Felix Philipp Ingolds Skorpioversa – Poesie und Poetik des Namens (Teil 23)

Poesie und Poetik des Namens
Beispiele, Analysen, Kommentare

Teil 22 siehe hier

Literarische (fiktionale) Eigennamen haben in der Namenspoesie eine ähnliche, oft die gleiche Funktion wie mythologische oder biblische Gestalten – Don Quijote und Gulliver, Bartleby und Odradek verfügen wie Ödipus oder Onan über ihre jeweils eigene Aura und sind als Typen leicht zu fassen.
Daniel Defoes «Robinson», Vorname zu Crusoe, steht bis heute unverwandt für den furchtlosen, selbstbewussten, zielstrebigen, optimistischen, vernünftigen, aber auch gottgläubigen weissen Mann, der sich selbst im Scheitern, ja, gerade im Scheitern zu behaupten vermag entgegen dem blinden Walten der Natur und des sogenannten Schicksals. Als einziger Überlebender eines Schiffbruchs richtet er sich mit einfachsten Mitteln und gesundem Menschenverstand auf einer unbekannten Insel ein, organisiert seinen Lebensgang, kultiviert die Erde und gewinnt schliesslich in einem «wilden» Insulaner einen Diener und Schüler («Friday»), dem er in der Folge die Grundbegriffe der europäischen Zivilisation sowie die Tugenden des Christentums beibringt.
Mit dem Namen «Robinson» ist ein Gedicht von Christa Reinig betitelt, erschienen um 1960 und nachmals vorübergehend als Schulbuchtext sanktioniert. Robinson wird hier völlig unheroisch als ein braver Mann vorgeführt, der sein Überleben durch handwerkliches Geschick und umsichtiges Planen ziemlich ambitionslos sicherstellt – kein Wort von seinem Scheitern und seiner Rettung, kein Argument für Bildung oder Glauben, nur einfach die knappe Charakterisierung seines alltäglichen Tuns zur Erhaltung der eigenen schlichten Existenz.
Dieser Robinson ist das Gegenteil eines forschen Kulturhelden, der sich die Wildnis unterwirft, indem er sie zivilisiert; er ist ein Mensch wie du und ich, der sein Unglück nicht meistert, sondern lediglich es besteht im schweigenden Umgang mit sich selbst, «halb aus not und halb im spiel», der aber doch das Bedürfnis hat, sich wenigstens mit seinem Namen, den er bereits zu vergessen beginnt, in die Geschichte der diesseitigen Welt einzuschreiben: Nicht «Schall und Rauch», wie oftmals angenommen, ist der Eigenname, vielmehr überdauert er als materieller Beweis dafür, dass «ich» da war.

Robinson

manchmal weint er wenn die worte
still in seiner kehle stehn
doch er lernt an seinem orte
schweigend mit sich umzugehn

und erfindet alte dinge
halb aus not und halb im spiel
splittert stein zur messerklinge
schnürt die axt an einem stiel

kratzt mit einer muschelkante
seinen namen in die wand
und der allzu oft genannte
wird ihm langsam unbekannt.

… Fortsetzung hier

© Felix Philipp Ingold & Planetlyrik

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