– Zu Paul Celans Gedicht „Zürich, Zum Storchen“ aus Paul Celan: Die Niemandsrose. –
PAUL CELAN
Zürich, Zum Storchen
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaFür Nelly Sachs
Vom Zuviel war die Rede, vom
Zuwenig. Von Du
und Aber-Du, von
der Trübung durch Helles, von
Jüdischem, von
deinem Gott.
Da-
von.
Am Tag einer Himmelfahrt, das
Münster stand drüben, es kam
mit einigem Gold übers Wasser.
Von deinem Gott war die Rede, ich sprach
gegen ihn, ich
ließ das Herz, das ich hatte,
hoffen:
auf
sein höchstes, umröcheltes, sein
haderndes Wort –
Dein Aug sah mir zu, sah hinweg,
dein Mund
sprach sich dem Aug zu, ich hörte:
Wir
wissen ja nicht, weißt du,
wir
wissen ja nicht,
was
gilt.
Derjenige welcher oder diejenige welche das Jahr, den Tag, den Ort, kurz die Gegenwart eines ,Hier und jetzt‘ einschreibt, legt durch diesen Akt der Einschreibung Zeugenschaft seiner eigenen Gegenwart und Anwesenheit ab.
Jacques Derrida1
Am Ursprung von Paul Celans Dichtung nach der Shoah steht das Eingedenken des Leids, der Kampf gegen das Vergessen und Verdrängen, der entschiedene Aufstand gegen Gedächtnisverlust und falsche Versöhnung. Dies ist für Celan Anlass, sich neu den religiösen Traditionen des Judentums zuzuwenden. So wird im Gedicht „Tenebrae“ die Gottesnacht auf Golgatha mit dem Leiden der jüdischen Opfer der Shoah in kühner Weise ineinander geblendet. Aber nicht nur das Dunkle und Finstere der geschichtlichen Erfahrung hat in Celans Dichtung seinen Ort, auch finden sich Spuren eines unvorhersehbaren Durchbruchs zum Licht. Die Hoffnung – wenn man denn trotz aller Gebrochenheit von Hoffnung sprechen will – steht bei Paul Celan unter dem Vorzeichen des „Vielleicht“. Celans Zweifel finden Ausdruck in seinem Gedicht „Zürich, Zum Storchen“, das auf ein Gespräch mit der Dichterin Nelly Sachs am 26. Mai 1960 zurückgeht.2 Es lautet:
ZÜRICH, ZUM STORCHEN
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaFür Nelly Sachs
Vom Zuviel war die Rede, vom
Zuwenig. Von Du
und Aber-Du, von
der Trübung durch Helles, von
Jüdischem, von
deinem Gott.
Da-
von.
Am Tag einer Himmelfahrt, das
Münster stand drüben, es kam
mit einigem Gold übers Wasser.
Von deinem Gott war die Rede, ich sprach
gegen ihn, ich
ließ das Herz, das ich hatte,
hoffen:
auf
sein höchstes, umröcheltes, sein
haderndes Wort –
Dein Aug sah mir zu, sah hinweg,
dein Mund
sprach sich dem Aug zu, ich hörte:
Wir
wissen ja nicht, weißt du,
wir
wissen ja nicht,
was
gilt.
In diesem Gedicht wird eine Begegnung festgehalten, deren Einmaligkeit durch die namentliche Widmung (für Nelly Sachs) sowie die Angabe von Datum (am Tag einer Himmelfahrt) und Ort (Zürich, Zum Storchen – ein Hotel am Ufer der Limmat) unterstrichen wird. Die Shoah-Überlebende Nelly Sachs, die auf deutschem Boden nicht übernachten wollte, war von Stockholm nach Zürich geflogen, um von dort aus nach Meersburg am Bodensee zur Entgegennahme des Annette-von-Droste-Hülshoff-Preises weiterzureisen. Paul Celan, seine Frau Gisèle Celan-Lestrange und ihr Sohn Eric hatten die Dichterin vom Flughafen Zürich/Kloten abgeholt. Im Hotel Zum Storchen, von dessen Terrasse aus man das Großmünster auf der anderen Seite der Limmat sieht, kam es zu intensiven Gesprächen mit Nelly Sachs, bei denen es auch um die Frage nach Gott und das Geschick des Jüdischen ging.
Glaubensfragen hatten bereits vor der ersten persönlichen Begegnung in Zürich in den Briefen zwischen Paul Celan und Nelly Sachs eine Rolle gespielt. Diese möchte ich vor der Lektüre des Gedichts zunächst einblenden, um die Hintergründe des Gedichts näher auszuloten. Am 9. Januar 1958 schreibt Sachs aus Stockholm:
Es gibt und gab und ist mit jedem Atemzug in mir der Glaube an die Durchschmerzung, an die Durchseelung des Staubes als an eine Tätigkeit wozu wir angetreten. Ich glaube an ein unsichtbares Universum darin wir unser dunkles Vollbrachtes einzeichnen. Ich spüre die Energie des Lichtes die den Stein in Musik aufbrechen lässt, und ich leide an der Pfeilspitze der Sehnsucht die uns von Anbeginn zu Tode trifft und die uns stößt, außerhalb zu suchen, dort wo die Unsicherheit zu spülen beginnt. Vom eignen Volk kam mir die chassidische Mystik zu Hilfe, die eng im Zusammenhang mit aller Mystik sich ihren Wohnort weit fort von allen Dogmen und Institutionen immer aufs neue in Geburtswehen schaffen muss.3
Nelly Sachs hat nach dem Krieg die Lyrikbände In den Wohnungen des Todes (1947) und Sternverdunklung (1949) veröffentlicht, die zunächst wenig Resonanz bei der deutschen Leserschaft fanden.4 In ihren Gedichten sucht sie den unbestatteten jüdischen Opfern einen Gedenkort in der Sprache zu geben. Dabei greift sie auf das Alte Testament zurück aber auch auf den Chassidismus und auf Quellen der jüdischen Mystik, wie sie in diesen Zeilen offenlegt. Dies tut sie durchaus aus einer Perspektive eines Glaubens. Celan, für den ,Staub‘, ,Asche‘, ,Name‘ und ,Stern‘ ebenfalls Grundworte seiner Dichtung sind, reagiert umgehend auf ihren Brief, ohne allerdings auf die angedeuteten theologischen Bezüge näher einzugehen.
