Was geschah? Der Stein trat aus dem Berge.
Wer erwachte? Du und ich.
Sprache, Sprache. Mit-Stern. Neben-Erde.
Ärmer. Offen. Heimatlich.
Wohin gings? Gen Unverklungen.
Mit dem Stein gings, mit uns zwein.
Herz und Herz. Zu schwer befunden.
Schwerer werden. Leichter sein.
Am 23. November 1920 wurde Paul Anczel, der sich seit seinen ersten Zeitschriftenveröffentlichungen Paul Celan nannte, im damals rumänischen Czernowitz geboren. Seine jüdischen Eltern wurden 1942 in ein faschistisches Vernichtungslager deportiert. Im Dezember 1947 siedelte Celan von Bukarest nach Wien über. Hier erschien der erste Gedichtband (Der Sand aus den Urnen, 1948). Überhaupt gehörte die kurze Wiener Zeit zu den anregendsten Perioden seines Lebens, weil selbst nach Krieg und Zerstörung etwas vom Geiste der vom jungen Celan verehrten Dichter Rainer Maria Rilke, Hugo von Hofmannsthal, Georg Trakl und Franz Kafka lebendig geblieben war. Im Juli 1948 ging Celan nach Paris, nicht zuletzt, um sein Romanistikstudium abzuschließen. Frankreich wurde seine Wahlheimat.
Nachdem Gedichte von ihm in mehreren Anthologien und Sammelbänden in der DDR publiziert worden sind (u.a. Die Silbe Schmerz. Ausgewählte Gedichte; Aufbau Verlag 1980), wird nun erstmals ein vollständiger Zyklus vorgestellt. Die Niemandsrose (1963) steht in der Mitte der acht von Paul Celan herausgegebenen Gedichtbände. In ihr begegnen sich die tragischen Ausgangserlebnisse des Dichters, die an den furchtbaren Ortsnamen Auschwitz gebunden sind, die frühe surreale Symbolik mit der „atemlosen Stille des Verstummens“, der sich Celan in seinen späten Gedichtbänden näherte, ehe er Ende April 1970 in den Freitod ging.
Die äußerlich so verschiedenen Gedichte der Niemandsrose stehen in geheimer Korrespondenz miteinander: eine schwer zugängliche Welt jüdisch-biblischer Mythen lebt in ihnen weiter, eine Welt, die zugleich voller Gegenwärtigkeit ist und trotz ihrer Dunkelheit nichts von modischer Esoterik hat. Die abweisende Strenge der Diktion, die Kargheit der Bilder öffnet den Blick auf ein menschliches Selbstverständnis, das sich voller Zweifel der Schöpfungsgeschichte des Alten Testaments nähert, das aber zugleich davon durchdrungen ist, daß die Menschen nur zu sich selbst gelangen können, wenn sie die verheerenden Zerstörungen des Menschlichen in der Zeit des Faschismus überwinden können, ohne sie zu verdrängen und zu vergessen.
Die Lyrik Paul Celans beschränkt sich nicht auf das dichtende Subjekt. Seine Gedichte sind Ansprache, sie verlangen den Leser als Teilnehmenden, sie beschwören ein Du, das das Angebot des Dichters einlösen muß. „Das Gedicht kann“, sagte Paul Celan 1958, „da es ja eine Erscheinungsform der Sprache und damit seinem Wesen nach dialogisch ist, eine Flaschenpost sein, aufgegeben in dem – gewiß nicht immer hoffnungsstarken – Glauben, sie könnte irgendwo und irgendwann an Land gespült werden, an Herzland vielleicht. Gedichte sind auch in dieser Weise unterwegs: sie halten auf etwas zu.“
Verlag Volk und Welt, Beilegzettel, 1983
Die Niemandsrose
Das Leben und Schreiben in dieser krisenhaften Situation werden deutlich im gleichzeitig entstandenen Gedichtband Die Niemandsrose. Auch Formen des Wahnsinns thematisiert Celan dort als Möglichkeit, das verschobene, ja ver-rückte Wirklichkeitsverständnis zu fassen, das man seinen Gedichten entgegenbrachte. Die 53 zwischen März 1959 und März 1963 entstandenen Gedichte sind nicht von ungefähr „Dem Andenken Ossip Mandelstamms“ gewidmet. Sie gedenken damit eines russisch-jüdischen Dichters, der Celan wie kein anderer Dichter nahe war, den er in den Jahren vor Die Niemandsrose, aber auch noch bis 1962 und wieder im Herbst 1967 übersetzte und der selbst unter einer eine Übersetzung betreffenden Plagiataffäre zu leiden hatte. Die Niemandsrose ist ein formal wie stilistisch vielseitiger Gedichtband: Er enthält sowohl liedhafte Strophen mit Reim als auch dem russischen Langgedicht entsprechende oder an die Psalmentradition anknüpfende Formen; auffällig sind seine Vielstimmigkeit – acht Sprachen kommen neben dem Deutschen zu Wort – wie auch sein ,Gespräch‘ mit früheren und zeitgenössischen Dichter-,Kollegen‘. Die Thematisierung der Plagiatsaffäre, u.a. durch Zitate aus den eigenen ,inkriminierten‘ Gedichten aus Mohn und Gedächtnis, hat keiner der zeitgenössischen Kritiker wahrgenommen. In der Regel wurde zwar die besondere Jüdischkeit des Bandes bemerkt, die sich sowohl in hebräischen und jiddischen Elementen als auch durch das Gespräch mit jüdischen Dichtern wie Nelly Sachs („Zürich, Zum Storchen“, Paul Celan: Kommentierte Gesamtausgabe in einem Band, hrsg. und kommentiert von Barbara Wiedemann, Frankfurt a.M., S. 126) in der Übertragung des Beschneidungsritus auf das Wort („… rauscht der Brunnen“, Paul Celan: Kommentierte Gesamtausgabe in einem Band, hrsg. und kommentiert von Barbara Wiedemann, Frankfurt a.M., S. 138) oder auch in der positiven Umkehrung von Judenklischees wie der ,Krummnasigkeit‘ („Eine Gauner- und Ganovenweise“, Paul Celan: Kommentierte Gesamtausgabe in einem Band, hrsg. und kommentiert von Barbara Wiedemann, Frankfurt a.M., S. 135) äußert. Nicht nur von einem Kritiker aber wird Celan als ein Dichter beschrieben, der die Grenze des Gedichts mit seinen angeblich unverständlichen und von einem Zersetzungsprozess zeugenden Texten teilweise schon überschritten habe (Kleßmann 1964). Wie deutlich Celan selbst eine für ihn bindende Grenze wahrnahm, wie sorgfältig er Die Niemandsose zusammengestellt hat, lässt sich gerade an den gleichzeitig entstandenen Gedichten erkennen, die er – zum ersten Mal seit Der Sand aus den Urnen in großer Zahl – nicht für die Veröffentlichung im Band freigeben wollte, vielleicht weil sie von zu Persönlichem oder weil sie zu direkt davon sprechen.
Aus Paul Celan: Todesfuge und andere Gedichte. Text und Kommentar, hrsg. von Barbara Wiedemann, Suhrkamp Verlag, 2004
– Zu Paul Celans Die Niemandsrose. –
1 Terminus ohne Grenzstein
„Weißt du, dass das Wort ,zweihäusig‘ ein botanischer Terminus ist?“ fragte mich Klaus-Rüdiger Wöhrmann. Wir sprachen gerade über das folgende Gedicht von Celan.
ZWEIHÄUSIG, EWIGER, bist du, un-
bewohnbar. Darum
baun wir und bauen. Darum
steht sie, diese
erbärmliche Bettstatt, – im Regen,
da steht sie.
Komm. Geliebte.
Daß wir hier liegen, das
ist die Zwischenwand –: Er
hat dann genug an sich selber, zweimal.
Laß ihn, er
habe sich ganz, als das Halbe
und abermals Halbe. Wir,
wir sind das Regenbett, er
komme und lege uns trocken.
…………………….
Er kommt nicht, er legt uns nicht trocken.
Zwei Tage später erfuhr ich in einem Botanischen Lexikon, dass die Pflanzen, bei denen sich die männlichen und die weiblichen Blüten auf getrennten Pflanzen befinden, als „zweihäusig“ bezeichnet werden. Weide, Hanf und Hopfen wurden dort als Beispiele genannt.
