HERAKLION
morgengrauen
die bettler gehen vor anker
die schiffe liegen schon da
ein einbeiniger verwartet sein leben
bis der tod ihm auch das andere nimmt
die freiheit von allen leiden
liegt in der luft aber du weißt nicht
ob der große jubel anbrechen wird
den die traktate versprechen
seliges hindämmern im schattigen garten
von flüssen durchflossen der grünt
in der hoffnung der denkfaulen
oder ob die sechzehn-stunden-sonne
weiter den gelben untergrund
des hafens bloßschlägt
stein und brake fallen ohne anzuhalten
die spur einer anderen heimat zurück
als ein besorgtes nachtgebet
deiner kindheit sie dir beschrieb
du ißt die schwere
liegst deinen abdruck in ihr
aber das licht schürft schon die mulde aus
der mittag schläft breit
über den händen der bettler
die wie segel herabhängen
Was ist das ein Derwisch?
Einer, der sucht, den es umtreibt, von Bleibe zu Bleibe.
Wen oder was sucht er, der Derwisch?
Den Sinn. Den Geliebten.
Wer soll das sein, der Geliebte?
Schwierig zu sagen. Er ist niemals gesehen worden. Bücher und Mütter berichten von ihm.
Stellt der Geliebte Bedingungen?
Ja. Loslassen, weitergehen. Singen. Sich nützlich machen.
Wie denn – singen?
In einfacher Weise und klaren Worten. Vom Aufstehn am Morgen. Vom Lächeln am Abend. Von der Erddrehung. Geheimnisse braucht er nicht, er ist ja geheim.
Gibt es einen Fehler, den der Geliebte vergibt?
Verwechselt werden – mit jedem Gegenstand am Weg.
Aber was soll, bei alledem, noch die Katze?
Den Geliebten anzweifeln. Die Reise verschlafen. Ihr Fell herleihen. Nachrichten schnurren.
Und am Ende?
Es gibt keins. Nur Dauer, Wiederholung, Neuanfang.
Eine letzte Frage. Könnten sie sich vorstellen selbst Derwisch zu sein?
Was sonst, da ich Mensch bin,.
Gisela Kraft, Klappentext, Aufbau Verlag, 1989
Die Gedichte dieses Bandes wurden aus folgenden Veröffentlichungen ausgewählt: Eines Nachts in der Zeit, Edition der 2, Berlin (West) 1979; Istanbuler Miniaturen, Eremiten-Presse, Düsseldorf 1983; Aus dem Mauer-Diwan, Eremiten-Presse, Düsseldorf 1983; An den zeitlosen Geliebten, Eremiten-Presse, Düsseldorf 1985 (mit freundlicher Genehmigung der Eremiten-Presse). Außerdem wurden eine Anzahl verstreut gedruckter Gedichte aufgenommen.
1
Wenn man etwas längere Zeit glaubt, ist man schon in gewisser Weise religiös: Das Credo ist das eigentlich Menschliche, mag es im grandiosen Stumm-Sein des Yün-mën, mag es im mit den Tieren redenden heiligen Franz zum Ausdruck kommen oder unerbittlich auf der eiskalten Stirn eines Robespierre erstrahlen. (Selbst der trockenste Buchhalter hat seinen Glauben: den an die Stimmigkeit seiner Akten.)
Zwei unauflösliche Dinge sind für mich in der Welt, an die man, völlig unbedingt; glauben muß, will man sie wahrhaben: Das eine ist die Liebe, das andere sind Gedichte (Mag irgendein Apoll mir diese Tautologie nachsehen!). Ein Geschöpf, wie ein Gedicht es ist, der unüberblickbaren Wirrnis der Existenzen hinzuzugesellen, ist ein „unüberlegter“ Akt der Liebe – und des Glaubens: In beiden ruht die geheime Ordnung des Gewesenen und des Kommenden, sonst wären sie nicht in der Welt. Deshalb sind wahrhaftige Gedichte pantheistischer Natur: Sie machen die Quellen lachen, den Stein weinen und bestenfalls den Leser andächtig, nicht dem Gedicht als solchem, sondern seinem „Sesam“ zu seinen Stoffen, gegenüber. Der Kultus aller Lyrik ist das Tertium comparationis, ist die feierliche oder laxe, die klagende und anklagende An-Rede in allen offenen und verhüllten Formen. Immer aber ist er das Zwie-Gespräch als Feier des Erlöstseins aus der großen Verstummtheit: im Gedicht. Darum ist der wahre Lyriker ein Franz von Assisi, ist er einer, der auf dem Tiger Mittagsruhe hält wie jener Legende gewordene Meister des südlichen Zen, ist er einer, der mit einem Pilz redet wie Leo Tolstoi, mit einem Glas Wasser wie Françis Ponge oder Gisela Kraft mit einer namenlosen Hauskatze zu einer Zeit, die Ewigkeit heißt, in Konstantinopel oder Istanbul oder wie auch immer dieser Weltort noch heißen mag. Dieses Gedicht, das entscheidend zur Benennung des Bandes beitrug, heißt: „Gespräch zwischen einem derwisch und einer katze die im stadtteil cancurtaran in einer byzantinischen mauernische wohnen“.