Viel Herzraum ist verschüttet worden, ja, aber das Erbe der Einsamkeit, von dem Sie sprechen: es wird, weil es Ihre Worte gibt, angetreten, da und dort, im Nächtigen. Falsche Sterne überfliegen uns – gewiss; aber das Staubkorn, durchschmerzt von Ihrer Stimme, beschreibt die unendliche Bahn. (Celan / Sachs: Briefwechsel, S.14f.)
Sachs ist beglückt darüber, ihre Arbeiten bei Celan aufgehoben zu sehen. Mehrfach schickt sie Celan Gedichte, in denen sie dieser Nähe dichterischen Ausdruck verleiht, eines davon beginnt:
Linie wie
lebendiges Haar
gezogen
todnachtgedunkelt
von dir
zu mir. (Celan / Sachs: Briefwechsel, S. 18)
Celan lässt ihr als Zeichen der Verbundenheit eine Radierung seiner Frau Gisèle Celan-Lestrange zukommen, die mit einer handschriftlichen Widmung „pour Nelly Sachs“ versehen ist und den Titel „Présence – Gegenwart“ trägt. Auch übersendet er den Gedichtband Sprachgitter (1959), in dem das Gedicht „Engführung“ – eine poetische Fortschreibung der „Todesfuge“ – enthalten ist. Sachs’ Erwiderung fällt emphatisch aus:
Ihr ,Buch der Strahlen‘, Ihr ,Sohar‘ ist bei mir. Ich lebe darin. Die kristallenen Buchstabenengel – geist durchsichtig – in der Schöpfung tätig jetzt – augenblicklich. Ich bin draußen an der Schwelle kniend voller Staub und Tränen – aber durch die Ritzen kommt es zu mir durch das Tor, das in das Geheimnis führt im Akt der Verhüllung, dem ersten Schöpfungstag. Damals als Gott ins Exil ging (Zimzum), um aus seinem Inneren Welt zu schaffen. Mögen alle Ihre Atemzüge weiter so gesegnet sein, das geistige Antlitz der Welt einzubeziehen. (Celan / Sachs: Briefwechsel, S. 23)
Hier klingt erneut die Licht-Metaphorik an, die im Austausch der beiden Dichter eine wichtige Rolle spielen wird. Sachs vergleicht Celans Gedichtband Sprachgitter mit dem Sohar, dem ,Buch des Glanzes‘, das in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts in Kastilien entstanden ist und Moses de Leon zugeschrieben wird.5 Es enthält, wie bei der Deutung des Gedichts „Psalm“ schon angemerkt, eine Geheimlehre von der verborgenen Wurzel Gottes, dem En-Sof, das einen Baum von zehn Ästen, den Sefiroth, aus sich hervortreibt, die für die mystischen Attribute Gottes stehen. Mit der Denkfigur des ,Zimzum‘ spielt Nelly Sachs überdies auf die Lehre des Isaak Luria an, der den Schöpfungsakt als Selbstkontraktion Gottes gedeutet hat. Gott beschränkt und verdichtet seine Gegenwart nicht auf einen bestimmten Ort, wie in der biblischen Vorstellung der Einwohnung, in der Gott seinen Namen wohnen lässt im Tempel oder seine Gegenwart auf den Punkt zwischen den Cherubim auf der Bundeslade konzentriert. Vielmehr zieht er sich in einer eigentümlichen Selbstbewegung aus sich selbst in sich selbst zurück, um einen leeren Raum, das Nichts, zu schaffen. Gott geht ins Exil, um dem anderen, der Welt in sich oder neben sich Raum zu geben. Gershom Scholem hatte bereits 1957 das Buch Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen veröffentlicht, in dem er die lurianische Kabbala und die Lehre von der Selbstverschränkung Gottes (Zimzum) als Voraussetzung der Schöpfung aus Nichts ausführlich behandelt.6 Dieses Buch hat Nelly Sachs intensiv studiert, Spuren des Sohar und der Kabbala sind in ihre Lyrik eingegangen.
