinerlei Urlaub, weil es keine Erlaubnis gibt.
– Humor hilft uns heute noch,
wenn auch nicht effektiv genug,
über Unterdrückung und Entfremdung hinweg;
welche Rolle er in einer befreiten Gesellschaft spielt,
ist noch nicht ganz klar, aber absehbar –
Humor ist dann nämlich Ernst, ohne Angst.
Das ist ja der Witz. Wenn wir neben uns stehen.
Wo hört der Spaß auf? Wo fängt die Freude an?
Wo keine Ethik, gebärdet sich Komik.
So wie man heute über Heidegger lacht,77
wird man über die ganze Philosophie, die immer
irgendeiner Machtuntermauerung diente, lachen.
Oder gibt es eine Philosophie oder Humanwissenschaft
der Insurgenz, oder auch nur der militanten Pazifizenz?
Historische Äußerungen von Politikern,
wenn der Geschichtsvergessenheit entrissen,
werden der leichten Muse zugerechnet,
Wahlkampfreden der heiteren Muse.
Natürlich wird sich dieses Amüsement nicht allzusehr
in die Länge ziehen, auch keine Freude bereiten, aber
unverzichtbar ist die billige Freude über die Phrase.
Wie wir uns gebogen haben vor den Scheißhausparolen:
„Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“, was haben die Sklaven gelacht,
und die Sklavenhändler und Esclavagistes; „Gold gab ich für Eisen“;
„Einigkeit und Recht und Freiheit“; „Blut, Schweiß und Tränen“;
„Kommunismus = Sowjetmacht + Elektrifizierung des ganzen Landes“,
mach ma’ das Licht aus; „Ein Volk, ein Reich, ein Führer“;
„Die Würde des Menschen ist unantastbar“, FDGO-oho – FDGB olé;
„Schöner unsere Städte und Gemeinden – Mach mit“,
„Ich leiste was – Ich leiste mir was“ aus der Armenkasse;
„Meine Hand für mein Produkt“, „Wir sind das Volk“;
„Sauerkraut, Kartoffelbrei – Bomber-Harris, Feuer frei!“;
„Europa den Deutschen“; „Feuer, Wut und Macht“ –
scheckig haben wir uns gelacht, und sind es geblieben,
buntgescheckt, schwarzgescheckt – darauf kommt es an.
Der anarchistische Realismus pflegt eine Kombination
aus Lyrik, Wissenschaft, Prosaskizze und Pfiff,
der nah an Phantasie und Reminiszenz gebaut.
„Die Phantasie beruht auf dem Gedächtnis,
und das Gedächtnis auf den Erscheinungen der Wirklichkeit.
Das, was das Gedächtnis aufbewahrt, ist kein Chaos.
Es gibt ein Gesetz, das Gesetz der Assoziationen oder,
wie Lomonossow es genannt hat, das ,Gesetz der Miteinbildung‘.
Es verteilt die ganze ungeordnete Masse von Erinnerungen
nach Ähnlichkeit oder Verwandtschaft in Raum und Zeit,
mit anderen Worten: Es verallgemeinert und ordnet
die Erinnerungen zu einer ununterbrochenen Kette.
Diese Kette der Assoziationen ist der Leitfaden der Phantasie.“78
aaaaa„Wer sich nicht selbst in die Pfanne haut,
aaaaahat sich nicht das geringste getraut.“
aaaaaRaus aus dem Schlumperschlüpper,
aaaaarein in die Fickbüchse – Наука-ука-ука…79
Bleibt die Frage: In welcher Sprache schreiben wir eigentlich? Heute und künftig. In welchem Deutsch, welchem Englisch, wie kriegen wir den ganzen Quatsch raus, wohin mit dem Wortgeschlecht? Anhand eines meiner Lieblingslieder habe ich mir Gedanken gemacht – und es verhunzt, um auf einige Probleme hinzuweisen.