Der Gedichtband Die Niemandsrose enthält nicht nur botanische Termini, sondern auch solche aus der Mineralogie wie zum Beispiel „ERRATISCH“, „Jaspis“, „Achat“ oder „Amethyst“. Wegen ihrer steinartigen Unzugänglichkeit kann man diese Wörter sofort als Fachtermini erkennen, während das Wort „zweihäusig“ gleich vertraut auf mich wirkte, ohne dass ich seine Bedeutung kannte.
„Terminus“ war ein römischer Gott des Grenzsteins. Die Eindeutigkeit eines naturwissenschaftlichen Terminus ist gesichert, solange sein Territorium mit den Grenzsteinen markiert ist. Celan wählte als Titel für einige Gedichte in Niemandsrose Termini aus, die in unterschiedlichen Fächern verschiedene Bedeutungen haben. Das Wort „Kolon“ zum Beispiel gehört zum Bereich der Metrik eben so wie zu dem der Medizin, außerdem ist es die Bezeichnung für ein Interpunktionszeichen. Der Titel „Radix, Matrix“ besteht aus zwei Wörtern, die in der Mathematik andere Bedeutungen haben als in der Biologie.
Ein Gedicht, in dem es um einen ,alchimistischen‘ Vorgang geht, trägt den Titel „Chymisch“. Während die Alchimie durch die Vermischung von Mineralien ein Wunder hervorzubringen versucht, vollzieht sich in Niemandsrose durch Grenzüberschreitung eine andere Art von Wunder: Ein Stein, der im Bereich der Mineralogie bleibt, kann nicht blühen. Aber wenn er in die Botanik eintritt, kann er sich auftun wie eine Rose.
2 Formen und Zahlen
Ich entschloss mich, mit einem botanischen Lexikon durch die Flora namens „Niemandsrose“ spazierenzugehen. Dort wachsen Rosen, Kirschen, Kastanien, Tulpen, Farne, Palmen, Bambus und andere Pflanzen. Auch die Körperteile der Pflanzen wie Halme, Kelche, Dornen, Blätter, Rispen, Staubfäden oder Knospen sind sprachlich anwesend. Und was mache ich mit diesem verwirrenden Formenreichtum der pflanzlichen Welt? Michel Foucault charakterisiert die Botanik des 17. und 18. Jahrhunderts als den Versuch, „im konfusen Reichtum der Repräsentation“ „die betrachteten Dinge möglichst in die Nähe der Wörter zu rücken“, und zwar dadurch, dass man an den Pflanzen die geometrischen Grundformen erkennt und zählt.
Einerseits erschien die botanische Welt wie ein Überangebot an sichtbaren Dingen, die nur durch die mathematische Operation notierbar gemacht werden konnte. Andererseits boten gerade die Pflanzen viele Grundformen, mit deren Hilfe wir heute verschiedene Gestalten beschreiben können. So gibt es viele formbezeichnende Adjektive, die aus den Formen der Pflanzen abgeleitet sind wie zum Beispiel: kelchförmig, zwiebelförmig, mandelförmig, knollenförmig, pilzförmig, beerenförmig, blattförmig, wurzelförmig, knotenförmig, schotenförmig und so weiter.
Wenn man diese Wechselbeziehung zwischen der Sprache, den Formen und der Flora im Kopf behält, kann man mit den Pflanzen in Celans Dichtung besser umgehen, die weder Abbildung der Natur noch Metapher für eine abstrakte Angelegenheit sind.
Außerdem kann man bei Celans Ausdruck „sieben Rosen später“ eine Umkehrung der Beziehung zwischen der Flora und der Zahl beobachten: Die Pflanzen, die erst durch die Zahlen klassifizierbar und darstellbar gemacht worden sind, können jetzt einen unzählbaren Zeitraum (etwa einen Zeitraum in der Erinnerung) zählbar machen.
Ich betrachtete das Gedicht „Zweihäusig, Ewiger“ wie einen botanischen Garten und entdeckte dort ein Wort, das ungewöhnlich viele kreuzförmige Buchstaben enthält: „Bettstatt“. Ich starrte auf das linke und das rechte Doppel-T.
Zwei Tage später, als ich den Titel des Gedichtbandes Niemandsrose ins Japanische übersetzte, wusste ich plötzlich, warum mir das Wort „Bettstatt“ optisch so sehr aufgefallen war: In dem japanischen Wort für „Rose“ (bara) steht nämlich auch zweimal das Doppel- T.
Das Wort besteht aus zwei Ideogrammen, und jedes von ihnen enthält im obersten Teil dasselbe Radikal, das wie ein Doppel-T aussieht. Dieses Radikal wird „kusa-kanmuri“ (die Krone aus Gras) genannt. „Die Krone“ ist die Bezeichnung für die Radikalen, die im obersten Teil des Zeichens stehen (und nicht etwa an der Seite oder im untersten Teil), und die Bezeichnung „Gras“ bedeutet, dass alle Ideogramme, die dieses Radikal enthalten, etwas mit Gräsern zu tun haben wie zum Beispiel (ha = Blatt), (hana = Blume), (kuki = Stiel) oder (kusa = Gras). Es kommt aber selten vor, dass ein Pflanzenname aus zwei Ideogrammen besteht, von denen beide dieses Radikal enthalten, wie bei dem Wort (Rose). Es fällt durch seine doppelten Kronen (++ ++) optisch genau so stark auf wie das Wort „Bettstatt“ im Deutschen mit seinem Überangebot an Kreuzen.
3 Mit den Augen übersetzen
Vor ein paar Jahren auf einer Celan-Tagung hielt ich einen Vortrag über das Radikal „Tor“ in einer Celan-Übersetzung. Als ich meinen Vortrag beendete, meldete sich aus dem Publikum ein Celan-Übersetzer und sagte, er möchte jetzt aber doch gerne hören, wie ein Gedicht von Celan auf japanisch ,klingt‘, denn die Dichtung sei doch durch den Klang bestimmt, der grafische Aspekt könne eigentlich keine wesentliche Rolle spielen.
Ich hätte als Antwort die gemeinsamen Arbeiten von Celan und seiner Frau Gisèle Lestrange erwähnen können, die Grafikerin war. Könnte man dem Dichter dennoch unterstellen, dass ihm der grafische Blick nichts bedeutet hätte? Ich wollte aber meine Lesart nicht durch Celans Biografie rechtfertigen. Ich wollte eigentlich überhaupt nichts rechtfertigen, ich war einfach sicher, dass Celan manchmal die alphabetischen Schriftzeichen als grafische Formen betrachtet hat. Sonst würde die Schriftoberfläche seiner Gedichte nicht diese Ausstrahlung haben. Viel später kam ich auf die Idee, „Wein und Verlorenheit“, das dritte Gedicht in Niemandsrose, als Musterstück für den grafischen Blick zu verstehen. Der Ausgangspunkt für das Gedicht ist das Wort „Neige“, aus dem sich eine Schneelandschaft entwickelt.
Bei Wein und Verlorenheit, bei
beider Neige:
ich ritt durch den Schnee, hörst du,
ich ritt Gott in die Ferne – die Nähe, er sang,
es war
unser letzter Ritt über
die Menschen-Hürden.
Sie duckten sich, wenn
sie uns über sich hörten, sie
schrieben, sie
logen unser Gewieher
um in eine
ihrer bebilderten Sprachen.
Wenn man das Alphabet ausschließlich als phonetische Schrift liest, kann man das Wort „Neige“ nicht mit dem französischen Wort „neige“ in Verbindung setzen. Die beiden Wörter haben bloß die Buchstaben gemeinsam, aber keinen gemeinsamen Klang. Celan geht von der grafischen Form des Wortes „Neige“ aus und entfaltet eine Geschichte mit dem Schnee und dem Gewieher. Das englische Wort „neigh“ (Gewieher) weicht zwar von dem deutschen Wort „Neige“ orthografisch etwas ab, aber dennoch geht es hier eher um eine grafische Ähnlichkeit als um eine phonetische.
Vielleicht kann man sich hinter diesem Gedicht eine Übersetzerfigur vorstellen, die den Text nur optisch wahrnimmt und dadurch einen außergewöhnlichen Weg der Wort-Umsetzung nimmt, der zuerst ,verkehrt‘ aussieht.
Am Ende des Gedichts wird ein Vorwurf gegen die „Menschen-Hürden“ hörbar, die die ,ursprünglichen‘ Stimmen – den Gesang Gottes oder das Gewieher – in eine ihrer „bebilderten Sprachen“ „umlogen“. Der Vorwurf richtet sich aber nicht auf den grafischen Blick, sondern auf die Illustration als Instrument für eine Erklärung. In einer früheren Fassung des Gedichts steht in der Tat das Wort „erklärenden“ an Stelle von „bebilderten“. Also nicht das Bild im Allgemeinen, sondern die erklärende Illustration wird hier verhöhnt. Das Schriftbild ist keine Illustration, die den Inhalt des Textes erklärt.