Beide, Celan und Sachs, veröffentlichen Gedichte in einer Anthologie deutschsprachiger Gegenwartsliteratur, die in einer Sonderausgabe der römischen Zeitschrift Botthege Oscure erscheint, die Ingeborg Bachmann und Celan im Auftrag der Herausgeberin, der Prinzessin Marguerite Caetani, redigieren.7 Allerdings trübt sich die Korrespondenz durch die Mitteilung belastender Erfahrungen bald ein. Als Celan Nelly Sachs sein Entsetzen darüber mitteilt, dass Teile der deutschen Literaturkritik seinen Band Sprachgitter als Sprachspielerei abtun, und er darin antisemitische Umtriebe wittert,8 ist die Dichterin tief betroffen und bringt ihr Mitgefühl in das bedeutsame Wort:
Zwischen Paris und Stockholm läuft der Meridian des Schmerzes und des Trostes. (Celan / Sachs: Briefwechsel, S. 25)9
Dieser Satz, der bei aller räumlichen Distanz eine Nähe im Mit-Leiden und dadurch Trost zum Ausdruck bringt, ist deshalb bedeutsam, weil Celan seine Darmstädter Büchnerpreisrede im Oktober 1960 unter die Überschrift „Der Meridian“ stellen wird. Celan gibt wiederholt seiner Sorge über den wachsenden Antisemitismus in Deutschland Ausdruck.
Täglich kommt mir die Gemeinheit ins Haus, täglich, glauben Sie’s mir. Was steht uns Juden noch bevor?
Zahlreiche Freundschaften zerbrechen in dieser Zeit, weil Celan sich durch sie nicht angemessen in Schutz genommen und verteidigt glaubt.
Im April 1960 fragt Nelly Sachs, die sich in Stockholm ebenfalls antisemitischen Umtrieben ausgesetzt sieht, bei Celan vorsichtig an, ob es wohl eine Möglichkeit gebe, sich in Zürich zu treffen, sie werde am 29. Mai in Meersburg am Bodensee den Annette-von-Droste-Hülshoff-Preis verliehen bekommen. Celan antwortet umgehend und bekundet seine Bereitschaft, jeder Zeit nach Zürich zu kommen – und lädt Nelly Sachs seinerseits ein, im Nachgang zur Preisverleihung nach Paris zu kommen. Auch legt er offen, wann er ihr erstmals lesend begegnet ist – 1953 im dem Klagegedicht „Chor der Waisen“.10
Wir Waisen
Wir klagen der Welt:
Herabgehauen hat man unseren Ast
Und ins Feuer geworfen –
Brennholz hat man aus unseren Beschützern gemacht –
Wir Waisen liegen auf den Feldern der Einsamkeit. […]
Welt warum hast du uns die weichen Mütter genommen
Und die Väter, die sagen: Mein Kind du gleichst mir!
Wir Waisen gleichen niemand mehr auf der Welt!
O Welt
Wir klagen dich an!
Im Gefühl der Einsamkeit, der Verlorenheit und des Schmerzes treffen sich Celan und Sachs, die beide Gedichte in deutscher Sprache schreiben, ohne in Deutschland zu leben. „Das Leben hat die Gnade uns zu zerbrechen“ (Celan / Sachs: Briefwechsel, S. 36), schreibt Nelly Sachs,11 und greift an einer anderen Stelle sogar auf die Szene im Garten Gethsemane zurück, um ihre Vereinsamung im schwedischen Exil zum Ausdruck zu bringen:
Der Einsame und die schlafenden Jünger – ewiges Bild. Wenn wir leiden gehören wir nur noch Gott – darum verlassen uns die Freunde (Celan / Sachs: Briefwechsel, S. 38f).12
Wenige Tage vor ihrer Reise nach Zürich schreibt sie:
So werden wir uns in der Hoffnung begegnen – in dunkler Sternzeit aber doch in der Hoffnung! Rembrandt: ,Segen Jakobs‘. In der Nacht blüht der Segen auf dem falsch – und doch Gott-richtig Gesegneten auf. In der Nacht möge er Ihnen aufblühen. (Celan / Sachs: Briefwechsel, S. 40)
Damit ist die Schwelle der Begegnung erreicht, auf die sich das Gedicht „Zürich, Zum Storchen“ bezieht, das Celan am 30. Mai 1960 in Paris niedergeschrieben und noch am gleichen Tag der Neuen Zürcher Zeitung zur Veröffentlichung angeboten hat.13
„Zürich, Zum Storchen“ ist ein eindringliches Beispiel dafür, wie Celans Gedichte häufig ihren Ausgangspunkt von konkreten Erfahrungen nehmen. Sie besitzen, wie es Klaus Reichert ausdrückt, ein „fundamentum in re“.14 Auch wenn das Gedicht mehr und anderes ist als das poetische Protokoll eines Gesprächs, so scheint durch die namentliche Widmung und die topographischen Angaben doch eine biographische Lesart von „Zürich, Zum Storchen“ möglich zu sein. Celan selbst hat zwischen seinem Schreiben und seinem Leben keinen strikten Trennungsstrich ziehen wollen.
Vom Zuviel war die Rede, vom
Zuwenig. Von Du
und Aber-Du, von
der Trübung durch Helles, von
Jüdischem, von
deinem Gott.
