Die Lehre der Leere

Selbst ein leeres Blatt Papier, als Zeichen gegen den Krieg, wird in Putins Russland nicht mehr geduldet und zieht polizeiliche Strafmassnahmen nach sich. – Diese knappe Information entnehme ich einem aktuellen Korrespondentenbericht aus Moskau. Der Bericht ergänzt entsprechende Meldungen vom vergangenen Herbst aus der Volksrepublik China. Um gegen die repressive Corona-Politik der Regierung zu protestieren und die Rückkehr zur Normalität zu fordern, gingen damals in mehreren Grossstädten erboste Bürger auf die Strasse, doch ihr Anliegen artikulierten sie nicht – wie sonst auf Demonstrationen üblich – mit Schrifttafeln und Sprechchören, sondern mit weissen, stumm in die Höhe gehaltenen Papierblättern.
Diese subtile, rein symbolische Art des Widerstands wird nun also auch in der Russischen Föderation (mit Blick auf den Angriffskrieg gegen die Ukraine) praktiziert, und auch hier gilt sie als staats- und volksfeindliches Vergehen.
Dass leeres (neues, neutrales) Schreibpapier behördlichem Verbot und polizeilicher Sanktion unterliegt, verleiht der Zensur eine bisher unbekannte, geradezu phantastische  Dimension: Verfolgt und bestraft wird eine Meinungsäusserung, die als solche nicht konkretisiert, sondern – im Gegenteil – zurückgehalten beziehungsweise offengelassen wird. Da wird nichts gesagt, nichts geschrieben, aber eben doch vieles gemeint: «Das weiße Papier steht für alles, was wir sagen wollen, aber nicht sagen können», bestätigte damals in Peking ein Demonstrationsteilnehmer gegenüber dem ausländischen Berichterstatter.

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© Felix Philipp Ingold & Planetlyrik