Schon dieser (sehr profane) Titel zeigt, daß die Gedichte der Turkologin und Islamwissenschaftlerin Gisela Kraft „Gelegenheitsgedichte“ im besten Sinne sind: Einen wichtigen Teil der in zwanzig Jahren entstandenen Gedichte finden wir in Katze und Derwisch versammelt. Der Titel des genannten Gedichtes täuscht auf ein DDR-Phänomen hin, das ich hier pejorativ Reiselyrik nennen möchte: Jemand ist mit kargen Mitteln durch mittelkarge Hotels irgendeines Landes gehetzt und präsentiert dann den insgeheim staunenden Daheimgebliebenen nicht Moment-, sondern eher Ewigkeitsaufnahmen eines möchtegern durchlebten exotischen Draußen. Das trifft auf Gisela Kraft nicht zu, die bis 1984 in Westberlin lebte und sich einige Landstriche Asiens – nicht nur immer als Tourist – erwandert hat. Oder dieses Dichten trifft nur in einem höheren Sinn zu, eben dem des Derwisch-Seins, das ja auch wesentlich ein reisendes ist, wie man in dem klugen und poetischen Nachsatz und im Klappentext Gisela Krafts lesen, wie man es in den Formen der Bewegung in den Gedichten selbst erkennen kann (Da ist ein Kommen und Gehen, auch im Geistigen, kontemplative Rast und brunnentiefe Versenkung, dort werden Arbeiten getan, da läßt man sich auf klassischen Wellen treiben und wird – an anderem Ort – durch ein Labyrinth gehetzt). Gisela Kraft hat sich den Orient (auch und gerade in Kreuzberg!) nicht nur er-lesen, sondern sie hat ihn sich auch er-lebt. Insofern erwarb und besitzt sie ein Rückgrat für ihre Gedichte, wie es auch etwa Erich Arendt oder Johannes Bobrowski eigen war in ihren für die meisten unerinnerbaren Gedicht-Landschaften, die hierzulande fast nur eine Chance haben, wenn sie einer Sehnsucht von Lesern begegnen, die von Fernweh geprägt ist, welches immer auch nach Welt-Anschauung strebt.