Worauf sich das „Zuviel“ und „Zuwenig“ der Rede bezieht, bleibt zunächst ungesagt – und das im Gesagten mitlaufende Ungesagte wird zu einem Strukturprinzip des ganzen Gedichts. Das Gespräch zwischen „Du“ und „Aber-Du“, zwischen Sachs und Celan kreiste – wohl im Anschluss an Margarete Susmans Hiob-Buch – um die Frage nach Gott und das Geschick des Jüdischen. Bei Susman, die damals in Zürich lebte, heißt es auf der ersten Seite ihres Buches mit Blick auf die Shoah:
Wohl ist diesem Geschehen gegenüber jedes Wort ein Zuviel und ein Zuwenig; seine Wahrheit ist allein der Schrei aus den wortlosen Tiefen der menschlichen Existenz. Es ist darum das Buch Hiob, aus dem der Versuch einer Deutung des Geschehens unternommen wird.15
Damit ist die Frage nach Gott angesichts des Äußersten aufgeworfen. Das Gedicht spricht in einer ungewöhnlichen Wendung von „deinem Gott“, zu dem das lyrische Ich auf Distanz geht. „Dein Gott“ ist offensichtlich nicht deckungsgleich mit „meinem“ – es ist keineswegs sicher, ob mit dieser Differenzmarkierung eine atheistische Positionierung verbunden ist, die das Bekenntnis zu „keinem“ Gott einschlösse. Die Abstandnahme von der Gottesvorstellung des Du könnte mit der „Trübung durch Helles“ zusammenhängen, von der dann gleich in paradoxer Form die Rede ist. Zwar sagt das Gedicht nicht, was genau getrübt wird, und diese Aussparung ist wiederum kennzeichnend für die mit Leerstellen arbeitende lyrische Diktion. Auffällig ist überdies das poetische Verfahren der Umkehrung. Nicht das Helle wird durch etwas Dunkles getrübt, sondern das Helle, Lichte und Glänzende ist offensichtlich der Grund für die „Trübung“ – ein Wort, das auch Betrübnis und Trauer assoziieren kann. Mit Blick auf die zweite Strophe des Gedichts könnte der paradoxe Vorgang einer Trübung durch Helles veranlasst sein durch den Einfluss des Christlichen auf das Jüdische.16
Da-
von.
Am Tag einer Himmelfahrt, das
Münster stand drüben, es kam
mit einigem Gold übers Wasser.
Die Rede von „Gott“ scheint ins Leere zu gehen: „Da- / von.“ Die Präsenz, die durch das „Da-“ angezeigt sein mag, wird durch den Zeilensprung sofort wieder gebrochen, das ferne Echo der Offenbarung des heiligen Namens – „Ich bin der Ich bin da“ (Ex 3,14) – findet keinen Resonanzraum und verhallt. Man könnte noch weitergehen und den Schriftkörper der Buchstaben in den Blick nehmen. Der Bindestrich „-“ im Anschluss an das „Da“ ließe sich graphisch als Steg lesen, der abbricht und auf einen weißen, leeren Raum verweist. Erst in der nächsten Zeile wird die andere Worthälfte erreicht, die das Verschwinden Gottes anzeigt: „- / von“, Das Verfahren, durch Silbentrennung einzelner Wörter das Sprachduktus zu unterbrechen und dadurch extrem zu verlangsamen, ist von Ingeborg Bachmann als „Wortkernspaltung“17 bezeichnet worden. Eine solche Wortkernspaltung findet sich hier bei Celan. Er bricht das Wort „davon“ mitten entzwei, als könne die Aufspaltung des „Davonsseins“ Gottes eine neue Nähe entbinden, als würden die beiden Schalen des Wortes einen Hohlraum für etwas Kommendes bilden. Und tatsächlich kommt es an einem religiös codierten Datum – „Himmelfahrt“ – und an einem religiös codierten Ort – in der Nähe des „Münsters“ – zu einer flüchtigen Epiphanie. Allerdings wird wiederum ausgespart, dass es sich um „Christi Himmelfahrt“ handelt. Von der ascensio Domini, dem Datum im liturgischen Kalender der Kirchen, das vierzig Tage nach Ostern gefeiert wird (Lk 24,50–51; Apg 1,1–11), ist im Gedicht nicht die Rede.18 Indem Celan das Datum entchristologisiert, öffnet er indirekt den Blick auf den Resonanzraum des Alten Testaments, in dem von der Entrückung Henochs (Gen 5,18–24; Hebr 11,5) und der Himmelfährt des Propheten Elia durch einen feurigen Wagen mit feurigen Rossen die Rede ist (2 Kö 2,1–18). Durch den Topos „Himmelfahrt“ wird der Entzug von Präsenz ebenso eingespielt wie der Verweis auf Transzendenz, auch wenn die poetische Rede vom Himmel bei Celan nur allzu oft eingedunkelt ist. Auch topographisch ist mit dem Zürcher Großmünster, das mit seinen