PHANTASIE
Schneelose Winter sind das einzige Wunder,
an das man noch glauben kann. Niemandem
wachsen Flügel, um an den Nordpol zu fliegen,
niemand kennt die Abkürzungen, die den Weg
zu sich selbst erleichtern, niemand kann
die Zeit, die er anderen stielt, jemals zurückgeben.
Die einen lernen Ziehharmonika, die anderen
passen besser auf sich auf, handeln mit Müll oder
hassen Schrebergärten, und wer Trost spendet,
lügt für einen guten Zweck. Wer schmiert, bekommt
den Zuschlag, wer sich lobt, will von sich ablenken,
und wer Phantasie hat, rückt näher an die Freiheit
heran, die Logik, die Weitsichtigkeit. Die Kühle
der Weinkeller inspiriert die Kopflosigkeit, die Demut
umarmt die Zuversicht, die Zuversicht umarmt
das Vertrauen, das Vertrauen umarmt die ganze Welt.
Kampflieder sind Wiegenlieder des Todes, auch die
Musik lässt sich missbrauchen, und wir zahlen
den Lobbyisten auch noch den Strom für das günstige
Licht, in das sie sich stellen. Nachts sitzen wir
im Dunkeln, tagsüber kommt immer wieder die Angst
vor der Nacht, in der wir auf den Tag warten. Auf die
Wahrsager ist kein Verlass, und die Horoskope sind auch
nicht mehr das, was sie waren. Die Ungeduld ist ein Vorrecht,
das sich die Ungeduld nimmt. Unsere Vereine sind alt
wie die Tradition der Rudelbildung, ohne die unser
Selbstbewusstsein nur zur Hälfte funktionieren
würde, Hass, Liebe, Neid wären kraftlos. Trotzdem
wissen wir nicht immer, worauf wir warten, wir wissen
nur, dass es etwas sein muss, das Rettung bringt.
Er ist ein Seiltänzer. In schwindelnder Höhe, ohne Netz und Sicherung zeigt er seine Sprachartistik. Mit verblüffender Sicherheit, elegant und exzellenter Balance schreibt Franz Hodjak seine Verse, schwebend und doch von bestechender Präzision, gleichsam in die Luft gemeißelt. Da ist kein Wort zu viel, kein Wort zu wenig. Und doch kann er zupacken, hart oder derb sein. Der Alltag bestimmt den Inhalt der Texte, verquer, grotesk, lächerlich, bedrückend, aber auch heiter, beschwingt und einfach schön. Worte aus unserer technisierten Welt drängen sich vor, müssen zurechtgewiesen werden. Manchmal wie hingetupft, dann mit Brechungen und irrwitzigen Sprüngen – keine Angst, der Mann stürzt nicht vom Seil – schreibt Franz Hodjak seine Gedichte.
Bereits seit 1970 publizierte Franz Hodjak Kinderbücher, Erzählungen, Romane und Lyrikbände. Sein sechsundzwanzigstes Buch liegt nun vor. Noch immer ist er ein Sprachkünstler, der darauf vertraut, dass alles sagbar ist. Aber ein neuer Ton ist unverkennbar: die Welt ist anders geworden, die Menschen haben sich verändert. Skepsis kommt auf; es bedarf der Ironie, gelegentlich des Spotts, um der Verzweiflung standzuhalten beim Zug der Lemminge in Richtung der Klippen. „Worauf man sich verlassen kann, ist das Sterben / der Wälder, Abwassersorgen, Querulanten, illegale / Autorennen…“, „Der Wetterbericht / sagt Frost an und warnt: Eisblumen, die / von Herzen kommen, seien Blumen / des Bösen…“, „ein Heiligenschein, eine zynische Mondscheibe, / zu der nur noch Verliebte / hochblicken, Debile und / Astronauten“. Aber der Poet weiß:
Vieles kommt, manches geht,
nur der Zufall bleibt aus.
Und „Es gilt, Überraschungen zu / überstehen, die Geduld wurde in der Wüste / geboren“. Sein Lebensresümee besagt:
Meist bin ich zu spät gekommen
oder zu früh gegangen.
Aber noch hat er Hoffnung, Hoffnung, dass Leben auch in Zukunft möglich und erträglich sei. Denn noch gilt:
… und irgendwann hört man
am Himmel die Freude der Kraniche,
die zurückkehren.