Einige Gedichte Gisela Krafts eben dieser erreisten Derwisch-Art – und es sind für mich auch die stärksten des Bandes darunter, – möchte ich aus den angegebenen Gründen etwas näher betrachten: Sie bilden ohnehin den Hauptstamm in Katze und Derwisch – neben dem der Liebesgedichte. Aber beide überschneiden sich, beide Stämme sind, vom sie durchwaltenden Geist her, deckungsgleich. Ich sprach von einer gewissen Religiosität aller Lyrik. Bei Gisela Kraft treten – vom Gegenstand mitbestimmt (und vielleicht nun ein bißchen verwirrend) – einige Aspekte des Islams hinzu, sowohl türkisch als auch arabisch geprägte, besonders aber auch vom persischen Sufismus (zum Beispiel Hafis und Sa’adi) beeinfIußte, in den wiederum Elemente der Religionen um Zarathustra und Mithra mit eingingen. Aber auch die ,Ka‘-Vorstellungen der alten Ägypter, Vermutungen über die Minoer, der urwüchsige Heraklit und die bis heute lebendige Ethik des Epikur schweben da und dort zwischen den Zeilen. Aber wiederum: Nicht diese Anschauungen sind es, die den innersten Geist dieser Gedichte ausmachen: Am ehesten ist dieser Geist mit einem Begriff von Korff zu umschreiben: dem der PANEROTIK. Panerotik – die Liebe zwischen Mann und Frau zum Anlaß nehmend, um sie auch im Entferntesten nie ganz zu vergessen – weitet sich in ein universales Wechselverhältnis. Sie ist Sehnsucht und Forderung menschlichen Gattungswesens und strebt nach immer neuen Stufenübergipfelungen, Läuterungen und Er-Läuterungen. Sie ist Liebeshalluzination im positiven, schöpferischen Sinn, der die Welt in den all-überall an-wesenden – „zeitlosen Geliebten“ verwandelt, wie auch im konkret Geliebten alle irdischen Potenzen – und Fährnisse – erblickt. Vielleicht mag darum auch für Gisela Kraft selbst in gewissem Umfang zutreffen, was sie in ihrem Nachwort zu den Gedichten des Türken Fazil Hüsnü Daǧlarca (Volk und Welt 1984) schrieb:
Deutlicher zeigt sich sein Verhältnis zur Natur an, die er im Kommenden, auch in ihren unbelebten Formen, seinem Verbund der Geschöpfe einreihen wird: einem Biotop aller irdischen Existenzen mit dem Menschen als zutiefst Gezeichnetem und einzig Sprechendem in der Mitte, das zur Fortdauer im All in friedlicher Tauschbewegung, genannt Liebe, bestimmt ist.
Bei Gisela Kraft ist dieser Geist der Liebe selbst da anwesend, wo wir möglicherweise mit Schaudern oder Scham oder einfach aus purem Unverständnis unseren Blick abwenden würden. Zum Beispiel im genannten Gedicht von „Katze und Derwisch“. Es ist etwa so unwiderruflich wie das ,ich bin der ich bin‘ aus dem biblischen Exodus. Es läßt sich nur als Ganzes zitieren:
GESPRÄCH ZWISCHEN EINEM DERWISCH
UND EINER KATZE DIE IM STADTTEIL
CANCURTARAN IN EINER
BYZANTINISCHEN MAUERNISCHE WOHNEN
was denkst du katze
was denkst du derwisch
ich habe hunger katze
ich habe hunger derwisch
es regnet katze
keine lust wegzulaufen derwisch
gott ist groß katze
dein kissen wird feucht derwisch
gibt es uns katze
vielleicht derwisch
du bist warm katze
deine hand ist wie ein stück fell derwisch
dein fell ist wie ein stück von gottes hand katze
vielleicht ist gott ein tiger derwisch
Es gibt sicher schönere und für Gisela Kraft selbst wesentlichere Gedichte in Katze und Derwisch, aber dieses ist, so glaube ich, eines ihrer besten: Eine orientalische Kardinaltugend – die gleichermaßen im Osten auch, meist Elend bedeutet – macht sich Gisela Kraft besonders in diesem Gedicht zu eigen: die Zeitlosigkeit. Die innere Zeit des Gedichtes ist nur in Stunden und Jahrhunderten zu messen. Es ist ein Gedicht in enormem Zeitraffertempo. Dies zu wissen, ist für ein tieferes Verstehen und Lesen wesentlich. Die Dialogpartner des Gedichtes besitzen (wortwörtlich!) die Zeit, von ihrem Wesen und von der Not gedrungen: Die Katze hat die Ewigkeit ihrer Gegenwart, und der Derwisch weitet seinen Geist ins Unendliche. So sind sie beide zwei der unzählbaren Attribute „Gottes“ und deshalb intim in ihm verbunden. Aber nicht nur das haben sie gemeinsam. Das „was denkst du“ beider schließt auch die Deutung eines warum denkst du noch ein; denn ihrer beider größte Gemeinsamkeit hat den ebenso großen und sehr realen Namen des Hungers (der wiederum beim Derwisch nicht nur ein leiblicher Hunger ist, denn im Gedicht geht er eher nach „gott“ denn nach Brot). Der Dialog, nicht nur des Hungers wegen, findet in der Wirklichkeit allein zwischen der Hand des Derwischs, die „wie ein stück fell“ ist, und dem Fell der Katze, das „wie ein stück von gottes