beiden Türmen als steingewordener Fingerzeig nach oben gelesen werden kann, ein Verweis auf Religion gegeben. Allerdings steht das Münster „drüben“ am anderem Ufer der Limmat. Es bleibt aber nicht in der Ferne, sondern kommt „mit einigem Gold übers Wasser“ – eine Erfahrung, die in der „Cor- / respondenz“19 von Celan und Sachs eine bedeutsame Rolle spielen wird. Beide scheinen das „Gold“ als Spur des Transzendenten wahrgenommen zu haben: Spur – denn nicht das Licht selbst sehen sie, sondern die durch die Spiegelung des Wassers gebrochenen Strahlen – eine flüchtige Epiphanie, die durch Lichtreflexe evoziert wird. Doch dann wird die Dissensmarkierung wieder aufgenommen und radikalisiert:
Von deinem Gott war die Rede, ich sprach
gegen ihn, ich
ließ das Herz, das ich hatte,
hoffen:
auf
sein höchstes, umröcheltes, sein
haderndes Wort –
Das Du spricht so von Gott, dass es den Widerspruch des Ich provoziert. Nelly Sachs hatte ein relativ ungebrochenes Vertrauen in Gott und setzte sich für Versöhnung und Frieden ein.20
Du weißt, ich bin für Frieden und jegliche Rache ist mir fremd! (Celan / Sachs: Briefwechsel, S. 98)
Auch versuchte sie, unter Rückgriff auf biblische Gestalten den Schrecken der Shoah deutend zu verarbeiten. Darin kommt sie mit Margarete Susman überein, die ihrerseits der Shoah unter Rückgriff auf das Buch Hiob einen theologischen Sinn abzuringen versucht. Sie bezieht das Leid der wehrlosen jüdischen Opfer von Auschwitz sogar auf den leidenden Gottesknecht bei Deutero-Jesaja und spricht ihm tastend eine sühnetheologische Bedeutung zu. Ihr Buch mündet ein in die Hoffnung auf Restitution. Hier dürfte Nelly Sachs mitgegangen sein. Das Ich des Gedichts aber verweigert sich solchen Sinndeutungen und spricht dagegen.21 In der Mitte des Gedichts22 lässt es sein „Herz“ – nach biblischer Anthropologie die Mitte des Menschen – hoffen auf „sein höchstes, umröcheltes, sein / haderndes Wort“.23 Die Stelle ist mehrdeutig. Sie lässt sich auf Gott, aber auch auf das Herz beziehen. Jean Bollack hat die Stelle als deutliche Absage an die versöhnliche Gottesvorstellung von Nelly Sachs gelesen. Celan beziehe „sein Wort“ auf Gott selbst und verlange nach „gnadenloser göttlicher Rache, erflehe sie als ,das hadernde Wort des jüdischen Gesetzes‘, das umröchelt ist von all den Ermordeten, die nach Gerechtigkeit schreien“.24 Man kann die Stelle aber auch anders lesen und „sein Wort“ auf den Dichter beziehen, der hier neben der jüdischen Tradition des Rechtens und Haderns mit Gott (vgl. Gen 18,16–33; Ex 32,31) auch einen Verweis auf Hiob, den unschuldig Leidenden, einspielt, der bis an die Grenze der Lästerung mit Gott gerungen hat (vgl. Hiob 24). Albrecht Schöne hat das hadernde Wort auf die Passion des Gekreuzigten bezogen, der – mit einem Psalm-Zitat auf den Lippen – sterbend gerufen hat:
Mein Gott, mein Gott, warum, hast du mich verlassen? (Ps 22,2; Mk 15,34)
Die Anklage an Gott, der „alles dies wollte“ (GW Bd. I, S. 211), wäre so dramatischer Ausdruck der Hoffnung, eine „Antwort auf die Theodizee-Frage“25 zu erhalten. Für Schönes Lesart spricht, dass auch Susman den Gottverlassenheitsschrei Jesu mit Hiobs Hadern in Zusammenhang gebracht hat.26
Dein Aug sah mir zu, sah hinweg,
dein Mund
sprach sich dem Aug zu, ich hörte:
Das Du reagiert auf die Gegenrede – nach anfänglichem Blickkontakt schaut es zur Seite, möglicherweise, weil die Differenz nur schwer auszuhalten ist. Das Gedicht fokussiert hier die Begegnung zwischen Ich und Du auf die Organe von Auge und Mund. Das Auge zeigt durch Blickkontakt die Aufmerksamkeit an. Wenn sie entzogen wird, geht dem Sprecher der Adressat verloren. Die Worte des Mundes aber nehmen eine konkrete Richtung und gelten hier nicht dem Ohr, sondern dem Auge des anderen. Bemerkenswert ist, dass die Oppositionsmarkierung von ,Ich‘ und ,Du‘, die sich im Blick auf die Gottesfrage und das Geschick des Jüdischen ergeben hatte, in der letzten Strophe in dem Augenblick zurückgenommen wird, wo das Ich hört:
Wir
wissen ja nicht, weißt du,
wir
wissen ja nicht,
was
gilt.