A NEW FORM OF LANGUAGE PT. 1
aaaaaFrei nach Sweethome Under White Clouds80
Smart home81 under white clouds
A flatscreen82 on the wall, it says it all
I had a word long time ago – portmanteau83
Cowderwelsh, I had no Clouseau
Nordic walking thru the shitstorm
Heavy beamer84 in my bodybag
Standing ovations at public viewing
And I see it now
Language lasts and all is wasted…
And we talk happily ever after
A new form of blamage85
Home is where the word is
Im Rahmen dieses Vorwörts kann ich das Kommunikationsdilemma und die Sprachproblematik nur anreißen. Gründungen von „Arbeitskreisen“ stehen ins Haus, das auf privatem Grund und Boden steht: Wie konnte es dazu kommen? Was kann man dagegen tun? Wem gehört die Welt? Wer hat sie sich wie angeeignet? Wo bleibt die Gegengewalt? Steht Austausch auf dem Plan? Welchem Plan – und welcher? Wann? Unter Umständen der digitalen Kommunikation und deren Überwachung – sowie der forcierten Ausbeutung der Arbeiter, die Rohstoffe für die Hardware fördern, backen, brauen und zurechtsintern, den Verschleißschrott zusammenbasteln und programmieren – füllt sich das Maß. Der Krug geht zum Wasser. Wir bilden Spalier. Trotz und wegen der Umzingelung von arschkriechenden Anscheißern bin ich strikt dafür, das schwarz-braun-grün-rot-gelbe Politikerpack schleunigst aus den Gefilden der „Demokratie“ in die Lithiumminen zu expedieren, natürlich in Elektrotransportern. Happy workout! Und eine schlanke Linie. – Der „Cyberspace“ ist sowas von das Gegenteil von „frei“ – wie dem auch sei, ich kann mich jetzt gerade nicht um alles kümmern.
Die Arbeitsbedingungen während der Ausbrezelung des Kurzen Lehrgangs waren gut, der Kontemplation angemessen waren die Wettereskapaden; befeuert durch Plantagenstaub, Aldi-Bier und verschiedene Störtebeker-Sorten entstand folgende Lageskizze:
NASSER SOMMER
aaaaaÜberflutungsmücken unter Brücken,
aaaaader Ton der Fäule bohrt sich ins Ohr:
Die Scheinaufklärung anspruchsvoller Medien
dient der Ernüchterung und Einschüchterung;
Hauptsache verunsichert sind die Aufgeklärten.
aaaaa„Product is the Excrement of Action“,86
aaaaaposaunt die Wochenendbeilage87 aus.
Erkennen kannst du den Erkenner des Erkennens,
die Blaupause aller Religionsführer, und kassieren
Kirchen-, Einkommens- und sonstige Steuern mehr.
aaaaa„Stets hat der Jung mit Igelschnitt
aaaaaim Stiefelschaft sein Messer mit.“88
Stell dem Staat ein Bein, und seinen hörigen Reisigen,
die Aas sind im Geäst der Esche – Fliegen im Netz.
Aus für Brummer und Erbsenlaus, tschüß Schnabelkerf!
aaaaaTsetse, schlimm darben die Arachnoiden,
aaaaaalles vollgepumpt mit Neonicotinoiden,
die über verzwickte Drainagesysteme ins Haff fließen.
Salafistengesocks hat Insektizideknappheit ausgelöst,
Hausbesetzer und Linksradikalisten sind mit Schuld.
aaaaaWenn Schreie anheben im Ebereschenhain,
aaaaaist der Bienenhäscher aus dem Häuschen.
Psychisch labile Polizisten und Journalisten „arbeiten“
Hand in Hand – aber eiskalt steigt Kleist aus der Kiste;
aus dem Nest der Stenz zeigt an der Stanze Einsatz.89
aaaaaIm Gefolge der Geschehnisse um den Gipfel
aaaaagrassiert radikale Geschichtsvergessenheit90 –
aus dem Ruder, aus dem Sinn: Vergießt das Regime Blut,
trieft die Tigerblume, Hortensie hat ihre Reithosen
gegürtet; Schnecken – igitt –, wohin man tritt!
aaaaaWir müssen uns den Bereich ansehen,
aaaaanäher schieben und die Scheibe nähren.