hand“ ist, statt. Es ist ein Austausch, ja eine Vermählung, aber eine für kurze Zeit nur und aber eine auch, die immer wieder einmal vollzogen wird. In Worte übersetzt hat das erst Gisela Kraft, die es gesehen und durchschaut hat. Und dieser Dialog – im Gedicht! – mit der Katze, um zustandezukommen, brauchte einen „Derwisch, der sich auf das Urmaß des bloßen Katers zurückläutert“, wie Gisela Kraft in ihrer Erzählung „Müllname“ einmal schrieb (aber auch: Das Wort Derwisch stammt aus dem Persischen und bedeutet ja eigentlich: arm!). Beide, Katze und Derwisch, befinden sich also auf der – wieder wortwörtlich! – gleichen Stufe und können erst jetzt miteinander reden. Der überlegene Partner, der dann auch das letzte und letztmögliche Wort hat, ist natürlich die Katze, denn sie ist, wie auch immer („keine lust wegzulaufen“) mit ihrem Wesen zugleich Existenz. Nicht so der Derwisch in seiner Tragik: Er findet trotz seiner Wesenskräfte nicht zu seinem menschlichen, nämlich zu seinem historischen Dasein, das stets eine Form des Handelns ist. „gibt es uns katze“, fragt er darum, und die Katze antwortet mit einem schlitzäugig ermunternden, ja auffordernden „vielleicht derwisch“. Sie läßt sich nicht vereinnahmen in ein tröstlich Gottväterliches, wie es der Derwisch für sich und die Katze erträumt. Die Katze, bleibt, was sie ist: Katze. Mehr kann sie nicht sein, und etwas anderes kann sie nicht sein wollen: Sie redet von sich und schnurrt aufrührerisch dem Derwisch folgerichtig zu: „vielleicht ist gott ein tiger derwisch“. Das ist eines ihrer Spiele, sei es hier auch von höherer Art. Dem Derwisch indessen muß es damit ernst sein. Er muß notwendigerweise seinem Gott auch dieses Attribut, das ihn ja betrifft und längst und von jeher betroffen hat, zugestehen! Somit könnte dieser Dialog von vorn beginnen. Und das tut er: Diese asiatische Szene ist uralt. Und sie findet – zahllos –, in diesem Moment statt. Und sie findet statt nicht nur in Istanbul, nicht nur in der Türkei, nicht nur in Asien! Und nicht ohne Grund ist sie im beinahe sachprosaischen Titel an real begehbarem Ort angesiedelt: Von einer „byzantinischen mauernische“ ist die Rede: Der Hergang ist exemplarisch: lange vor diesem Derwisch gab es zum Beispiel schon einen oströmischen Christen mit genau derselben Katze in genau demselben Gespräch in eben dieser Nische der Geschichte! Wir haben mit dem Gedicht zwar kein großes orientalisches Emblem, aber dennoch ein tiefes, aus dem wirklichen, nicht dem gedichteten Osten und über den Osten weit hinauswirkendes Leitmotiv: Es ist ein wesentliches Gedicht aus der – so abwertend, aber auch, treffend benannten – ,dritten Welt‘ mit all ihren ruhenden und/oder gefesselten Wesenskräften. Nicht die grelle Sonne Allahs, wie sie der Abendländer allem Orient beiwünscht, strahlt über dem doch letzten Endes gottverlassenen Ort des Gedichtes, sondern es regnet. Es regnet einen wirklichen, aber auch einen mythischen Regen, der vielleicht auch ein Weinen ist. Ich habe wenige Dichtungen gelesen (nur bei Beckett und dann durchweg fernöstliche) mit solch ungeheuren, so ausdauernden und bedeutsamen Pansierungen: Ich bin geneigt zu sagen: Das Gedicht besteht in seinem Tiefsten aus Verstummtem, aus Schweigen. Der Regen und diese Ruine Istanbuls, in der Katze, und Derwisch – dennoch – „wohnen“, sind nicht nur kulissenhaft im Gedicht anwesend: Sie schweigen nämlich von dem Unabänderlichen, vom Ewigen. „Allah akhbar“: „gott ist groß“, sagt darum der Derwisch, aber die Katze, die hoffnungsvolle Katze mit den sieben Leben in ihm sagt das einzig Dagegensetzbare: „dein kissen wird feucht derwisch“ (Beginnt man, mit diesem Gedicht, umzugehen, will man, nach solch einem Regen, irgendwann und irgendwo – ,weit hinten, fern in der Türkei‘ – das schweigenbrechende goethische Orakel „Schon grunelt’s“ vernommen haben…)
Das Gedicht hat die Abgemagertheit und das Ungekünstelte ganz alter Mythen. Es ist mit Recht nahezu unartifiziell, denn das ist seine höchstmögliche Kunst-Form. Form gewinnt es allein aus dem Kontrast von journalistischer Ankündigung im Titel und einer nicht aufgelösten Tragik, so alt wie die Menschheit, die sich im Gedicht so unendlich – und wohl auch unheimlich – zu besänftigen vermag. (Um – sich reproduzierend – zum 777. Male zu überleben…)
Anapher und Epipher, seit jeher auserkorene Lieblinge orientalischer Dichtung, etwa im Ghasel, ragen noch als kleinstmögliche Stümpfe in die Versenden: als namentliche Anrede.