Der Gesprächsfaden läuft hier nach allen Differenzen zusammen in einem ,Wir‘. Mit diesem Pronomen in der ersten Person Plural, das exponiert eine eigene Zeile erhält, wird bei aller Zwietracht Einverständnis erreicht. Die concordia discors lässt sich in die paradoxe Einsicht fassen, im Letzten nur der Ungewissheit gewiss zu sein. Die tastende Nachdenklichkeit dieses Wortes, das durch die sechsfache Alliteration („w“) nicht ohne poetischen Effekt bleibt, lässt sich als eine freundschaftliche Nähe über die Differenzen hinweg lesen. Sie verweist zudem auf die Schlusssätze von Margarete Susmans Hiob-Buch, in der das Motiv des Nichtwissens mit dem Vorschein eines Lichtes kombiniert wird:
Ein Streifen überirdischen Lichts dringt herein; die Einsicht Hiobs bereitet ihm die Bahn. Wir, die so unendlich viel, die viel zu viel wissen, wir wissen nichts. Wir wissen nichts von dem, worauf es für uns allein ankommt: von dem Plan, in dem wir befasst sind und aus dem wir leben. Aber darum wissen wir auch nicht, ob nicht diese unsere dunkle, ganz von der Erlösung abgetriebene Welt der Erlösung am nächsten ist.27
Nelly Sachs selbst hatte bei ihrer Preisrede in Meersburg – wohl vor dem Hintergrund jüdischer Mystik, die von Resonanzeffekten menschlichen Handelns auf das Wesen Gottes ausgeht – Worte mit ähnlicher und doch etwas anderer Akzentsetzung gefunden:
Wir alle sind Betroffene […] auf Erden zu leben, bis er [sc. der Stern] durchsichtig wird, von unserem gesagten und ungesagten Wort durchzogen – diese Geheimschrift, mit der wir ein unsichtbares Universum lesbar machen für ein göttliches Auge. Alles gilt. Alles ist Ferment, das wirkt.28
Wenige Wochen nach ihrer Rückkehr nach Stockholm erleidet Nelly Sachs eine schwere Psychose. Sie fühlt sich verfolgt, in ihrer Wohnung abgehört. Celan ist besorgt, versucht sie brieflich zu beruhigen. An den Philosophen Otto Pöggeler schreibt er am 9. August 1960:
Aus Schweden haben uns sehr beunruhigende Nachrichten von Nelly Sachs erreicht. Nelly Sachs ist uns eine im wahrsten Sinne schwesterliche Freundin – ich dachte, ich müsse sofort nach Stockholm zu ihr. Nächtlichstes, Finsterstes hatte sie heimgesucht, sie und ihre ekstatische Seele […] Ich weiß nicht, ob Sie die Gedichte, die Nelly Sachs geschrieben hat, kennen: sie sind besonders im ersten Band (In den Wohnungen des Todes), ein aus dem Schmerz der Entfernung – Nelly Sachs lebt seit 1938 in Schweden – geborenes Gespräch mit den Toten und Verfolgten. Und nun ist, unter dem Zwang der Worte und ihrer Wirklichkeiten, das Herbeigeschmerzte zum Allereigensten geworden: Nelly Sachs ist sich nun selbst diese Verfolgte und sich verfolgt Wissende.29
In beschwörenden Briefen versucht Celan sie zu beruhigen, dabei flicht er die Erinnerung an die Epiphanie des Lichts ein:
Weißt Du noch, wie, als wir ein zweites Mal von Gott sprachen, in unserem Haus, das das Deine, das Dich erwartende ist, der goldene Schimmer auf der Wand stand? Von Dir, von Deiner Nähe her wird solches sichtbar, es bedarf Deiner, bedarf, auch im Auftrag derer, denen Du Dich so nah weißt und denkst, Deines Hier- und Unter-den-Menschen-Seins, es bedarf Deiner noch lange, es sucht Deinen Blick –: schick ihn, diesen Blick, wieder ins Offene, gib ihm Deine wahren, Deine befreienden Worte mit, vertrau Dich ihm an, vertrau uns, Deine Mit- und Mit-Dir-Lebenden diesem Blick an, lass uns, die schon Freien, die Allerfreiesten sein, die Mit-Dir-im-Licht-Stehenden! (Celan / Sachs: Briefwechsel, S. 58)30
In die Begegnung zwischen beiden bricht die Wirklichkeit des ganz Anderen ein und wird im Schimmer des Lichtes sichtbar. „Die verlängerten Linien aller Beziehungen schneiden sich im ewigen Du“,31 heißt es bei Martin Buber, dessen Philosophie der Begegnung beide Dichter schätzen. Allerdings ist bei Celan nicht von einer überwältigenden Epiphanie des Göttlichen die Rede. Das Licht zeigt sich eher indirekt als goldener Schimmer auf der Wand, erst der Zusammenhang – das Gespräch über Gott – gibt dem Licht die Bedeutung, die ihm als bloßes Naturphänomen sonst wohl kaum zukäme.
Als der Zustand von Nelly Sachs unverändert kritisch bleibt, reist Celan im September 1960 nach Stockholm – aber eine Begegnung findet nicht statt, da Sachs ihn nicht empfängt, um ihn zu schützen.32 In einem Brief vom 5. September 1960 an seine Frau Gisèle heißt es:
Was soll ich von Nelly sagen? Sie leidet sehr. Will nichts mehr von ihren Gedichten hören – ,Ich will nur noch‘ – und hier fügt sie den Daumen und den Zeigefinger der rechten Hand zu einem Ring zusammen – ,dieses kleine Licht behalten‘.33
Allerdings scheint bei Celan wegen der versäumten Begegnung eine Enttäuschung, vielleicht sogar eine Spur Verbitterung zurückgeblieben zu sein. Darauf deutet ein Gedicht hin, dass sich ebenfalls im Zyklus Die Niemandsrose findet und das zunächst den Titel „Stockholm, Linnégatan, tolv“ trug. Diese Spur, die deutlich auf Nelly Sachs verwiesen hätte, hat Celan kurz vor der Druckfassung getilgt und dem Gedicht eine andere Überschrift vorangestellt:
DIE SCHLEUSE
Über aller dieser deiner
Trauer: kein
zweiter Himmel.
………………….
An einen Mund,
dem es ein Tausendwort war,
verlor –
verlor ich ein Wort,
das mir verblieben war:
Schwester.
An
die Vielgötterei
verlor ich ein Wort,
das mich suchte:
Kaddisch.