Asbestdachgerassel, es hagelt Katzenköppe. Seeadler
hotten im Horst ab – Kopfklamotten wären schlimmer –;
Fauna erholt, Botanik wie gehabt: Chaos und Anarchie.
aaaaaDer Kapitalismus ist nicht krank,91
aaaaaer selbst ist die Krankheit an sich.
Jegliche „normale“ Aktivität des kapitalistischen Staates
mitsamt seiner ausführenden militärischen, industriellen
sowie kulturellen Organe ist organisierte Kriminalität.
aaaaaDer Keil in der Natur ist der kalte Ruin,
aaaaaLeinkraut beschwichtigt den Lunatiker.
Steigender Taupunkt, niederschmetternde Schwüle,
Tornadoalarm in voller Breite, du meine Güte…
Die Wachen sind müde, die Katzen sind träge.
aaaaaHansas Höhenflug gebremst, unabänderlich
aaaaaerbauen Deppen sich an Nachbauliedern.
Kommentatoren, Moderatoren, eloquente Dünnschisser
der Fernsehshows können kein Haar sträuben; mitreden
heißt schweigen um Kopf und Kragen – Würde bewahren.
aaaaaSinnlose Latschdemos, verkrampfte Randale,92
aaaaaBacchanale und Orgien am hellichten Tage;
verzweifelte Affirmation – igitt –, wohin man tritt…
die DDR in den letzten Zuckungen nahm sich nichts.
Mit Blick auf die Bestsellerliste bestätige ich:
aaaaaDie Phase zwischen der Odyssee
aaaaaund Finnegans Wake war fruchtlos,
nichts gravierendes schlug zu Buche, geschweige danach.
Schriftsteller, die nicht lesen, können nicht schreiben,
aber absondern ohne Ende – siehe Literaturbeilage.
aaaaaKalter Frieden, heiße Füße, glatter Boden,
aaaaa„Marschen vermorasten“, Auen sumpfen ein,93
Arnica blühend bei der Adrenalinbuche am Unterstand.
Unter den Landraubeichen sollte das Bauland reichen,
aber wir werden ein Eiland brauchen für redlichen Anbau94
… und als Basis für eine radikale „klare Kante“ an die extremistische Mitte. Um hochzukommen, müßte man sich allerdings das Sitzfleisch aus’m Arsch reißen, aber wir wollen ja hier nicht alles vollsplattern. Diesen Sommer habe ich die Ostsee nicht gesehen: die Hitze, die Kälte, der Regen, der Wind, das Personal, der Verkehr, die Staffage… – Wenn man die Lage der Ostsee, also die Situation der Menschheit, die die Ostsee wahrnimmt, beschreibt – und wesentlich mehr ist es nicht, was ich neben einigen lyrischen Kinkerlitzchen seit 45 Jahren mache –, hat man keine Zeit, ständig nachzukieken, ob sie noch da ist. Irgendwelche Inseln werden schon noch drin sein, wahrscheinlich mehr als vorher. Gotland weckt schlechte Erinnerungen an den Deutschen Orden, 1398 – gräßliche Niederlage; Tourismus ist die Strafe.