Denn: Der erste Schritt, gemeinsam einem Teufelskreis zu entrinnen, ist das gegenseitige Vergewissern der Eigennamen, mögen sie auch nur – „Armer“ und „Katze“ lauten.
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Somit komme ich auf eine wichtige Schlußfolgerung zu sprechen, die Panerotik, verdient sie ihren oben beschriebenen Namen, gerade heutzutage in sich einschließt, nein, aus sich heraus handelnd eröffnet: Sie ist vor und mit und nach dem Gedicht die aktive Lebenshaltung der Solidarität. Sie hat ihre Schuldigkeit weder schon im gegenseitig registrierten Kleben von Solimarken noch mit dem leprösen Klappern von Sammelbüchsen getan, denen eine gottgeheime Kontroll-Lasche unterm Wurfschlitz eingegeben ist. Sondern sie besitzt unter anderem die seltene und aufrufende Gabe, sich selbst das Elend in der Welt im wahrsten Sinne des Wortes zuzuschreiben. Ein weiteres Gedicht von Gisela Kraft, nah dem Derwisch und der Katze in Istanbul, führt uns nach Kairo. (Von diesem Malstrom aus stiller Uraltehrwürdigkeit und tosendem Müll mag man im literarisch nur durch Galgenhumor zu bewältigenden und bewältigten Gedicht „nilpromenade“ Näheres lesen. Wozu jedoch Drucke- und Korrektorei übrigens noch ihre unmöglichen Strudel – und nicht nur dort! – beitrugen, und zwar so gedichtentstellend, daß man den auch noch aus-gesetzten ,Zwiebelfischen‘ im Buch nahezu Wasserflöhe hinstreuen möchte!…) Das Gedicht heißt „aus dem totenbuch“. War über der Szene in der byzantinischen Nische ein Verstummtsein angebracht, das nur, im – doppelt fiktiven! – Rollengedicht überhaupt noch etwas sagen konnte, so redet hier die Dichterin selbst und auch von sich selbst. Und indem sie das tut (unter anderem über ihren Unmut redet, verständlicherweise nie ganz des Orients gewesen zu sein; indem sie sich rechtfertigt, sich scheinbar – und überquellend – verteidigt und anklagt), holt sie einen anderen Armen (oder Derwisch) vor unsere Sinne: den „granatapfel verkäufer am ataba-platz“. Dessen Attribute als Händler, dessen soziales Dasein und das ihre, eben auch das – wie schon an der stambuler Nische – der „Vorübergehenden“, der Vorübergehen-Könnenden!, türmt sie auf zu einer „pyramide“ aus Klage, Anklage und Selbstanklage. Aber sie hat dazu nur die „granatäpfel“ der Worte, und sie wagt es nicht, wie es einmal auch Brecht für Barlachs Verhüllte vom Hamburger Ehrenmal für gut hieß, den Schleier einer Individualität zu lüften, die im Gegensatz zu der ihren höchstens eines unnennbaren und platten Elends ist. Aber dann schreibt sie:
auch vom granatapfelverkäufer
am tahrir-platz
und vom granatapfelverkäufer
am ramses-platz
und vom granatapfelverkäufer
am talatharb-platz
und von jenem an einer ecke
der gomhoriya-straße
und der sharia adli
und noch von vielen granatapfelverkäufern
habe ich keine granatäpfel gekauft
denn ich brauchte keine granatäpfel
und weiter:
deine armut brauche ich um niemals
zur ruhe zu kommen
bis es keine armut mehr gibt
könig granatapfelverkäufer…