Helmut Braun, Nachwort
– 2022 war das Jahr des Franz Hodjak, eigentlich. Die inzwischen 78 Jahre alte rumäniendeutsche Dichterlegende, die in Hermannstadt aufwuchs und nach einem Philologiestudium im Klausenburger Dacia Verlag als Lektor arbeitete, legte über das Jahr verteilt sage und schreibe vier neue Gedichtbände vor. Allein, es nahm kaum jemand Notiz davon. Die weitgehend ausbleibende Rezeption hat unter anderem mit Hodjaks Publikationsgeschichte in Deutschland zu tun. –
Dessen hiesiges literarisches Debüt, der Gedichtband Sehnsucht nach Feigenschnaps, kam 1988 im Aufbau Verlag heraus, siebzehn Jahre nach dem Debüt in Rumänien. Derjenige, der dafür die Auswahl aus dem Fundus der schon von Anfang der Siebzigerjahre an publizierten Texte traf und sie mit einem richtungsweisenden „Nachsatz“ versah, war niemand Geringeres als der erst kürzlich gestorbene einflussreiche ostdeutsche Lektor und Dichter Wulf Kirsten. Kurz danach begann schon Hodjaks Karriere im Suhrkamp Verlag. Dort veröffentlichte er bis 2003 acht Gedichtbände und Romane. Den Startschuss der Serie gab wiederum eine Auswahl aus seinem lyrischen Werk, nämlich Siebenbürgische Sprechübung. Das war 1990, als Hodjak noch in Rumänien lebte. Er sollte erst zwei Jahre später nach Deutschland auswandern. Er war einer der letzten rumäniendeutschen Schriftsteller von internationalem Format, welche die kleine Sprachinsel verließen. Sein jüngerer rumäniendeutscher Dichterkollege Werner Söllner, auch er inzwischen gestorben, schrieb das Nachwort zu Siebenbürgische Sprechübung. Was die Erschließung des geschichtlich-kulturellen Kontextes angeht, in dem das Hodjak’sche Werk im Rumänien der späten Sechzigerjahre seinen Anfang nahm, steht sein Nachwort dem „Nachsatz“ Kirstens in nichts nach.
Mit dem Ende der Unseld-Ära des Suhrkamp Verlages, der Verleger Siegfried Unseld starb 2002, änderte sich die Verlagsprogrammatik und erfolgte auch die Zäsur in Hodjaks Rezeptionsgeschichte. Er verlor im ungünstigen Schriftstelleralter von knapp sechzig Jahren seinen dortigen Publikationsplatz und wurde ein Nomade zwischen kleineren Verlagen, der er bis auf den heutigen Tag geblieben ist. Das Schicksal teilt er mit vielen, deren Werke anfänglich zu einem nicht geringen Teil wegen ihrer historischen Relevanz (Zensur im Kommunismus) in die Programme publikumswirksamer Verlage aufgenommen wurden. Je weiter die Ereignisse in die Ferne rücken, die das jeweilige Werk einst historisch relevant machten, desto schwieriger wird bei gleichbleibender Qualität (oder gar Steigerung) des Werks die Findung publikumswirksamer Verlage dafür. Das ist tragisch.
Hodjaks vier Gedichtbände des Jahres 2022 erschienen in vier verschiedenen, kleineren Verlagen: Gedenkminute für verschollene Sprachen im Leipziger Literaturverlag, Was nie wieder kommt in der Stadtlichter Presse (Besprechung in der Siebenbürgischen Zeitung, Folge 9 vom 31. Mai 2022, Seite 8), Hin und nicht zurück bei Vorwerk 8 und Alles wurde privatisiert, selbst die Funklöcher und die Schatten in Platons Höhle bei SchumacherGebler.
(…)
Der Gedichtband Hin und nicht zurück fällt nicht so sehr durch besondere Themenschwerpunkte auf, sondern mehr durch aphoristische Passagen, um die herum sich die Gedichte ballen, durch lakonische Feststellungen: „Das Leben ist eine Folge / von Pannen“, lautet eine, und eine andere:
der Glaube an sich selbst ist ein Schwächeanfall
des Bewusstseins
Augenfällig ist vor allem die Machart der Texte. Sie fokussieren nur in Ausnahmefällen eine einzige Sache und bevorzugen das Nebeneinander von ortsgebundenen Gleichzeitigkeiten. Das Hodjak’sche Gedicht ist hier wie eine 360-Grad-Kamera, die in der Lage ist, Bilder aus allen Richtungen in einem Bereich von 360 Grad sowohl horizontal als auch vertikal aufzunehmen, und reicht doch über die Summe des Einverleibten hinaus:
zählte man
alles zusammen, was gleichzeitig
Platz hat in einem Augenblick, reichte
das weit über die Ewigkeit hinaus
Und es wird einem erneut deutlich, dass der im Verlust seiner rumänischen Herkunftslandschaft Beheimatete, ein Liebhaber von Transitzonen und Durchreisen, immer die richtigen Fragen stellt: „ob die Störche/ vor Heimweh oder Fernweh wiederkommen“, will er einmal wissen.
(…)
Alexandru Bulucz: Erleidenslyrik
„Der Raum hat mich geprägt“: Interview mit Franz Hodjak in Usingen
Eine Lesung von Franz Hodjak aus unveröffentlichten Texten und ein Gespräch mit den Autoren Werner Söllner und Peter Motzan am 27.5.1992 im LCB.
Enikő Dácz spricht mit Franz Hodjak über Die Erfahrung der Bewegung
Peter Motzan: „Ich wohne in einem Türrahmen“
Ostragehege, Heft 35, 2004
Tom Schulz: Sehnsucht nach Feigenschnaps
Neue Zürcher Zeitung, 26.9.2014
Georg Aescht: Mühlen antreiben, doch welche? Franz Hodjak (70) weiß Letzteres nicht und tut Ersteres erst recht
Siebenbürgische Zeitung, 19.10.2014
Franz Hodjaks Laudatio zum Siebenbürgisch-Sächsischer Kulturpreis 2013 in der St.-Pauls-Kirche Dinkelsbühl.
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