Die Emulatorbrut kommt auf die blutarme Tour mit uraltem Turbo anjegurkt, immerhin schneller als der brutale Tumor erlaubt – und wenn ich hier im Torraum blute und bei der Tortur baumle, an der Mauer blutrot prangt die Ur-Rumbalotte; unter den Rockopern ein Fremdkörper wie Finnegans Wake in der Grabbelauslage – so unwahrscheinlich nicht. Einerseits bahnbrechende Bresche in den Grundsturz, andererseits Abgesang auf Kunstrecken und Rockrabauken, die was taugten – viele sind ja schon tot, andere zu verblödet, um mitzuspielen. Natürlich sind die Felle weggeschwommen, wohin auch sonst? Oder sind schon mal bei irgendjemandem Felle angekommen? Felle gehen gewöhnlich unter, werden zersetzt und schließen sich den Ablagerungen an; wenn sie wieder hochkommen, dann nicht auf die freundliche Tour. – Seid also froh, daß sie erst mal weg sind, die übers Ohr gezogenen und versoffenen Felle. Sie waren nicht gut. Auch für die Zukunft, die wir verantworten, erwarte ich nichts Gutes, bin aber gespannt…
Schließen möchte ich mit einer Erklärung der Thematik des Vorwörts,95 die Hans Schulze gefallen wird; ein zerfleddertes Exemplar der See-Marken, das ich als junger Mann so gern gelesen habe, hat er nun mit sich genommen, ich hatte mir wohlweislich ein neues besorgt. – Mein Vorsatz war: in seiner ganzen Inbrunst, seiner Kühlheit die Operette des Menschen auf dieser Erde zu preisen; mehr noch die Schlagerparade seines Marsches über diese Erde, die grün angegangene Schwarzmetaller heute so gerne herabsetzen und verkleinern, um ihr schließlich jede Bedeutung anzusprechen, jeden höchsten Zusammenhang mit den großen Kräften, die wir entfacht und nutzbar gemacht haben. Eine Welt ohne Menschen ist uns nicht denkbar;
aaaaaMeer des Baal, Meer des Mammon – Meer jeden Alters und jeglichen Namens,
aaaaaMeer des Anarchogorgon – frühestes Antlitz unserer Träume,
aaaaaMeer der Verheißung von diesem und jenem,
aaaaaMeer ohne Regentschaft, Meer ohne Hüter und Gatter,
aaaaaMeer des Festes, des Liebesknochens und der Negerküsse,
aaaaaund Meer auch der Tat!
aaaaaUnaufhörliches Meer in Waffen, angreifendes Meer,
aaaaaOrdnung und Wahnwitz – maßlose Freiheit!
aaaaaDie Völker zerren an ihren Ketten beim bloßen Klang deines Namens,
aaaaazuckende Vulva. Wir hatten Worte für dich und wir hatten nicht Worte genug,
aaaaaWorte sind sie ferner nicht für uns, da sie nicht ferner Zeichen sind
aaaaanoch Schmuck, sondern das Ding selbst, das Sache ist –
aaaaaMeer des Anarchogorgon, Meer des Menschen an und für sich,
aaaaaund Meer auch der Tat!
Die Unversehrtheit des Menschen – des Menschen jeglicher Zeit, mit Leib und Seele… in seiner Widerständigkeit –, sie sollte sich behaupten… wie eine Mikrobe.
Microb und Mensch leben schon lange zusammen – solange es Menschen gibt. Microb hat Mensch ermöglicht: Mensch ist eine Enkelin des Microb. Microb hat ihre Enkelinnen gehegt und gepflegt und deren Verbreitung über den ganzen Planeten ermöglicht. Mensch hat Microb lange Zeit gar nicht wahrgenommen – erst als Mensch sich aus der Natur erhob (vermittels seiner monotheistischen Hierarchien), nahm Mensch Microb deutlich wahr: als strafende Hand der Natur – Sumpffieber, Cholera, Pest. So wurden die Ahnen allen Lebens auf der Erde von Mensch als Schädling klassifiziert. Erst nach Jahrhunderten erkannte Mensch, daß es auch gute Seiten unserer Ahnen gäbe: 1.) daß sie es sind; 2.) daß wir Ihresgleichen zu jeder Zeit zur Aufrechterhaltung eines guten Leibesergießens benötigen (Genmaterial, Mitochondrien, Darmbakterien etc.); 3.) daß sie uns von Zeit zu Zeit Anlaß zur Selbstinventur geben (Schnupfen). Natürlich gibt es auch (für Menschen) tödliche Microben – das Leben ist tödlich. Wir nehmen uns dabei sehr wichtig – als Population, als Volk, Familie, Ich. Das Spiel der Evolution ist so eingerichtet, daß der Tod die Individuen an den Rändern der Population ereilt: der Ort der Übergabe verbrauchten Materials an das Biotop, an Microb zurück. Niemals ist es vorgekommen, daß Microb eine ganze Population vernichtet hat – im Spiel mit sich selber gewinnt die Mutationsrate des Unterschieds (selbst AIDS verschont 8% der Erkrankten – genug, eine neue Population zu bilden). Die Evolution spielt mit sich selbst: W und M, zuerst nur microbisch, später pilz- und pflanzlich, fischig und tierisch. Evolution überzieht den ganzen Planeten. Wo Wasser vorkommt, gibt es heute Microben, Pilze, Insekten, Pflanzen, Vögel, Menschen.96
Rock on!