Man könnte einen Übersetzer, der das Wort „Neige“ sieht und sofort an den „Schnee“ denkt, als Augen-Übersetzer bezeichnen. Ich gehöre zweifellos zu dem Typus des Augen-Übersetzers, wenn ich in dem Wort „Bettstatt“ das Radikal „die Krone aus Gras“ sehe und denke, es ginge um die Pflanzen.
Man kann meistens die Formen, die man in dem Schriftbild eines Gedichts entdeckt hat, nicht übersetzen. Vor allem wenn die Schriftsysteme unterschiedlich sind, hat man gar keine Chance, bestimmte Schriftbilder in der Übersetzung wiederzugeben. So verschwinden alle alphabetischen Buchstaben in der japanischen Übersetzung, aber das Doppel-T taucht überraschenderweise in Gestalt des Radikals im Wort „“ wieder auf. Mit diesem Wunder kann ein Übersetzer auf Rosen gebettet sein. In der Übersetzung blüht nicht immer an derselben Stelle dieselbe Rose wie im Original. Aber sie blüht. Sie blüht manchmal an einer unerwarteten Stelle und macht auf eine Form aufmerksam, die sonst weiter unter der Rose stehen würde.
4 Arche Noah
Das Wort „Bettstatt“ steht – im Unterschied zu seinen Synonymen „Bettgestell“, „Bettsponde“ oder „Bettstelle“ – mit Wörtern wie „Grabstätte“ oder „Gebetstätte“, den Orten mit religiöser Bedeutung, in Verbindung.
Vielleicht ist es einer der Gründe, warum mich diese „Bettstatt“ an die Arche Noah erinnert. Gott erlaubte außer Noahs Familie je einem Männchen und einem Weibchen von jeder zweihäusigen Spezies, in die Arche Noah einzusteigen. Die restlichen Tiere, die durch die Sintflut starben, hatten eigentlich keinen moralischen Makel. Daher kommt es mir vor, als wäre das Ziel dieser Aktion Gottes nicht die Wiederherstellung der moralischen Ordnung gewesen, sondern die der biologischen: Als wollte Gott der unkontrollierten Vermehrung ein Ende setzen und eine übersichtliche Fortpflanzung jeder Spezies fördern. Übrigens wurden die Pflanzen nicht in die Arche eingeladen, wahrscheinlich weil damals schon nicht alle zweihäusig waren. So entkamen sie der Wiederherstellung der Ordnung, vermehrten sich entsprechend vielförmig und verursachten später dem Gründer der Botanik Kopfschmerzen.
Es gibt so viele Details im Gedicht „Zweihäusig, Ewiger“, die an Noahs Geschichte erinnern: Noah „baut“ die Arche, bevor die Erde durch den heftigen Regen, der vierzig Tage lang dauert, „unbewohnbar“ gemacht wird. In dem Gedicht „Zweihäusig, Ewiger“ liegen das lyrische Ich und seine Geliebte in der Bettstatt, der Regen hört nicht auf und die Erde bleibt unbewohnbar. „Darum“ wird „gebaut“, „darum“ steht die „Bettstatt“. Aber ein „Ewiger“ kommt nicht, um die Welt „trockenzulegen“.
Die sich wiederholende Bemühung der Menschen („Darum / bauen wir und bauen“) und die Enttäuschung („Er kommt nicht,“) erinnert außerdem an das erste Gedicht in Niemandsrose, in dem steht: „Sie gruben und gruben“ und „lobten nicht Gott“, der „alles dies wollte“ und „alles dieses wußte“.
Vielleicht ist „er“ auch zweihäusig, deshalb wird er als „das Halbe“ bezeichnet. Man sagt, dass er „sich ganz habe“, denn als Gott müsste er eigentlich die Ganzheit verkörpern. Aber er ist hier nicht allmächtig, er kann nicht die Sintflut beenden, er kann auch nicht die beiden Menschenkinder im Bett trockenlegen. Die andere Hälfte der Eltern, die Mutter der Kinder ist abwesend. Wo befindet sich die Mutter? In dem Wort „Mutter“ sowie in „Gott“ sehe ich das Doppel-T, die Krone aus Gras. Die beiden Kronen sind abwesend: Die erste ist ermordet worden und die zweite kommt nicht.
5 Schweigen der Punkte
Die einzige Zeile in dem Gedicht, die ich originalgetreu ins Japanische übersetzen kann, ist die vorletzte Zeile, die aus 18 Punkten besteht. Daher war diese Zeile für mich wie ein Trost, sie war aber gleichzeitig ein Dorn (ein Dorn der Rose, der Niemandsrose) im Auge, weil ich nicht wusste, warum es 18 Punkte sind. Seitdem ich über die Interpunktion in dem Gedicht „Einem der vor der Tür stand“ einen Essay geschrieben habe, weiß ich, dass man in Celans Gedichten auch die Interpunktionen genau ,zählen‘ muss.
Man benutzt gelegentlich eine Reihe von Punkten, um das Schweigen als direkte Rede darzustellen. Auch die Punkte in diesem Gedicht sehen aus, als würden sie die abwesenden Buchstaben ersetzen. Man kann nicht den Inhalt der Rede wissen, die Punkte vermitteln nur die Anzahl der abwesenden Schriftzeichen. Das ist mit den Fernsehnachrichten vergleichbar, in denen nur die Anzahl der Toten benannt wird, nicht aber ihre Namen.
„Es ist Gras darüber gewachsen“: Das ist ein verbreitetes Bild für die Vergessenheit. Unter dem Boden, der mit Gras bedeckt ist, liegen die Toten. Das Ideogramm, das „begraben“ bedeutet (), enthält auch das Radikal „die Krone aus Gras“.
Im Gedicht „Engfügung“, das ich als das Übergangsstück zwischen Sprachgitter und Niemandsrose verstehe, wächst das Gras der Vergessenheit.
Es stand auch geschrieben, daß.
Wo? Wir
taten ein Schweigen darüber,
giftgestillt, groß,
ein
grünes
Schweigen, ein Kelchblatt, es
hing ein Gedanke an Pflanzliches daran –
Das Gras, das als „Schweigen“ auf den Toten wächst, macht einerseits die Toten unsichtbar, andererseits bildet es aber ein Medium, mit dem man sich beschäftigen muss, um sich den Toten anzunähern.
Verbracht ins
Gelände
mit der untrüglichen Spur:
Gras auseinandergeschrieben. Die Steine, weiß,
mit den Schatten der Halme:
Lies nicht mehr – schau!
Schau nicht mehr – geh!
Gras ist zwar als Schrift erkennbar, aber wie vereinzelte Buchstaben auseinandergerissen und flüchtig wie Schatten. Daher ist es besser, sich von der traditionellen Umgangsweise mit der Schrift zu befreien, also nicht mehr zu „lesen“, sondern zu „schauen“ oder noch weiter zu gehen, um eine neue Möglichkeit zu finden.
6 Wurzel-o
Wie schon erwähnt, gibt es im Band Die Niemandsrose ein Gedicht, das den Titel „Radix, Matrix“ hat. Das lateinische Wort „radix“ bedeutet in einem botanischen Zusammenhang die Wurzel. Der Begriff „Radikal“, den man für den Bestandteil eines Ideogramms benutzt, ist auch mit diesem Wort verwandt. Während „radix virilis“ männliches Glied bedeutet, steht das Wort „matrix“ für die Gebärmutter. Mir fiel wieder das Wort „zweihäusig“ ein. In dem Titel „Radix, Matrix“ sind die zwei Geschlechter durch Komma getrennt, und jedes von ihnen enthält ein Kreuz in sich, dieses Mal aber kein griechisches Kreuz (+), sondern ein Andreaskreuz (x).
Das Bild der Wurzel steht in diesem Gedicht unter anderem für die männliche Genealogie, es ist von der „Wurzel Abrahams“ und der „Wurzel Jesse“ die Rede. Als letztes wird die „Niemandeswurzel“ erwähnt.
(Wurzel.
Wurzel Abrahams. Wurzel Jesse. Niemandes
Wurzel – o
unser.)