Durch
die Schleuse mußte ich,
das Wort in die Salzflut zurück
und hinaus und hinüberzuretten:
Jiskor. (GW Bd. I, S. 222)
Das Gedicht, dessen erste Strophe sich auf den Zustand von Nelly Sachs beziehen könnte („deiner Trauer“), das aber ebenso gut als lyrische Selbstanrede gelesen werden kann, spricht vom Verlust des zweiten Himmels. Über dem sky, den man sehen kann, kein heaven, auf den man hoffen könnte. Die Trauer bleibt theologisch obdachlos. Damit wird gegenüber Nelly Sachs’ ungebrochenem Glauben ein Kontrapunkt gesetzt. Der poetisch eindringlich inszenierte Verlust34 des Himmels führt zunächst in die Sprachlosigkeit, ins Verstummen, in die Pause, die dem Gedicht durch die punktierte Linie als „glühender Leertext“ eingewoben ist (vgl. GW Bd. III, S. 170). Nach dieser Zäsur, die sich als „Schleuse“ lesen lässt, folgen drei ähnlich gebaute Strophen, die jeweils nach einem Doppelpunkt ein Wort hervorheben. Die erste beklagt den Verlust des Wortes „Schwester“. Nelly Sachs hat in ihren Briefen einen emphatischen Stil der Anrede gepflegt. Menschen, denen sie sich eng verbunden wusste, hat sie als „Bruder“ oder „Schwester“ angeredet. Auch Celan ist von ihr emphatisch adressiert worden – und diese Emphase war gewiss nicht geheuchelt, sondern echt:
Paul Celan, lieber Paul Celan. – gesegnet von Bach und Hölderlin – gesegnet von den Chassiden. (Celan / Sachs: Briefwechsel, S. 25)
Sachs unterhielt aber auch Beziehungen zu anderen wie Alfred Andersch, Peter Hamm und Hans Magnus Enzensberger, die sich für ihr Werk im deutschen Sprachraum einsetzten. Celan stand ihnen reserviert gegenüber, weil er sich von ihnen in der Diffamierungskampagne Claire Golls nicht hinreichend verteidigt glaubte. Die kranke Nelly Sachs war in der Klinik von Freunden umgeben, die sie „Brüder“ und „Schwester“ nannte, um den Eindruck einer Art Familie zu erzeugen.35 Das Wort „Schwester“, das für Celan das einmalige Verhältnis zur älteren Dichterin bezeichnete („Du Gute und Schwesterliche“ – Celan / Sachs: Briefwechsel, S. 56),36 war für Sachs, so der Vorwurf, „ein Tausendwort“. Diese Inflationierung des Einmaligen korrumpiert das Wort „Schwester“ und macht es für Celan unbrauchbar. In der zweiten Strophe geht ein weiteres Wort verloren, diesmal an die „Vielgötterei“. Das Wort ist kursiv als hebräisches Fremdwort gekennzeichnet: Kaddisch. Es bezeichnet das jüdische Totengebet, das Gottes Namen in menschlicher Sprache heiligt und zunächst am Grab des Verstorbenen rezitiert wird.37 Das Totengedenken für die jüdischen Opfer, in dem sich Celan mit Sachs einig weiß, wird möglicherweise entwertet durch andere Erinnerungsformen, die – anstatt das erlittene Unrecht wachzuhalten – gegenüber den Tätern und ihren Nachfahren versöhnlicher gestimmt sind. „Auf daß die Verfolgten nicht Verfolger werden“, heißt es bereits in Nelly Sachs’ Sammlung Sternverdunklung (1949).38 Später schreibt sie an Celan:
Du weißt, ich bin für Frieden und jegliche Rache ist mir fremd! (Celan / Sachs: Briefwechsel, S. 98)39
Nach dem doppelten Wortverlust kommt es dann in der dritten Strophe zu einem Sprachgewinn. Ein Wort, das ebenfalls kursiv als hebräisches Fremdwort gekennzeichnet ist, wird durch die Schleuse der Salzflut, die für Trauer und Tränen steht, gerettet: Jiskor. Anders als das Kaddisch, das laut im Gottesdienst gesagt wird, meint Jiskor das stille Gebet des Einzelnen für seine verstorbenen Eltern. Mit der Trauer um seinen Vater und seine Mutter bleibt Celan allein, aber er hat dafür die Sprache nicht verloren. Seine Gedichte sind poetische Kenotaphe, ausdrücklich hat er die „Todesfuge“ als „Grabmal“40 für seine Mutter bezeichnet.
Wenige Wochen später hält Paul Celan am 26. Oktober in Darmstadt seine berühmt gewordene Büchnerpreisrede, die „Der Meridian“ überschrieben ist und sein poetologisches Selbstverständnis entwickelt. „Vielleicht darf man sagen, das jedem Gedicht sein ,20. Jänner‘ [das Datum der Wannsee-Konferenz 1942] eingeschrieben ist? Vielleicht ist das Neue an den Gedichten, die heute geschrieben werden, gerade dies: daß hier am deutlichsten versucht wird, solcher Daten eingedenk zu bleiben“ (GW Bd. III, S. 169). – Nach Besserung ihres Gesundheitszustandes erklärt Nelly Sachs, warum sie in der Nacht ihres Leidens unfähig war, Celan zu empfangen, und schickt ihm Gedicht um Gedicht nach Paris, um ihre Nähe zum Ausdruck zu bringen. Doch die Antworten von Celan werden seltener, knapper und auch förmlicher – und enttäuschen Nelly Sachs.41 Im Hintergrund dürfte eine verstörende Nachricht stehen. Celan hatte in Stockholm gehört, dass Sachs ihre eigenen Qualen mit denen der jüdischen Opfer in den Konzentrationslagern verglichen hatte, was ihn befremdete. Das geht aus einem poetischen Protokoll hervor, das er nie veröffentlicht hat:
Wer und was
trieb Nelly Sachs in den Wahnsinn?