Die letzten, wünscht auch Gisela Kraft, werden die ersten sein: Und sie erhöht den Granatapfelverkäufer vom Ataba-Platz, wie es Rembrandt wohl mit einem Bettler als Salomo-Modell tat, mit einem „thron“. Ein ,malerisches Elend‘? Es wird aufgehoben durch den unerbittlichen Duktus der lyrischen Rede. Aber das Genaue der Szenerie mag – bei allem – den Eindruck einer momentan hektischen Zerknirschung der Weltfühligkeit nicht dämpfen: So wäre da immer noch der Gedichttitel: „aus dem totenbuch“. Eine wahrhaft niederschmetternde Gott- und Geistgesellschaft empfängt den abgeschiedenen Ägypter des Altertums, das immer noch in der Gegenwart Ägyptens ein wenig anwesend ist. Er hat im Saal einer auch noch ,doppelten Gerechtigkeit‘ sein Herz auf die Waagschale zu legen. Hier beginnt – auf Leben und Tod – seine Selbstdarstellung. Sie ist – will er die wohl (neben den tibetanischen) ungeheuerlichsten Totenlabyrinthe, die je menschlicher Geist ersann, zu ewigem Leben durchstehen – in einem Katalog von minutiösen Rechtfertigungen niedergelegt und vorgefertigt: und zwar im 125. Kapitel des ägyptischen ,Totenbuches‘ („Ich war nicht leichtfertig. Ich war nicht träge. Ich war nicht schwach noch matt“, beteuern etwa jene Floskeln.) Aus diesem uralten Buch bezieht das Gedicht seine Stärke, seinen Stil und – wiederum – das Zeitlose. Am Schluß heißt es:
könig im leben und im tod
laß mich auch dieses mal
an deinem thron vorbeigehen
unbehelligt auf meinem weg in die finsternis
Parallelen tun sich hier auf zu den „istanbuler miniaturen“, wo wir Stellen finden wie:
der mensch
auf die amöbe zurückgeführt
–
hunger haben
sich zur nahrung hinbewegen
die nahrung nicht erreichen
eingehen
(„eminönü“)
oder
seinen kot hinterlegen
unwichtig wie erde sein
von allah geschaffen sein
(„aksaray“)
oder im Gedicht „mahmutpasa“ ein Wesen, das den Namen des ersten Buchstabens des arabischen Alphabets trägt, das Mädchen „elif deren lunge / sich überschlug / ein strich auf allahs / reinem gewissen“. Und auch ein Strich durch das Gewissen der mitleidenden und scharf beobachtenden Dichterin. Wem sonst soll heutzutage ein Gewissen verletzt werden, wenn nicht denen, die eines haben? Die Solidarität, die Gisela Kraft zu leisten vermag, sind ihre Gedichte, die umfangreichen Nachdichtungen und Kulturtransporte unter anderem aus dem Türkischen (Nazım Hikmet, Fazil Hüsnü Daǧlarca, Yunus Emre, Pir Sultan Abdal). Wo sie mehr zu geben vermochte, hat sie es getan: Vergessen wir nicht, daß Westberlin die ,zweitgrößte Stadt der Türkei‘ ist, und man mag sich da ungetrost, aber auch zuversichtlich Wallraffs Ganz unten neben den Gedichtband der Gisela Kraft legen: Sie sind wie Bruder und Schwester, versichere ich hier. In ihren westberliner Gedichten nämlich erweist sie sich ihrer vielen, besonders türkischen Namen für würdig. Eine ganze Reihe von Gedichten kann ich hier aus Platzgründen nicht mal nennen. Für sie stehe das großartige „anatolischs mutter“, das Kybele selbst hinaufbeschwört, oder das wunderschöne traurige Lied – für mich ist es eines – „aschik veysel in berlin“. Stellvertretend für alle diese möchte ich nur ein paar Worte zu der „ballade von der ankunft des hadschi bektasch im gewand einer taube“ sagen: Der Ballade ist folgende Anmerkung vorangestellt:
Hadschi Bektasch, mittelalterlicher Heiliger, gründete den großen und volkstümlichen Orden der Bektaschi. Der Legende nach kam er aus Zentralasien in Gestalt einer Taube nach Anatolien, erreichte das Land verwundet und wurde von einer Frau gesund gepflegt.