Bert Papenfuß, Vorwort
Geradezu aufs Geratewohl: Seit nunmehr über 60 Jahren bin ich Bert Papenfuß zugestoßen, und auf die mehr oder weniger grobe Tour mit ihn vertraut (Ich hab ihn nicht ausgesucht, er hat mich nicht gewollt.) Fast ein Drittel dieses Zeitraums hat er an die Rumbalotte der einen oder anderen Art verschwendet; literarisch, antipolitisch, musikalisch und gastronomisch. Zwischenmenschlich will ich ihm gar nicht reinreden, auf gut Glück ist er genauso gut vorbereitet wie kein anderer auch. Jahrzehnte her habe ich über seine Schulter geschaut, als er in sein Tagebuch schrieb: „Ich diene dem Nichts, habe nie nach Vielleicht geheischt…“ – Mutig war das nicht, unnütz sind Sätze, die mit „Ich“ anfangen: „Um Ich dreht sich Nichts.“
Voraus ins Aus führten in der Popepoche vor der Rumbalotte schon andere maritime Elaborate, aufmüpfig oder nicht: das mißlungene Doppelalbum Odessa der Bee Gees (1969), die patetische Rockoper Юнона и Авосъ (Juno & Avos; von Alexej Rybnikow nach einem Libretto von Andrej Wosnessenski, 1980), die Rockoperette Pussy, King of the Pirates von Kathy Acker und den Mekons (1969) und der strittige Aufklärungsfilm Два капитана 2 (Zwei Kapitäne 2; von Sergej Debishew, Musik Sergej Kurjochin, Boris Grebenschtschikow, 1992). Die Ur-Rumbalotte ist nun ein weiteres fünftes Rad am Wagen, ein Geniestreich ins eigene Fleisch.
Aber der unbändige – insofern auch platte und plättende – Humor haut einiges raus, und eine Breitseite Koketterie schlägt notwendigerweise ins Kontor der Unterhaltungsbranche. Insgesamt ein brauchbares Libretto, das einem nicht direkt um die Ohren gehauen wird, aber auf einsamer Flur anspringt. Wer zuletzt lacht, soll froh sein, daß er überhaupt lacht. Nicht jedem ist danach.
Ich bin ja nun weiß Gott schon etwas älter – Dämonin nennt man mich, euphemistische Muse… – und habe einigen Überblick, auch über die vorliterarischen Umtriebe der Menschen und das, was aus den literarischen resultieren wird – aber was den Rumbalottist betrifft: Als Realer, der er ist, hätte er mehr erreicht, denn als selbsternannter Realist. Von Anfang an habe ich gemahnt, jedes Buch solle geschrieben werden, als sei es das letzte. Davon haben wir jetzt eins mehr. Notfalls dient es der Arterhaltung. Авосъ повезёт.