Wer
brachte ihr
Verrat und Vermessenheit bei?
In Stockholm hörte ich sie sagen:
„Die in Auschwitz
litten nicht das, was ich leide.“
Das hörten auch andere, darunter
Lenke Rothmann.
Wer förderte das? Und welche Schuld
tobte dahinter?42
Allerdings kommt er bei aller Distanznahme sieben Jahre nach der Doppelbegegnung in Zürich und Paris – Nelly Sachs hat 1966 gemeinsam mit dem israelischen Romancier Samuel Josef Agnon den Nobelpreis für Literatur43 erhalten – noch einmal auf die Lichtglanzerfahrung zurück:
Es war gut […] von Dir selbst an das Licht erinnert zu werden, das in Zürich überm Wasser und dann in Paris aufschien. Einmal, in einem Gedicht, kam mir, übers Hebräische, auch ein Name dafür. (Celan / Sachs: Briefwechsel, S. 94)
Aber Celan schickt das Gedicht nicht mit, so fragt Sachs:
Paul, lieber Paul, ist etwas Gold vom nirgendwo zu Dir gekommen, mit dem Herzen möcht ich es zu Dir schicken. (Celan / Sachs: Briefwechsel, S. 95)
Er antwortet:
Ja, jenes Licht. Du wirst es genannt finden in meinem nächsten Gedichtband, der im Herbst erscheint. (Celan / Sachs: Briefwechsel, S. 95)
Das Gedicht „Nah im Aortenbogen“ aus dem Band Fadensonnen (1968), von dem unklar ist, ob Nelly Sachs es je gelesen hat, da Celan ihr den Band nicht mehr geschickt hat, findet den Namen für das Aufscheinen des Lichts:
NAH, IM AORTENBOGEN
im Heilblut:
das Heilwort.
Mutter Rahel
weint nicht mehr.
Rübergetragen
alles Geweinte.
Still, in den Kranzarterien,
unumschnürt:
Ziw, jenes Licht. (GW Bd. II, S. 202)
Ziw – das hebräische Wort für ,Glanz‘, ,Blüte‘, ,Mai‘, das in der jüdischen Mystik den Lichtglanz Gottes umschreibt – bleibt unübersetzt stehen.44 Es lässt sich als Spur einer messianischen Hoffnung lesen, die aus der Trauer um das Schicksal Israels erwächst und Celan mit Sachs verbindet. Das Gedicht spielt auf den Propheten Jeremia an, bei dem es heißt: „Rachel weint über ihre Kinder und will sich nicht trösten lassen über ihre Kinder, denn es ist aus mit ihnen“ (Jer 31,15) – eine Stelle, die im Neuen Testament aufgenommen wird, wo vom Kindermord in Betlehem die Rede ist (vgl. Mt 2,17f.). Das Gedicht geht aber nicht auf die Errettung Jesu ein, sondern spielt auf die jüdische Mystik an, in der Mutter Rahel als Gestalt der Schechina gedeutet wird und jene verborgen glänzende Gegenwart Gottes meint, die im Exil immer dann mitleidet, wenn Israel leidet. Celan hatte das bei Scholem gelesen und in dessen Buch über die Schechina an der Stelle, wo von der um ihre exilierten Kinder weinenden Mutter Rahel die Rede ist, am unteren Seitenrand in jiddischer Sprache notiert:
Wet die mamme Rochel weinen
Wet Meschiech no mer kenen
Dos gewein aribertrogn.45
Übersetzt bedeutet das, dass der Messias beim Weinen der Mutter Rahel nicht mehr (anders) kann, als das Weinen herüberzutragen und so zu verwandeln. Damit leuchtet im Gedicht die Spur einer messianischen Sehnsucht auf, die mit physiologischen Fachbegriffen verschränkt wird. Das von Sauerstoff angereicherte ,Hellblut‘ gelangt über die Aorta in die ,Kranzarterien‘, um das Herz zu versorgen, dann wird es über den ,Aortenbogen‘ in den Körper zurückgepumpt: „im Hellblut / das Hellwort“, heißt es lakonisch. Damit wird der Herzschlag sprachlich abgebildet, der mit der Blutzirkulation das Leben des menschlichen Organismus sichert. Zugleich wird eine Nähe des Wortes im Herzen ausgesagt, von der bereits in der Tora die Rede ist:
Denn das Wort ist nah bei dir, in deinem Mund und in deinem Herzen, dass du es tust. (Dtn 30,14)
Das ,Hellwort‘, das Wort der messianischen Hoffnung, durchströmt für einmal das Herz und trägt den Schmerz in ein fremdes Licht hinüber, das als still beschrieben und somit in die Nähe des Schweigens gerückt wird. Dieses Wort – ,Ziw‘ – wird sprachlich nicht eingeebnet – und gerade das deutet auf das Inkommensurable der Erfahrung hin, die sich hier nach aller Untröstlichkeit in das Gedicht einschreibt: Es ist „ein fremdes Wort als Name für den Namenlosen. Soviel darf benannt werden, ohne das Geheimnis zu verletzen.“46
Jan-Heiner Tück, aus Jan-Heiner Tück: Gelobt seist du, Niemand. Paul Celans Dichtung – eine theologische Provokation, Herder Verlag, 2020
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