Mir fällt bei dem Ausruf „o“ oder genauer gesagt bei dem Buchstaben „o“ der Name „Ossi“ ein – der Vornamen des russisch-jüdischen Dichters Mandelstamm, dem der Gedichtband Die Niemandsrose gewidmet ist. (Celan bestand auf der Schreibweise „Mandelstamm“ mit dem Doppel-M am Ende.) Mir fällt auch die Zahl „0“ ein, die Zahl, die mit den Schlüsselwörtern des Gedichtbandes „Nichts“ und „Niemand“ verwandt ist. Diese zwei Wörter, die durch ihre Bedeutungen besonders körperlos erscheinen, werden mit dem Wort „Rose“ zusammengesetzt, und dabei entsteht das Bild für eine ungewöhnliche Existenz, die keine weitere Identität besitzt als einen Zustand des Blühens. Im Gedicht „Psalm“ heißt es:
Ein Nichts
waren wir, sind wir, werden
wir bleiben, blühend:
die Nichts- die
Niemandsrose.
Die Niemandsrose gehört niemandem, sie hat keine Identität, die auf Grund der Zugehörigkeit gebildet werden kann. Sie ist ein Nichts im Zustand des Blühens, und dieser Zustand hängt mit dem Schreiben zusammen, wie die folgende Strophe zeigt.
Mit
dem Griffel seelenhell.
dem Staubfaden himmelswüst,
der Krone rot
vom Purpurwort, das wir sangen
über, o über
dem Dorn
Die Wörter „Griffel“ und „Krone“ stehen selbstverständlich im botanischen Lexikon. Wenn es ein Lexikon der Schriftkultur gäbe, würden sie beide auch darin stehen: Der Griffel als Schreibzeug und die Krone als Bezeichnung für die Radikalgruppe „kanmuri“. Trotz des Titels „Psalm“ gehört das Gedicht nicht zum theologischen Bereich, sondern es wandert über die Rücken der botanischen Begriffe zu dem Thema „Schreiben“. Ein Ideogramm, das „schreiben“ bedeutet, hat übrigens auch das Radikal „Die Krone aus Gras“:
Mir fiel noch ein wichtiges Wort aus Niemandsrose ein, das in den beiden Lexika erscheinen würde: „Stamm“. Wie aus einem Baumstamm Äste wachsen, entstehen aus dem Stamm eines Wortes durch Konjugation verschiedene Formen. Übrigens ist „Konjugation“ gleichzeitig ein biologischer und ein linguistischer Begriff.
Ich grabe, du gräbst, und es gräbt auch der Wurm, und das Singende dort sagt: Sie graben.
Die Konjugation ist hier keine trockne Aufgabe für Sprachschüler, sondern eine musikalische Methode der Dichtung. Sie bringt wie in der Musik die Wiederholung mit Variationen hervor. Außerdem hat die Konjugation in diesem Fall Einfluss auf die Rollenbestimmung des Subjekts, das sich an das Graben erinnert. Man kann nicht mehr ein Szenarium festhalten wie „Du gräbst und ich lese darüber“ oder „Ich weiß, daß es gräbt“. Die Positionen, derer man sich mit Hilfe der Personalpronomen zu vergewissern versucht, werden aufgelöst, und den Leser überfällt unmittelbar die Erinnerung an das Graben.
Der Mandelbaum in Niemandrose hat auch einen Wortstamm, den „Mandel-stamm“. Aus diesem Stamm entsteht durch Mutationen ein botanischer Reichtum. „Bandelmaum“, „Mandeltraum“, „Trandelmaum“, „Machandelbaum“, „Chandelbaum“ und auch „Flimmerbaum“ wachsen aus dem Stammbaum. Auch in dem Wort „Niemand“ steckt das Wortfragment „mand“ von „Mandelstamm“. Der Name „Mandelstamm“ lebt nach dem Tod des Dichters weiter, und Celan ermöglicht diesem Namen, sich pflanzlich zu vermehren. Dadurch schützt Celan das Opfer der Judenverfolgung und der Sowjetischen Politik vor der Vergessenheit und der Versteinerung. Dem Mandelbaum wird dabei keine passive Haltung zugeschrieben, die man oft den Pflanzen unterstellt. Er bäumt sich sogar gegen die Epidemie auf:
Aber,
aber er bäumt sich, der Baum. Er
auch er
steht gegen
die Pest.
7 Muttererde
Während die Bäume wachsen und die Rosen blühen, bleibt die „Mutter“ tot. Dieser Kontrast erscheint in einem früheren Gedicht aus Mohn und Gedächtnis in einer deutlicheren Form:
ESPENBAUM, dein Laub blickt weiß ins Dunkel.
Meiner Mutter Haar ward nimmer weiß.
Löwenzahn, so grün ist die Ukraine.
Meine blonde Mutter kam nicht heim.
Die Mutter bleibt namenlos, zeitlos und abwesend. Offensichtlich gehört sie zu den Toten, deren Namen mitverbrannt wurden.
Alle die Namen, alle die mit-
verbrannten
Namen.
Während die Annäherung an den toten Dichter Mandelstamm über seinen Namen und dessen sprachliche Verwandlungen läuft, hat der Annäherungsversuch an die namenlose Mutter einen viel direkteren, körperlicheren und daher auch gefährlicheren Charakter. Der Satz „und ich grab mich dir zu“ im Gedicht „Es war Erde in ihnen“ zeigt, dass die Annäherung sogar den eigenen Tod bedeuten kann. Es ist lebensgefährlich, unter die Erde in die Tiefe zu gehen. Eine blühende Krone kann von dem „Fruchtboden“, der Matrix, verschluckt werden, wie das in „Radix, Matrix“ der Fall ist. Und diese Erde wird im Gedicht „Schwarzerde“ am deutlichsten mit der Mutter in Verbindung gebracht.
SCHWARZERDE, schwarze
Erde du, Stunden-
mutter
Verzweiflung.
Genauer gesagt, steht das erste Wort „Schwarzerde“ insofern noch im Bereich des lebendigen Mandelbaumes, als dieses Wort als Übersetzung des russischen Wortes „cernozem“ gilt, das der Titel eines Gedichtes von Ossip Mandelstamm ist. Aber in dem Moment, in dem das Wort in „schwarze“ und „Erde“ getrennt wird, erscheint in einer versetzten Form die Muttererde in den schwarzen Stunden der Verzweiflung.
7 Die Präposition „zu“
Man muss sich nicht von dem Fruchtboden verschlucken lassen, man muss sich auch nicht neben den Toten begraben lassen, wenn man nicht in die Tiefe stürzt, sondern „zur Tiefe“ geht, die sich im Auge der Geliebten befindet. Das zweite Gedicht in Niemandsrose bezieht sich auf Georg Heyms Gedicht, in dem der Ausdruck „Zur-Tiefe-Gehen“ vorkommt. Während sich das lyrische Ich im ersten Gedicht des Gedichtbands zu den Toten gräbt, bleibt hier eine Distanz zu der Tiefe: Die Tiefe schreibt sich in das Auge des Gegenübers ein. Das ist eine Tiefe, der sich das lyrische Ich gegenüber sieht, und nicht eine, in die es sich selbst eingräbt.
Die Präposition „zu“ verkörpert die Figur der Annäherung, die zwar sehr leidenschaftlich sein kann, sich aber niemals in das Objekt hineindrängt. Man geht zu dem Grab und nicht in das Grab.
Es gibt in Celans Dichtung eine Figur „Aber-Du“, die die Zu-Bewegung des lyrischen Ichs empfängt, reflektiert und widerspricht.
8 Aber-Du und Zu-Ich
„Aber-Du“ kommt unter anderem in dem Gedicht „Zürich, Zum Storchen“ vor, das sich auf das Gespräch zwischen Celan und Nelly Sachs in Zürich bezieht. Das Ich, das gegenüber dem „Aber-Du“ steht, könnte „Zu-Ich“ heißen. Denn das Ich verkörpert auch in diesem Gedicht die Haltung der Annäherung, die man am besten durch die Präposition „zu“ darstellen kann. Wenn man will, kann man auch von dem Ausdruck „Zur-Tiefe-Gehen“ diese mit dem Artikel verschmolzene Form der Präposition ausleihen und „Zur-Ich“ sagen. So gewinnt der Ortsname „Zür-ich“ einen Sinn außerhalb der biografischen Tatsache, dass die Stadt, in der sich Celan mit Nelly Sachs traf, „Zürich“ heißt. „Zü“ von „Zürich“ wird dadurch betont, dass diesem Ortsnamen unmittelbar der Name des Hotel-Restaurants „Zum Storchen“ folgt. Celan suchte diesen Titel sehr sorgfältig aus. In einer früheren Fassung stand noch das Wort „Hotel“ zwischen „Zürich“ und „Zum Storchen“, das Celan später ausstrich.
