Poesie und Poetik des Namens
Beispiele, Analysen, Kommentare
Teil 20 siehe hier …
Das weibliche Pendant zu Hans Arps «kaspar» ist die ebenso grandiose «Anna Blume» von Kurt Schwitters. Die beiden experimentellen Dichtwerke erschienen 1919 fast gleichzeitig im Druck, beide gehören zu den poetischen Inkunabeln des Dadaismus.
Auch von «Anna Blume» gibt es mehrere Schriftfassungen, Schwitters hat den Text wie den Namen über viele Jahre hin präsent gehalten – «Anna Blume» wurde rasch zu seiner künstlerischen Galionsfigur und ist es bis heute geblieben.
Im Unterschied zum Arp’schen «kaspar» ist «Anna» ein weit verbreiteter, eigentlich trivialer, aber doch bedeutungsschwerer Eigenname, den auch zahlreiche Herrscherinnen, Heldinnen, Heilige getragen haben. Schwitters ergänzt ihn durch das ebenfalls geläufige Wort «Blume», das hier als Familienname fungiert. Die beiden Namen soll er in Berlin als kindliche Mauerinschrift entdeckt und zum Anlass des Gedichts genommen haben: «Anna Blume hat ein Vogel.» Der Text ist denn auch explizit «An Anna Blume» adressiert, wobei diese gleich zu Beginn als «Geliebte» und als «ungezähltes Frauenzimmer» angesprochen, schliesslich auch erotisch angegangen wird:
…
Dein Name tropft wie weiches Rindertalg.
Weisst du es Anna, weisst es schon,
Man kann dich auch von hinten lesen.
Und Du, Du Herrlicheste von allen,
Du bist von hinten, wie von vorne:
A——-N——N——A.
Rindertalg träufelt STREICHELN über meinen Rücken.
Anna Blume,
Du tropfes Tier,
Ich——liebe——Dir!
Anders als Arp thematisiert und nutzt Schwitters den Widmungsnamen, weist ihn als ein Palindrom aus, das «auch von hinten» so zu «lesen» ist «wie von vorne».
Doch im übrigen steht «Anna Blume» wie «kaspar» in einem rational nicht erschliessbaren Beziehungsnetz – Anna ist eine «rote» Blume, die «kalte Glut» erzeugt; ihre «roten Kleider» sind «in weisse Falten zersägt»; sie ist ein «liebes grünes Tier», «Blau» ist die Farbe ihres »gelben Haares» und «Rot» die Farbe ihres «grünen Vogels», sie geht auf Händen und trägt auf den Füssen einen Hut usf. – Der Liebende (hier das lyrische Ich) bringt seine emotionale Überwältigung ungeschönt, ja unbedarft zum Ausdruck: «Oh Du, Geliebte meiner 27 Sinne, ich liebe Dir! | Du, Deiner, Dich Dir, Du mir , – – – – wir?» – Wenn Arp in «weh unser guter kaspar ist tot» ein abstruses Klagelied intoniert, so richtet Schwitters an die unbekannte «Anna Blume» einen wortreichen Liebesschwur – nicht zum Abschied, sondern in diesem Fall zum Auftakt einer langjährigen poetischen Affäre.
… Fortsetzung hier …
© Felix Philipp Ingold & Planetlyrik
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