DER ENGEL TRUG EIN LANGES PERGAMENT
Ein langes Pergament entrollt der Engel trug,
traurig blickend sah er zur Erde nieder.
Von Ohrringbrillanten blitzender Abend du
für mich, der traute umsonst: Lebwohl in Frieden!
Gebet auf den Lippen du und Denkmal und Ruhm,
gewiß wirst du einst mir Erinnerndes sagen!
Die Gralsburg brach dir, Lyciens Glockenstuhl,
unter dem Fuß; ich hörte die Totenklagen.
Oh wie blaß erschien der fernen Planeten Glühn,
der Traum, dem alle Ziele kamen zuschanden,
der Wolke Glanz und der stattlichen Pappel Grün,
die uns oben am Himmel Asiens standen.
Ein langes Pergament hielt der Engel fürwahr,
und das Laub machte fallen des Bogens Bleiche.
Umsonst vertraute ich dir; lebwohl immerdar!
Umsonst einander suchten wir zu erreichen.
Der Vorhang sank in des Bernsteintrudels Tosen −
vor Angst und Scheu durchfällt den Abend ein Beben,
der Abend verglüht, und es sterben die Rosen…
Lebe wohl, lebe wohl, lebe wohl dies Leben!
Übersetzt von Elke Erb
Die eindringliche Frage des Gedichts „Wind, der weht“ (Karikris, 1924) ist unüberhörbar Anklang an Akaki Zeretelis berühmtes Lied „Suliko“, wo die sehnsuchtsvolle Suche nach der verlorenen Geliebten zugleich Suche nach dem Antlitz einer freien, demokratischen Heimat ist. Das Bekenntnis zur georgischen Tradition einerseits- die Mondnacht in Tbilissi beschwört die am Heiligen Berg, am Mtazminda, beigesetzten großen Geister der Nation, wie Ilia Tschawtschawadse und Nikolos Barataschwili – und andererseits die Faszination durch die französischen, vor allem aber, dank persönlicher Bekanntschaft, durch die russischen Symbolisten, Balmont, Brjussow, Block (das Gedicht „Schnee“) sind die beiden Pole, zwischen denen Galaktion Tabidse, unbestritten der bedeutendste georgische Dichter des 20. Jahrhunderts, seine Stimme erhebt.
Wind, Unruhe, reinigende Bewegung – der Dichter geht ganz auf in der stürmischen Zeit, in die er hineingeboren wurde („Ich bin der Wind, ich bin dieses Wehen…“ – als dynamische Verkörperung des Windes übrigens zeigt ihn ein eindrucksvolles Denkmal in Tbilissi). Der Verfall des zaristischen Imperiums birgt größte Hoffnung sowohl auf soziale als auch nationale Befreiung. Spontan darum der Gruß an die Februarrevolution 1917: „Fahnen, schneller!“, aber die Enttäuschung über das Ungenügen an Veränderung folgt bald: „Der Engel trug ein langes Pergament“. Höchste Sensibilität gegenüber äußeren und inneren Befindlichkeiten und eine fast naturgewaltige Muse, das sind die Kennzeichen des Werkes von Galaktion. Als Symbolist stand er, allzu eigenständig, dennoch außerhalb der Freundesgruppe der Symbolisten, der „Blauen Trinkhörner“ um Tizian Tabidse und Paolo Iaschwili.
„Georgischer Block“ wird er oft genannt, und niemandem sonst gehört er so sehr wie den Georgiern, denn Nachdichtung von Lyrik, fragwürdig immer und zugleich unumgänglich, wird hier zum extremen Fall: nicht nur Bilder, Visionen, Assoziationen drängen einander, der geniale Neuerer der georgischen Dichtkunst macht seine Verssprache geradezu zu Musik, schafft Ornamentenbänder in Tönen – nicht ebenmäßige griechische Mäander, sondern, mit dem stetig sich abwandelnden Binnenreimen, georgische Weinlaubgirlanden, wie sie, immer wieder anders, variiert dank nicht versiegender Schöpferlaune, die Baukunst schmücken, Fenster und Eingänge der Kirchen rahmen, der Kirchen, die viel eher Ausdruck einer kulturellen Zugehörigkeit sind denn Bethäuser.
Galaktions Wiege stand am Fluß Rioni, dem antiken Phasis, gleich neben der Landungsstelle der Argonauten in der Kolchis und unweit von Wani, der Königsstadt des Äetes. Und bis in die mythische Vorzeit reicht das Geschichtsdenken des Dichters, wenn er, in stürmischer Gegenwart des Jahres 1927 auf dem Schiff „Theodor Nette“ – zu einer Zeit, die mit moderner Technisierung das neue Heil kommen sieht – auf dem Grund des Schwarzen Meeres die versunkene Stadt Dioskurias erblickt.
Das Hauptwerk Galaktion Tabidses ist das der zehner und zwanziger Jahre. Später, als er, oft in der größeren Form des Poems, den Aufbau des Sowjetlandes begleitet, die Industrialisierung besingt, die Kollektivierung der Landwirtschaft – alles in der besten Absicht, für die neue Gesellschaft zu wirken –, erfährt sein Schaffen bis auf wenige Ausnahmen eine starke publizistische Verflachung, der eigentliche Galaktion ist dann tot, wenngleich die Autorität des Dichters insgesamt unangefochten bleibt.
Wie Galaktion über die Sprachbarriere hinwegführen? Auf die Schwierigkeiten mit Galaktion weist bereits das Verhalten des im heutigen Weltgefüge Georgien nächstgelegenen russischen Kulturkreises hin: Scheues Sichenthalten bei Boris Pasternak, der als Georgien-Freund viele Georgier nachdichtete, und Überschwang, allzu freies Umsetzen bei Bella Achmadulina. Dazwischen andere Versuche, sich Galaktion in russischer Sprache zu nähern.
Deutsche Wege zu Galaktion – so könnte dieses kleine Auswahl heißen, die zum 100. Geburtstag des Dichters erscheint. Die Nachdichtungen, denen sämtlich Interlinearübersetzungen aus dem georgischen Original zugrundeliegen, versuchen ihrerseits, eine Ahnung zu geben von den Schönheiten und der Eigenart dieser Poesie vom Ostrand Europas.
Kristiane Lichtenfeld, Nachwort, 1991
Poet’s Corner in jede Manteltasche! Michael Krüger: Gegen die Muskelprotze
Hans Joachim Funke: Poeten zwischen Tradition und Moderne. Eine neue Lyrikreihe aus der Unabhängigen Verlagsbuchhandlung Ackerstraße.
„Für Galaktion gäbe jeder Georgier alle anderen Dichter des XX. Jahrhunderts ohne zu zögern her, für den großen Symbolisten im Weltkreis der Yeats, Blok, Mallarmé, für den wirrbärtigen Trinker, der sich vor einigen Jahren mit dem Ausruf „Das Meer! Das Meer!“ aus dem Fenster gestürzt hat, für den schwierigsten und volktümlichsten georgischen Dichter unseres Jahrhunderts.“ weiß Adolf Endler zu berichten.
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