Der Titel „Tübingen, Jänner“ korrespondiert mit dem Titel „Zürich, Zum Storchen“. Der Ortsname „Tübingen“ lässt sich in „Tü“, „bin“ und „gen“ sezieren: „tü“ steht in Korrespondenz zu „Zü“ von Zürich, „bin“ ist selbstverständlich die Ich-Form des Verbs sein, und die Präposition „gen“ ist ein Synonym von „zu“. Gleichzeitig erinnert „Tü“ von „Tübingen“ an das französische Wort „tu“ und „Jä“ von „Jänner“ an „je“. So stehen Ich und Du zusammen in einem Titel, durch ein Komma getrennt, genau wie die zweihäusigen Radix und Matrix in einem anderen Titel)
Die Zu-Bewegung braucht „Aber-Du“, ein Gegenüber, das sich nie einverleiben lässt. Wenn man das Wort „aber“ mit dem linguistischen Terminus „Konjunktion“ zu klassifizieren versucht, kommt man nicht weiter in dem Rosengarten. Celan verwendet stattdessen den botanischen Begriff „Knoten“ und zählt im Gedicht „Die Silbe Schmerz“ einige Knoten auf: „Wider- und Gegen- und Aber- und Zwillings- und Tausendknoten“. Der Knoten bedeutet in der Botanik die Ansatzstelle des Blattes am Stängel. Das Ideogramm (ha) bedeutet übrigens – genau wie das deutsche Wort „Blatt“ – ein Blatt von einer Pflanze oder ein geschriebenes Blatt Papier. Die Knoten sind also die Ansätze, aus denen neue Wörter wachsen. Die Knotenbildung kann unterschiedliche Formen haben. Während im Nelly-Sachs-Gedicht der Aberknoten wächst, entsteht im Hölderlin-Gedicht „Tübingen, Jänner“ der Zwillingsknoten:
nur lallen und lallen,
immer-, immer-
zuzu.
(„Pallaksch. Pallaksch.“)
Das ist eine Sprache, in der sich Wörter und Buchstaben verdoppeln und Zwillingspaare bilden. Auch schon in dem Wort „Zwillinge“ selbst verdoppelt sich der Buchstabe „l“, und das gleiche passiert in „lallen“ und „Pallaksch“. In dem Gedicht verdoppelt sich auch der Hölderlinturm durch die Spiegelung im Neckar. Deshalb heißt es „Hölderlintürme“.
Anscheinend hängt es von dem Auge des Gegenübers ab, welche Form der Knotenbildung zustande kommt. Im Nelly-Sachs-Gedicht wird das Auge des Gegenübers wie eine handelnde Person lebendig dargestellt („Dein Aug sah mir zu, sah hinweg, / dein Mund / sprach sich dem Auge zu, ich hörte:“), während das Hölderlin-Gedicht mit dem Bild der „Zur Blindheit über- / redete(n) Augen“ beginnt. Was hier angedeutet wird, ist nicht nur die passive Haltung eines Menschen, der sich zum Nicht-Hinschauen überreden ließ. Durch die Trennung des Wortes „überredete“ in „über“ und „redete“ gewinnen die Augen eine Räumlichkeit von „gegen-über“, zu der keine direkte Vermittlung mehr möglich ist. Die Zwillingswörter an der zitierten Stelle haben keine Botschaft mehr, aber das ist auch eine Sprache, eine poetische Sprache: Sie findet ihre Ansätze und wächst aus ihnen.
Anders als die Zwillingsknoten stehen die Wörter „Aber“, „Wider“ und „Gegen“ für den Widerstand. „Aber“ weist übrigens nicht nur auf einen Gegensatz hin, sondern auch auf die Wiederholung. Dieser Aspekt ist für Celan auch wichtig, wie man an dem mehrmals gebrauchten Wort „abermals“ sehen kann.
Mandelstamm schreibt in seinem Essay „Vom Gegenüber“ (1913), dass es keine Lyrik ohne Dialog gebe. Der Dialog solle allerdings kein Geschwätz mit Nachbarn sein, sondern ein Signalaustausch mit dem Mars. Es sei gerade gut, dass man gar nicht die Denkweise des Marswesens ,wissen‘ könne. Sonst würde man beim Schreiben auf bestimmte Reaktionen des Gegenübers zielen.
Manchmal habe ich das Gefühl, Celan hätte unter anderem die Übersetzer, die er noch gar nicht kennen konnte, als Gesprächspartner vom Mars angesehen und für sie zahlreiche Signale hinterlassen. Die Fähigkeit, mit unbekannten Übersetzern aus der Zukunft zu korrespondieren, gewann Celans Dichtung dadurch, dass sie in sich schon verschiedene Sprachen – sei es eine naturwissenschaftliche, eine biblische oder die französische – enthält. Sie stehen nicht einfach nebeneinander in einem Gedicht, sondern sie sind durch einen alchimistischen Prozess so miteinander verbunden, dass das Gedicht in jedem Übersetzungsversuch neue Formen zeigt. Das Doppel-T in Niemandsrose war auch ein Signal, das der Dichter hinterlassen hatte, damit es von einem Marswesen später zum Beispiel als die Krone aus Gras gelesen werden könnte.
9 Verzählt
Die Schweigezeile im Gedicht „Zweihäusig, Ewiger“ ließ mich nicht in Ruhe. Warum sind das 18 Punkte? Ich wollte keinen bestimmten Sinn dahinter entdecken, ich wollte nur wissen, ob diese Zahl die Wiederkehr von etwas anderem ist. Um das herauszufinden, kann man nichts anderes machen als zählen. Aber was soll ich zählen? Celan schrieb:
ZÄHLE die Mandeln,
zähle, was bitter war und dich wachhielt,
zähl mich dazu:
Soll ich die Mandeln zählen? Die Mandeln sind Stein-Früchte. Soll ich die Steine zählen? Der Mandelbaum gehört überraschenderweise zu der Familie der Rosengewächse (Rosaceae). Soll ich die Rosen zählen? Ich habe schon die Rosen in „Von Schwelle zu Schwelle“ gezählt, jetzt möchte ich etwas anderes zählen. Soll ich zählen, was bitter war? Das Ideogramm „“, das „bitter“ bedeutet, enthält auch das Radikal „Die Krone aus Gras“, und das Wort „bitter“ hat auch ein Doppel-T. Ich zähle den Buchstaben „t“ in dem Gedicht „Zweihäusig, Ewiger“: Es sind genau 18.
Zwei Tage später entdeckte ich aber in der historisch-kritischen Ausgabe, dass in der „Endfassung“ nur 17 Punkte gedruckt waren. Außerdem hatte ich den Buchstaben „t“ auch noch falsch gezählt. Es sind 20. Zum Glück war ich nicht all zu lange enttäuscht und gelähmt. Am nächsten Tag fing ich schon an erneut zu zählen. Was soll ich jetzt zählen? Celan schrieb: „Zähle die Mandeln“. Meint er Mandelstamm? Ich zählte die Buchstaben in dem Namen „Ossip Mandelstamm“, das sind mit Lücke 17 Buchstaben.
Es war aber vielleicht nicht mehr so wichtig, dass die Rechnung aufging. Denn ich wollte keine Zahl festlegen, geschweige einer Zahl eine Bedeutung zuschreiben, ich wollte bloß an den Pflanzen, die aus der Wurzel Null pausenlos wachsen, blühen und sich in Richtung „keimendes Niemals“ hin bewegen, immer wieder neue Formen erkennen und sie zählen.
Yoko Tawada, Text+Kritik. Paul Celan, Heft 53/54, November 2002
– Celans Gedichtzyklus Die Niemandsrose (1963). –1
Der Gedichtband Die Niemandsrose, der 1963 im S. Fischer Verlag erstmals erschien, hat eine gewisse Scharnier-Stellung im Gesamtwerk Celans. Er unterscheidet sich vom Frühwerk (Mohn und Gedächtnis und Von Schwelle zu Schwelle), das durchaus Einflüsse des Surrealismus erkennen lässt und Genitiv-Metaphern, „Wie“-Vergleiche sowie daktylische Langzeilen als Ausdrucksmittel verwendet. Zum anderen hebt sich Die Niemandsrose ab vom Spätwerk, das sich durch eine zunehmende Ausdrucksverknappung auszeichnet und eine Neigung zum poetischen Sarkasmus2 bekundet. „Der blühende Garten des Surrealismus geht in den Steinbruch der Wortbrocken über“3 – bringt Helmut Böttiger diese Entwicklung auf den Punkt. Dass Celan in den Gedichtbänden ab Atemwende (1967) entlegenes Fachvokabular – neben botanischen, geologischen und mineralogischen auch medizinische Fremdwörter – einbezieht und durch die Verwendung von Alltagssprache Stilbrüche einkalkuliert, Voraussetzungen stellt für die Deutung eine nicht geringe Herausforderung dar.