Diese Anmerkung weist auf einen historischen Vorgang hin: die allmähliche Eroberung und Besiedlung Kleinasiens durch verschiedene – ursprünglich in Zentral- und Mittelasien nomadisierende – Turkstämme, die mit dem Sieg der Seldschuken über die Byzantiner im Jahre 1071 begann und 1453 durch den Fall von Konstantinopel vollzogen wurde. Der anatolische Bauer etwa, in Westeuropa als billiger und williger Industriesklave vermarktet (siehe Wallraff!), hält zu seiner Selbstbehauptung das Bewußtsein vom uralten Wander-Schicksal des türkischen Volkes in solchen Legenden wie der von Hadschi Bektasch in sich wach. Hier ist auf eine szenische Darbietung („Wer geht – kehrt nicht so schnell zurück – Die Lieder der Wanderung“) an der Schaubühne am Halleschen Ufer in Westberlin (1980) hinzuweisen, die vorwiegend von türkischen Künstlern gestaltet wurde und die das Schicksal unter anderem in Westberlin lebender und arbeitender Türken auf den Hintergrund von Geschichte und Gegenwart der Türkei projizierte. Eben dies tut Gisela Kraft in ihrer Kreuzberger Ballade auch:
fatosch lebt mit sieben kindern
ihrem mann und dreizehn andern
anverwandten in drei zimmern
eines abrißhauses SO 36
–
keiner soll es weitermelden
denn sonst kommen polizisten
schreiben deutsch auf einen zettel
liebe kinder fahrt nach haus nach anatolien
Fatosch, beim Abfallwegschaffen im Hinterhof, findet eine kranke Taube, die sie dann trotz des Murrens dieses oder jener pflegt, „bis sie eines tages fatosch / auf den linken daumen flattert / die läuft sacht mit ihr zum fenster / klinkt es auf doch das war nicht die letzte strophe / – – / heute abend kommen gäste / heute ist ein schöner abend / heute gibt es itschli köfte / vierzig freunde schwatzen von der heimat / – – / morgen abend kommen gäste / morgen ist ein schöner abend / morgen gibt es etli pide / vierzig freunde schwatzen von der zukunft / – – / morgen gibt es kadinbudu / morgen wird ein türke stadtrat / streicht ein polizist sich seine / schnauzhurtspitzen pfeift sich eine uzun hava / – – / einsam unterm kreuzberggipfel / wohnt ein greis in einer höhle / lenkt mit einer weißen feder / die geschicke dieser stadt zu gutem ende“ (Im Band steht übrigens: „in hoher höhöe“, vermutlich hat das der Korrektor als gut türkisch empfunden und es als anatolischen Jodler hin gelten lassen!) In dieser Ballade macht sich Gisela Kraft ihre Erfahrungen mit der türkischen Volkspoesie zunutze, die sie unter anderem auch mit der Übertragung und Kommentierung von Liedern und Versen der alten Volkspoeten Yunus Emre und Pir Sultan Abdal gesammelt hat, von denen – 1981 im Harran Verlag Westberlin – ein kostbares Bändchen (mit Bergen mit Steinen) erstmals in deutscher Sprache vorliegt. Wie zum Beispiel das Duett Goethe mit seinem persischen Dichter-Bruder Hafis die zwischen ihnen liegenden Räume und Zeiten zu überwältigen vermag, so etwa geschieht es auch in dieser, bei allem kraft-voll Realen doch so (tauben)federleichten und zuversichtlich in eine schöne Zukunft hinein-spielenden Ballade. Denn ein wenig augenzwinkerndes Spiel ist schon dabei in dieser friedlichen türkischen Vision und Invasion. (Hieß es nicht schon im Gedicht „kara mustafa vor berlin“: „der halbmond geht auf / über wannsee / und der stern / über köpenick“? Und bietet nicht das Beispiel von Los Angeles einen Anschauungsunterricht darüber, wie die Mexikaner eben im Begriff sind – in diesem Fall verlorenes – Terrain wieder wettzumachen, indem sie Polizisten, Stadträte und mit Wahrscheinlichkeit auch bald einen Oberbürgermeister stellen?)
