Felix Philipp Ingolds Skorpioversa – Poesie und Poetik des Namens (Teil 20)

Poesie und Poetik des Namens
Beispiele, Analysen, Kommentare

Teil 19 siehe hier

Im Arp’schen Metaphernschwall hebt sich ein einziges Fremdwort ab, das französische «wörtchen parapluie» (Regenschirm), mit dem Kaspar angeblich die Schiffe auf dem Meer «verwirrte».
Der zweisprachige, umfassend belesene Hans (Jean) Arp spielt damit zweifellos auf die «Gesänge Maldorors» (Chants de Maldoror) von Isidore Ducasse Comte de Lautréamont an, die ab 1869 bis ins späte 19. Jahrhundert in mehreren Ausgaben erschienen und nachmals für die dichterische Avantgarde (Soupault, Breton, Artaud) vorbildlich geworden sind. Im letzten der sechs «Gesänge» imaginiert Lautréamont eine «beiläufige Begegnung zwischen einer Nähmaschine und einem Regenschirm auf einem Seziertisch», eine Vorstellung, die für den Dadaismus und den Surrealismus wegleitend geworden ist.
Wenn sich eine «Nähmaschine» und ein «Regenschirm» auf einem «Seziertisch» zum Rendez-vous treffen können, dürfte es irgendeinem «kaspar» nicht schwerfallen, vergleichbare Konstellationen mit beliebigen Objekten einzugehen, etwa mit einem Reh, einem Pferd, einer Ratte, mit klappernden «heufischen», mit einem «heissen Wirbelwind», mit einem «durchsichtigen ziegel» usf.
Hans Arp selbst hat sich sehr viel später an einen Besuch bei Wassily Kandinsky in Bayern erinnert, der um 1912 stattgefunden haben soll, also eben zu der Zeit, da der «kaspar» im Entstehen oder vielleicht bereits entstanden war. Auch Kandinsky habe damals mit Sprache experimentiert und erste poetischen Texte verfasst, berichtet Arp, und er setzt erläuternd hinzu: «In diesen Gedichten tauchen Wortfolgen und Satzfolgen auf, wie dies bisher in der Dichtung nie geschehen war. Es weht durch diese Gedichte aus ewig Unergründlichem. Es steigen Schatten auf, gewaltig wie sprechende Berge. Sterne aus Schwefel und wildem Mohn blühen an den Lippen des Himmels. Menschenähnliche Gestalten entkörpern sich zu schalkhaften Nebeln. Erdlasten ziehen sich Ätherschuhe an.» Usf.
Diese Präzisierungen lassen sich unmittelbar und unverändert auf Arps «kaspar» übertragen, für den Kandinsky nebst Lautréamont also eine zweite Quelle gewesen sein könnte. Doch damit wäre noch immer nicht geklärt, weshalb und wozu Hans Arp ausgerechnet – ausgerechnet?  – einen toten «kaspar» (und nicht etwa einen Holofernes oder eine Sissi) zum Gegenstand seiner Wehklage macht. Man darf jedoch vermuten, dass die Namenswahl ein Zufallstreffer war, eine zufällige Reminszenz, eine zufällige Assoziation, die sich als solche im Gedicht konkretisierte, ohne irgendeine Bedeutung oder gar eine bestimmte Aussage nahelegen zu wollen.

… Fortsetzung hier

© Felix Philipp Ingold & Planetlyrik

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