Wie bereits erwähnt, ist Celan seit Ende der 1950er Jahre zunehmend irritiert durch die deutschsprachige Literaturkritik. In den Plagiatsvorwürfen Claire Golls, aber auch in manchen wohlmeinenden Verteidigungsversuchen sieht er eine besonders infame Verdichtung dieser Umtriebe. Er fühlt sich als jüdischer Dichter getroffen. Obwohl die Vorwürfe als unberechtigt und unhaltbar zurückgewiesen werden, hinterlassen sie bei Celan nachhaltige Spuren und sind Anlass für eine vertiefte Beschäftigung mit seinen Wurzeln.
Nach Jürgen Lehmann sind für Die Niemandrose zwei Elemente kennzeichnend: die besondere Auseinandersetzung mit dem Judentum einerseits und die Begegnung mit der russischen Literatur andererseits. In der Tat hat Celans Beschäftigung mit jüdischer Literatur – nachgewiesen ist ab Mitte der 1950er Jahre ein intensives Studium wichtiger Arbeiten von Martin Buber, Margarete Susman, Hugo Bergmann und Gershom Scholem – deutliche Spuren in seiner Lyrik hinterlassen. Das Zwiegespräch mit Nelly Sachs über die Bedeutung des Judentums dürfte darüber hinaus eine wichtige Rolle gespielt haben (vgl. die Gedichte „Zürich, Zum Storchen“ und „Die Schleuse“). Aber auch der Name Ossip Mandelstams, mit dessen Schicksal als verfolgtem Dichter und Juden sich Celan identifiziert und aus dessen Werk er wichtige Gedichte übersetzt hat, muss hier genannt werden. Die Niemandsrose ist dem Andenken Mandelstams gewidmet, der unter den Umständen des Terrors den Mut hatte, ein Gedicht gegen Stalin zu schreiben, und 1938 in einem Lager bei Vladivostok umgekommen ist:
Die Auseinandersetzung mit Nelly Sachs, die damit verbundene Problematisierung und poetische Transformation jüdischer Glaubensvorstellungen prägt die erste Hälfte der Niemandsrose, während der mehr identifikatorische Umgang mit Ossip Mandelstam vor allem die zweite Hälfte des Gedichtbandes bestimmt.4
Über eine gewisse biographische Verwandtschaft hinaus sieht Celan in Mandelstams Dichtungsverständnis wesentliche Momente seiner eigenen Poetik vorweggenommen: den politisch historischen Gehalt von Dichtung, ihren dialogischen Charakter als Begegnung und „Flaschenpost“, die Nähe zur deutschen Literatur sowie die Gestaltung zentraler Motive wie Stein, Wasser, Erde, Nacht, Schweigen, Wort, Stern und Zeit.5 In einem Fragment gebliebenen Gedicht „Bruder Ossip“ hat Celan seiner Nähe zu Mandelstam Ausdruck verliehen:
Es spielt der Schmerz mit den Worten
Er spielt sich Namen zu
Er sucht die Niemandsorte,
Und da, da wartest du.
Du bist der Russenjude,
der Judenrusse, und… (GN S. 371)
Celan sucht aber auch das Zwiegespräch mit anderen Autoren. Die eingearbeiteten Zitate oder Anspielungen in der Niemandsrose bilden ein polyphones Geflecht von Stimmen, einmontierten Fremdwörtern und historischen Daten, das in Celans Gesamtwerk einzigartig sein dürfte: Rilke, Hölderlin, Heinrich Heine, Georg Büchner, Arnold Zweig, französische Literaten wie Villon, Verlaine und Valéry sind ebenso präsent wie die russische Dichterin Marina Zwetajewa – um nur einige Namen zu nennen.
Celan hat während seiner Arbeit an dem Band Die Niemandsrose (1959–1962) seine bereits erwähnte Prosaarbeit „Gespräch im Gebirg“ verfasst, die auf die versäumte Begegnung mit Theodor W. Adorno im Engadin zurückgeht und in einer geradezu rastlosen Diktion das Motiv des wandernden Juden verarbeitet.6 Auch die Konzeption der Rede anlässlich der Verleihung des Büchnerpreises im Oktober 1960, „Der Meridian“, fällt in diese Zeit. „Der Meridian“ gilt als das poetologische Manifest Celans und enthält die wichtigsten Hinweise im Blick auf das Selbstverständnis des Dichters.7 Der Zyklus Die Niemandsrose selbst hat vier Teile. Die hier ausgewählten Gedichte „Es war Erde in ihnen“ – „Psalm“ – „Zürich, Zum Storchen“ entstammen dem ersten Teil, die Gedichte Benedicta und In eins dem zweiten. Die Konzentration auf die ersten beiden Teile liegt darin begründet, dass hier religiöse Aspekte eine hervorgehobene Rolle spielen. Allerdings werden gerade bei der Interpretation des Psalms auch Gedichte aus den anderen Teilen herangewgen. Im Anschluss an die Deutung der Gedichte folgt ein – notgedrungen – sporadischer Ausblick auf den gesamten Band, um die These von der Niemandsrose als einer ,Antibibel‘ kritisch zu prüfen.
Jan-Heiner Tück, aus Jan-Heiner Tück: Gelobt seist du, Niemand. Paul Celans Dichtung – eine theologische Provokation, Herder Verlag, 2020
[…]8
Lektüre, Freiburg
Als ich die Niemandsrose im Winter 1963/64, kurz nach ihrem Erscheinen, als gerade beginnender Student in Freiburg kaufte, hatte ich ein bisschen von Celan gelesen. Aber diese Gedichte schlugen jetzt unmittelbar bei mir ein. Ich habe auf einem Stuhl am Rande der Mensa gesessen und, ich weiß nicht, vielleicht ein oder zwei Stunden lang gelesen. Es war eine der heftigsten Lektüren, die ich je gehabt habe. Da war zunächst ein Sprachklang, der mich faszinierte. Alles schien im ersten Moment fremd und doch so, als würde man diese Fremdheit schon kennen. Das Deutsche hatte genau die Fremdheit und innere Aufladung, in der jedes Wort wieder neu lesbar schien. Obwohl ich vieles gar nicht verstand und überhaupt in vielem noch völlig ahnungslos war, fühlte ich mich doch mitten in der Bewegung dieser Sprache und nahm sie wie einen hieroglyphischen Klartext auf. Die Schubkraft, die mich da hindurchzog, war weitaus stärker und wichtiger als die Entschlüsselung von Details, es war genau das, was ich brauchte und worauf ich seit langem gewartet hatte.
Tatsächlich habe ich mir nach der Lektüre vorgenommen, wenn ich je am Ende des Studiums eine Doktorarbeit schreiben würde, dann wollte ich sie über Celan schreiben. Das war so ein verwegener Lebensentschluss, denn ich hatte ja noch kaum ein Seminar besucht. Aber es ist genauso gekommen.
