Felix Philipp Ingolds Skorpioversa – Poesie und Poetik des Namens (Teil 6)

Poesie und Poetik des Namens
Beispiele, Analysen, Kommentare

Teil 5 siehe hier

In einem heiter gestimmten, dennoch tiefsinnig und rätselhaft wirkenden dreistrophigen Gedicht thematisiert Günter Eich anderweitig seine «Gespräche mit Clemens» (1964), ohne offenzulegen, dass es sich dabei um seinen halbwüchsigen Sohn handelt. Als Leser, als Leserin hat man es folglich einfach mit einem gewissen Clemens zu tun, der auch anders heissen könnte. Am ehesten würde man, dem Text folgend, einen vielleicht gleichaltrigen Bekannten des Autors vermuten.
Jede Strophe beginnt mit dem leitmotivischen Vers «Nun ist alles besprochen» – als wäre damit eine langjährige Konversation definitiv abgeschlossen und würde nun ein letztes Fazit daraus gezogen:

Nun ist alles besprochen,
die Zukunft der Freunde,
die Pflasterung,
die Anfänge mit Vogelvau.

Nun ist alles besprochen
bis ans Ufer, wo sie angeln.
Alle Brücken wie in Avignon,
halb und sie tanzen darauf.

Nun ist alles besprochen,
die Urkunden und die Schwermut,
Versuche in Wasserfarben, Versuche
mit Scheunenschlüsseln und Schnee.

Da hier «alles besprochen» ist, gibt es wohl weiter nichts zu sagen. Was besprochen wurde «bis ans Ufer, wo sie angeln», und bis nach Avignon, wo gemäss Volkslied unentwegt getanzt wird, findet im Text wohl stichwortartig Erwähnung, bildet aber keinen plausiblen Zusammenhang – «Pflasterung»? «Anfänge mit Vogelvau»? «Urkunden», «Schwermut», «Scheunenschlüssel», «Schnee»? Eine disparate Aufzählung privater Dinge und Momente, die sich dem aussenstehenden Leser nicht erschliesst, schon gar nicht dann, wenn man weiss, dass hier ein Erwachsener mit einem Jugendlichen spricht. Und wieso überhaupt führt Eich den Namen seines Sohns im Gedichttitel explizit an, da er doch im Text mit keinem Wort – etwa «du» oder «wir» – auf ihn zu reden kommt?
«Clemens» könnte in diesem Fall irgendwer (gewesen) sein. Als Clemens Eich selbst erwachsen war und das Gedicht seines Vaters zu Gesicht bekam, vermochte er darin nichts Persönliches zu erkennen: «Ich gestehe», schrieb er dazu in einem bekenntnishaften Beitrag für die FAZ, «daß mir gerade das Gedicht „Gespräche mit Clemens“ eines der fernsten und fremdesten ist, wahrscheinlich weil es um mich geht. Geht es wirklich um mich, handelt es wirklich von mir?» – Daraus folgt, dass selbst der reale Eigenname im dichterischen Text kein Garant für Authentizität sein kann und dass ein Namensgedicht auch nur ein Gedicht ist.

… Fortsetzung hier

© Felix Philipp Ingold & Planetlyrik

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