Fancy Douwes Dekker, Klappentext, 2017
abgesehen von dem Gedichtzyklus „wasserwirtschaft“ (und einigen anderen Gedichten in: SBZ – Land und Leute, Zeichnungen von Silka Teichert; Druckhaus Galrev, Berlin, 1998) – neben der hier erstveröffentlichten Ur-Rumbalotte, der 2005 erschienene Gedichtband Rumbalotte (Gedichte 1998–2002, Zeichnungen von Ronald Lippok; Urs Engeler Editor, Basel/Weil am Rhein und Wien), die zwischen 2004 und 2010 im jährlichen Wechsel im Verlag Peter Engstler (Folgen 1, 3, 5 und 7) und im Karin Kramer Verlag (Folgen 2, 4 und 6) erschienenen Fortsetzungen Rumbalotte continua (alle mit Zeichnungen von Silka Teichert), der Essayband Haarbogensturz (Versuche über Staat und Welt, mit 12 Grafiken von Thomas Platt; BasisDruck Verlag, Berlin, 2001) und Teile des „Fortsetzungsromanes“ Tanzwirtschaft (zwischen 2001 und 2004 auf der Internetseite der Tanzwirschaft Kaffee Burger).
Nach der letzten Publikation 2010 eröffneten meine Frau Mareile und ich die Veranstaltungskneipe Rumbalotte continua und gründeten 2014 auf Anraten von Schwiegervater Arne Fellien den Verein Rumbalotte Prenzlauer Berg Connection e. V. – solchermaßen zum Gesamtkunstwerk ausgeartet, flottiert die aufgebrachte Rumbalotte gegen die Stagnation der sozialen Revolution an. Rumbalotte never stops!
Als weiteres Zwischenergebnis liegt nun dieser 328-seitige schwärzliche Ziegel vor. Sehen wir weiter, woran sich rütteln läßt.
Bert Papenfuß
Oktjabrskaja Rumbalotte / Октябрьская РумбаЛотте am 9. November 2017 Wabe, Berlin
Auszug aus dem Soundtrack RUMBALOTTE – Opera Semiseria für Großes Besteck von Bert Papenfuß / LIVE (Szenische Lesung mit Sound) / feat. Bert Papenfuß, Frank Diersch, Rex Joswig u.v.a.
Heribert Tommek: „Ihr seid ein Volk von Sachsen“
ABWECHSLUNG
Gleich hinter der Grenze im Hammer-und-Sichel-Emblem:
Die rote Sichel – den roten Hammer im Munde – ihre Spitze
so dicht nahe am Griff, als wolle sie Fahrkarten knipsen.
Vor einer großen, dunklen, aber auch blühenden Kastanie
ein zweites, aber ihre Sichel, rot wie die erste, nur geöffnet
und ihre – diesmal längere – Spitze erhebt sie,
als sei sie ein Vogel nun in der Welt und bitte um Futter.
Elke Erb, 1978
Bert Papenfuß gewidmet zum 60. Geburtstag
Mark Chaet & Tom Franke sprechen mit Bert Papenfuß im Sommer 2020 und ein Auftritt mit Herbst in Peking beim MEUTERLAND no 16 | 1.5.2019, im JAZ Rostock
Kismet Radio :: TJ White Rabbit presents Bertz68BirthdaySession_110124_part 2
Lorenz Jäger: ich such das meuterland
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.1.2016
Zeitansage 10 – Papenfuß Rebell
Jutta Voigt: Stierblut-Jahre, 2016
Thomas Hartmann: Kalenderblatt
MDR, 11.1.2021
Nachruf auf Bert Papenfuß bei Kulturzeit auf 3sat am 28.8.2023 ab Minute 27:59
Bert Papenfuß liest bei OST meets WEST – Festival der freien Künste, 6.11.2009.
Bert Papenfuß, einer der damals dabei war und immer noch ein Teil der „Prenzlauer Berg-Connection“ ist, spricht 2009 über die literarische Subkultur der ’80er Jahre in Ostberlin.
Bert Papenfuß, erzählt am 14.8.2022 in der Brotfabrik Berlin aus seinem Leben und liest Halluzinogenes aus TrakTat zum Aber.
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