Dass die Gedichte so heftig wirkten, hatte natürlich Voraussetzungen. Ich studierte in Freiburg, dort war die Heidegger-Schule zu Hause (von anderen, Adorno, Bloch, Benjamin oder Scholem wusste ich noch wenig, das kam erst später). Ich beschäftigte mich also mit Heidegger und las ihn auf meine Weise persönlich und existenziell, jetzt fand ich, dass es viele Spuren von Heidegger in Celans Gedichten gab, und zwar auf eine Weise, die meinem Verständnis dieser Philosophie weitaus näher lag als Heideggers Texte selbst. Gewissermaßen holte Celan die abgehobene Sprechweise aus den Wolken auf die Erde herab: in den Atem, ins Sprechen, in die kreatürliche (vergehende, sterbliche) Sprache. Die Existenzbestimmungen und philosophischen Grundbegriffe wie Geworfenheit, Dasein, Abgrund, Nichts, Seinsvergessenheit (ja sogar das großgeschriebene Selbe) kehrten bei Celan wieder und waren jetzt unerhört hautnah, sie hatten einen persönlichen und geschichtlichen Hintergrund, sie wurden sprachliches Ereignis und waren mit dem Körper verbunden, mit den schreibenden Händen und dem Atem, der plötzlich stocken kann. […]
Erster Besuch
1964 habe ich Celan das erste Mal besucht. Das geschah durch Leo Sonntag, einen Freund in Paris, der wie Celan in Czernowitz geboren war und der jetzt in Paris in der Rue du Cherche-Midi wohnte, mit einem geheimen Fluchtgang, den er vorsichtshalber nach seinen Erfahrungen während der Nazizeit in die Wohnung eingebaut hatte – ich habe über Leo Sonntag in meinem Buch Sonntag, Paris geschrieben, Sonntag ist darin nicht nur ein Wochentag, sondern sein Name. Durch ihn kam ich zu Celan und in die Rue de Longchamp, eine kleine Straße beim Trocadero, etwas oberhalb der Seine gelegen, und habe ihm, nachmittags in der Bibliothek bei einem Café sitzend, von meinem Lesen der Niemandsrose erzählt.
Ihn freute das offensichtlich – so jung und schüchtern und beeindruckt ich ihm gegenübersaß. Und er sagte auch gleich dazu:
Diese Gedichte sind überhaupt nicht hermetisch, sie sind offen. Alles in ihnen ist eigentlich ganz klar.
Damit wehrte er sich gegen den Vorwurf der Esoterik oder Unverständlichkeit. Es brauche nur etwas mehr Aufmerksamkeit, meinte er. Und die Kritiken damals deuteten die Form der Ellipse, die Tendenz zum Verstummen seltsam einhellig als fortgesetzten Schiffbruch, sie überlasen geflissentlich die zeitgeschichtlichen Hinweise und Bezüge, empfanden gar die „Mühlen des Todes“, mit denen Auschwitz gemeint war, als ein Beispiel surrealistischer Beliebigkeit.
Wir kamen auf Heidegger zu sprechen, dessen Hölderlin-Interpretationen Celan „begnadet“ fand und den er, wie ich schon vermutet hatte, sehr hochschätzte. Die Kritik an Heidegger, die sich vor allem auf seine Rolle in der Nazizeit bezog, wurde erst in den nächsten Jahren stärker, erst recht, als klar wurde, dass er keinerlei Irrtümer eingestehen wollte. Die Divergenz und der Schmerz darüber gingen bis hin zu dem vieldiskutierten Gedicht „Todtnauberg“, das Celan nach einem Heidegger-Besuch im Schwarzwald geschrieben hat.
Wir sprachen auch – gleich wieder die Gegenseite – über Adorno und seinen Satz, dass man nach Auschwitz keine Gedichte mehr schreiben könne, ein Satz, dem Celan heftig widersprach, nicht nur weil er Gedichte schrieb, sondern weil er – durchaus parallel und in großer Nähe zu Adorno – sein Schreiben von diesem selben Grunddatum her bestimmt sah und das Gedächtnis daran zur Moral der Sprache machte. Adorno hat seinen Satz später zurückgenommen, und es ist bekannt, dass beide sich in Sils Maria (dem Ort Nietzsches) treffen wollten – das geschah auf Vermittlung von Peter Szondi. Aus dem Treffen wurde dann nichts – dafür aber entstand Celans Prosaerzählung „Gespräch im Gebirg“, das von einer Begegnung des Juden Groß und des Juden Klein handelt.
Solche Prosastücke, erzählte mir Celan, hätte er eigentlich noch mehr schreiben wollen, er hätte auch schon einige Pläne und Entwürfe dazu, aber der Verlag (damals Fischer) habe ihm abgeraten; er solle bitte bei seinen Gedichten bleiben.
Die „Todesfuge“, Celans schon damals berühmtestes Gedicht, hat er in den 60er Jahren öffentlich nicht mehr vorgelesen. Für ihn hatte es eine fragwürdige Rolle bekommen, es war so etwas wie ein Markenartikel der Wiedergutmachung geworden, und das war ihm unerträglich. Auch das deutet an, wie sehr und wie empfindlich er auf die Wirkung seiner Gedichte achtete. Übrigens habe er das Gedicht, sagte er, gar nicht als Fuge geplant (in der deutschen und rumänischen Erstfassung hieß es auch „Todestango“), sondern ein Freund habe ihm hinterher gesagt:
Da hast du ja eine Fuge geschrieben.
Gedichte, sagte Celan plötzlich, sind eine Passion. Und er übersetzte das sofort mit der für ihn typischen Wortgenauigkeit: Sie sind ein Leiden und eine Leidenschaft. Es gibt eine Seite des Erleidens im Gedicht (eine Seite, auf der sich die Welt in den Körper und die Sprache einschreibt) und eine aktive Seite der Leidenschaft, der persönlichen, emotionalen Haltung und Stellungnahme, und das heißt bei ihm immer auch: einer Moral.
„Meine Gedichte haben ihr Ziel nicht in sich, sie sind nicht abgeschlossen, sondern sie wollen zu einem Anderen“, sagte Celan, „sie sind Flaschenpost.“ Schon in der Büchner-Preis-Rede hatte er gesagt:
Gedichte sind unterwegs zu einem Anderen.
Und er nahm in unserem Gespräch jetzt eine direkte Gegenposition zu Gottfried Benn ein: nicht das monologische Gedicht, nicht das ästhetisch in sich genügsame Gebilde, auch nicht „poésie pure“ im Sinne Valérys oder das absolute Gedicht Mallarmés, sondern das dialogische Gedicht sei ihm wichtig, das aus sich und seiner Kunst heraus anderswohin will.
Irgendwann ging die Tür zum Nebenzimmer auf, und Celans Frau, Gisèle, schaute herein. Ich habe sie ungeheuer schön, zart und verletzlich in Erinnerung. Dieser Blick von Gisèle Celan-Lestrange, der Künstlerin (und je mehr Bilder ich von ihr gesehen habe, desto höher begann ich sie zu schätzen und betrachtete sie jetzt gleichsam als Gegenstück zu Celans Gedichten), dieser Blick ist mir über lange Zeit nicht aus dem Kopf gegangen, er ist mir auch später noch durch die Straßen von Paris gefolgt, und ich glaubte sie an verschiedenen Stellen wiederzusehen – aber sie war es nicht. Was mir nur klar war und sofort glaubhaft, war: dass das Du in den Gedichten und in der Niemandsrose zuallermeist sie war.
Das war am Anfang meines Studiums, im zweiten Semester. Und am Ende, schon in München, habe ich – als Folge der Niemandsrose und als Folge dieses Besuchs – meine Doktorarbeit über Paul Celan geschrieben. Das war die damals, glaube ich, erste Gesamtdeutung seines Werks, und sie hieß im Untertitel: „Verweigerte Poetisierung der Welt“… Poetisierung – weil ich inzwischen Novalis gelesen hatte und weil ich seine ganze frühromantische Konzeption von einer Dichtung, die die Welt von Grund auf poetisch revolutionieren soll, sozusagen als Übertragung der Französischen Revolution auf die Poesie, bei Celan wiederfand, nur eben jetzt negativ: die Poetisierung wird bei ihm verweigert. Sie ist und sie wird verweigert. Keine falsche Verklärung mehr. Die Symbole der Poetisierung kehrten sich um. Statt der Suche nach inneren Schätzen, inneren Sprachschätzen, die man hervorholt und mit denen man die Welt verwandelt, gibt es jetzt einen Abstieg oder Rückstieg ins Schweigen und ein Graben ins Erdinnere, das ein bisschen auch wie Grabschaufeln erscheint […]
Celan in Paris, politisches
Ich habe Celan in Hamburg bei einer Lesung wiedergesehen, wo ganze neun Leute waren (auch das gab es Mitte der 60er Jahre – obwohl er doch weithin bekannt war), danach einmal in Tübingen im Hochsommer und dann zwischen 1968 und 1970 mehrmals in Paris. Er lebte inzwischen von seiner Frau getrennt, nahe der Place de la Contrescarpe, und ich hatte meine Doktorarbeit begonnen… Von nun ab redeten wir eigentlich fast nie über einzelne Gedichte, sondern viel mehr über Deutschland, über Politisches und – das war wichtig für mich – über Worte.