Die Musik türkischer Volkspoesie waltet in diesen Versen und deckt sich auf das glücklichste mit dem uns – schon allein durch Heine – so vertrauten Klang des spanischen Trochäus. Jeweils in der letzten Zeile jeder Strophe gewinnt er – meist bedeutungssteigernd – zwei Hebungen hinzu: Der Stadtteil SO 36 etwa weißt die Richtung der Stamm-Heimat, und die Zahl 40 („vierzig freunde schwatzen von der heimat / … / … der zukunft“) ist im Arabischen ideal, bildet eine „vollzählige Gemeinschaft“. Der „greis“ Hadschi Bektasch, in seiner „höhle“ „unterm kreuzberggipfel aber ist (und nun nicht mehr nur „taube“, sondern ein Federführender!), er ist – was soll er sonst sein? – ein Derwisch. „Ein Derwisch“, schreibt Gisela Kraft im Programmheft der Bühne am Halleschen Ufer, „ist ein als heilig angesehener Mann, der ohne Besitz auf Wanderschaft lebt, um zu Gott zu gelangen. Dieser Gott muß nicht der von der offiziellen Religion vorgeschriebene sein… Er ist vielmehr der im Innern des Menschen wohnende Daseinssinn. Ihm versucht sich der Derwisch durch Kontemplation und selbstloses, Handeln zu nähern… Alte Männer, die ihr Leben gemeistert haben, werden verehrt (in Anatolien, W. B.), als seien sie Derwische: Meister in der Kunst der Lebensführung.“
Wenn ich am Anfang von der Religiosität des Realismus sprach, so ist wohl dieses Zitat auch ein Kommentar dazu. Unter diesem Aspekt nun mag man sich – auch das ist möglich – jenem Derwisch in seiner byzantinischen Nische nochmals und neu zuwenden.
3
Eine ganze Reihe von Gedichten, die zum Beispiel Griechenland, Kreta besonders, Italien, Autorin-Biografisches und – die DDR zum Hintergrund haben, müssen unter der von mir gewählten Perspektive unberücksichtigt bleiben. Bemerkenswerte Gedichte sind darunter, wie das christlich-abendländische Gedicht „morcote“, die Terzinen des „canto da ischia a capri“, die in das bedeutsame Derwisch-Wort „im träumen kenn ich unsern kurs genauer“ ausrollen. Oder „minoische prinzessin“, ein Gedicht, das vor allem in diesem Gedichtband mich immer wieder zu sich zu rufen vermag. Oder das scheinbar so ein-deutige, aber [Hier hat der Text Fehler, die Redaktion] so zu scherzen“, sagt Karl Mickel): Es lung“, dessen zentrale Zeite „wir aber drehn uns im kreis“ für mich zum Gedichtschlüssel wird, denke ich mit dieser Zeile nur den Drehreigen der Derwische, diesen auch ,eurythmischen‘ Tanz der Erleuchtung, mit! Und die eigentlichen Liebesgedichte habe ich noch nicht einmal erwähnt. Über sie jedoch findet auch der ungeübte Leser ganz unmittelbar selbst seinen Zugang in den Gedichtband Katze und Derwisch von Gisela Kraft.
4
In unsere Zitadelle DDR, in unser nüchternes Vorpostendasein ist eine Grenz- und Gratwandlerin – ein weltenwandernder Derwisch – eingetreten: Gisela Kraft. Vom Balkon ihrer kleinen Wohnung kann sie in die Atelierfenster zweier ihrer Künstler-Freunde im westberliner Kreuzberg blicken („der Weltgeist pflegt so zu scherzen“ sagt Karl Mickel):, Es sind dies der auch bei uns schon bekannte Türke Hanefi Yeter und der Perser Akbar Bekhalam.
So als gäbe es dazwischen keine befestigte Grenze. Oder so wie eine Warnung vor den uns alle bedrohenden – und eben grenzenlosen! – Gefahren. Ich aber will bei solch einem Aus-Blick vor allem den Wink einer Zukunft sehen, die den Liebenden, den Glaubenden, den arbeitenden, schöpferischen Menschen gehört, wenn auch der Sinn der Zukunft, wie Gisela Kraft sagt, vielleicht vor allem darin besteht, „noch nicht zu beginnen“.
Wilhelm Bartsch, Sinn und Form, Heft 2, März/April 1987
Kai Agthe: Für Gisela Kraft, die Derwischa und Katzenfreundin
Das Blättchen, 27.6.2011
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