Einmal, in Leo Sonntags Wohnung sitzend (Celan hatte sich inzwischen körperlich verändert, er hatte eine leicht gebeugte Haltung – als läge eine Last auf seinen Schultern; ich wusste, dass er in einer Nervenklinik wegen Depression und Verfolgungsgefühlen gewesen war, ihn umgab eine ganz physisch spürbare Aura von Einsamkeit), bei Leo Sonntag also zählte er plötzlich mitten in einem Gespräch über Deutschland, das ihm nach wie vor angst machte, wie nebenher die drei Formen der Aufhebung bei Hegel auf: Eine Sache wird aufgehoben, sagte er, indem man sie aufgreift (vom Boden aufhebt), dann, indem man sie annulliert (ihr den Boden entzieht), und drittens, indem man sie aufbewahrt.
In der Nacht darauf war mir klar, dass ich den Schlüssel zu meiner Doktorarbeit gefunden hatte. Die Poetisierung der Welt (darum ging es mir ja) wird bei Celan nämlich in genau diesem dreifachen Sinne aufgehoben: Sie wird als Problematik aufgegriffen, sie wird im Gedicht depoetisiert und dekomponiert, und ihr utopisches Ziel – ein anderer Weltzustand, das ist das Entscheidende – wird eben nicht vergessen oder fallengelassen, sondern gegen die Zeit eingefordert und im Gedicht gleichsam wie in einer Verbannung aufbewahrt.
Ein andermal saßen wir an der Place de la Contrescarpe in einer Studentenkneipe. Am Nebentisch wurde der Dichter „Än“ (Heinrich Heine) rezitiert, auf französisch. Der Tisch war voller Brotreste und Weinflecke – „viel Weltgeschichte“, sagte Celan… Und dann wiederholte er etwas, das er schon bei meinem ersten Besuch gesagt hatte: in Deutschland habe es nach dem Krieg nie wirklich eine „Umkehr“ gegeben, ja nicht einmal eine „Besinnung“… Im Wort Umkehr steckte für ihn auch etwas von Revolution. Schon in einem Gedicht der 50er Jahre hieß es:
Es komme der geharnischte Windstoß der Umkehr.
Ich hörte das jetzt mit, und ich begriff auch, dass Celans Wortgebrauch und Wortverständnis so gut wie nie zeitenthoben, sondern in guter Übereinstimmung mit der jüdischen Tradition (man denke nur an die Propheten) konkret auf die Zeit bezogen und voller konkreter Erinnerung an Worte ist. Viele wollten das nicht sehen in den 50er und 60er Jahren. Man las darüber hinweg. Es war in vieler Hinsicht eine Zeit der Vergangenheitsverdrängung, des besinnungslosen Aufschwungs, der Prosperität und der Denktabus. (Und manchmal frage ich mich, ob nicht die 90er Jahre nach der Vereinigung und dem globalen Sieg des Profitdenkens, auch wenn es heute erlaubt ist, über alles und jedes zu reden und zu quasseln wie nie, ebenso voller Denktabus sind. Celan heute, so kommt es mir vor, ist ähnlich fremd wie Mitte der 60er Jahre.)
Sein Wortverständnis jedenfalls hat mich geprägt: nicht nur meine Doktorarbeit, sondern auch mich selbst. Man kann auch sagen: Celans Gedichte, mitsamt der Dunkelheit, die in ihnen steckt, haben mir – auch fürs Politische – die Augen geöffnet. […]
Letzter Besuch, April 1970
Ich habe Celan das letzte Mal eine Woche vor seinem Tod gesehen. Das war im April 1970. Er wohnte seit kurzem am Pont Mirabeau, Avenue Émile Zola, mit Blick auf die Brücke, von der er wahrscheinlich in die Seine gesprungen ist. Vom Pont Mirabeau gibt es ein berühmtes Gedicht Apollinaires:
Sous le Pont Mirabeau coule la Seine,
Et nos amours…
Celan hat Apollinaire übersetzt, und das Gedicht – in Frankreich fast ein Volkslied – kehrt auch schon in der Niemandsrose wieder, zu einer Zeit, als Celan noch nicht an den Pont Mirabeau gezogen war, da wird berichtet, wie in einer Vorausdeutung oder Umdeutung vom Tod ins Leben:
Von der Brücken-
quader, von der
er ins Leben hinüber-
prallte, flügge
von Wunden, – vom
Pont Mirabeau.
Wo die Oka nicht mitfließt. Et quels
amours! (Kyrillisches, Freunde, auch das
ritt ich über die Seine…)
Die Wohnung war noch halbleer, nur wenige Bücher in den Regalen. Ich ging also am frühen Nachmittag hin, allein, und erzählte Celan von meiner Doktorarbeit – vorsichtig und andeutungsweise, denn ich hatte Angst, er könne Einwände haben (was dann gar nicht der Fall war). Er gab mir neue Gedichte zu lesen und schaute mir über die Schulter zu, während ich las. Ganz in der Nähe lag die Citroen-Fabrik. Streiks gab es da.
Wir redeten, wie schon des öfteren zuvor, über den Mai 68, den Studentenaufstand in Paris, den Celan am Anfang begeistert begrüßte. Man kann es Gedicht für Gedicht dem Band Schneepart ablesen, eines davon, am 27. April 1968 geschrieben, endet mit dem Satz:
Komm mit dem Leseschimmer,
es ist
die Barrikade.
Später kam dann Kritik hinzu, besonders was die Eindimensionalität und Blauäugigkeit der ideologischen Debatten anging, und das wieder besonders in Deutschland. „Sie schlagen den Vätern die Köpfe ab und setzen ihnen die Köpfe der Onkel auf“, sagte Celan einmal. Er wollte keinen Wiederaufguss der vorhandenen Revolutionsmodelle. Den Satz von Dany Cohn-Bendit allerdings: „Wir sind die Juden“ – wir, die aufständischen Studenten –, fand er entgegen anderen Annahmen gut. Und wenn er überhaupt vor etwas Angst hatte, zumal in Deutschland, dann war es ein wiederkehrender Antisemitismus, und sei es in Gestalt eines rechten oder linken Antizionismus.
Plötzlich fragte er:
Wo haben Sie eigentlich ihre Freundin gelassen?
Er hatte gehofft, dass sie mitkam. So bin ich also quer durch Paris zu Leo Sonntag gefahren, habe Ulrike abgeholt (später wurde sie meine Frau). Celan war inzwischen auf die andere Seineseite gegangen und hatte russisches Brot gekauft, dazu Schinken. Wein gab es sowieso genug. Und dann saßen wir beisammen, bis spät in die Nacht hinein – nie habe ich Celan gelöster, nie heiterer erlebt als an diesem Abend, eine Woche vor seinem Tod…
Ich dachte eigentlich (da ich von seiner Gefährdung wusste), es ginge ihm besser als die letzten Male zuvor. Celan erzählte von Ingeborg Bachmann in der Hamburger Herbertstraße, der Bordellstraße, in der sie zusammen gewesen waren, und von Hans Werner Richter, den er zu meinem Erstaunen sehr lobte. Wir erzählten ihm von Thomas Bernhard und Konrad Bayer, die wir beide sehr mochten. Bei Bayer tat er so, als ob er ihn nicht kennte. Und zu Peter Handke, der ja damals schon in Paris war und viel ins Kino ging, sagte er, wahrscheinlich sei er – Celan – ihm zu altmodisch, jedenfalls hätten sie sich in Paris noch nicht getroffen. Später, man weiß es, ist Celan für Handke immer wichtiger geworden.
Es war ein Abend voller Geschichten, voller Scherze und Herzlichkeiten. Nichts schien auf den Selbstmord hinzudeuten, vielleicht war Celan in diesem Moment auch weit davon entfernt… Und doch gab es ein paar Zeichen. Zwei- oder dreimal am Abend sagte Celan, wenn wir von irgendwelchen seiner Bücher sprachen, wir könnten sie haben, wir sollten sie doch mitnehmen, er würde sie uns schenken (u.a. war eine englische Joyce-Ausgabe darunter). Das waren vielleicht Hinweise. Vielleicht war er tatsächlich schon am Weggehen und feierte noch einmal das Leben. Ich weiß es nicht.
Eine Woche später war er tot. Ich erfuhr im Radio, schon wieder in Deutschland zurück, dass man ihn aus der Seine gefischt hatte. Das war ein Schock und doppelt verwirrend, denn ich hatte ihn so kurz vorher noch gesehen. Und unser letzter Abend stand jetzt plötzlich unter einem seltsam zweifachen Vorzeichen, hell und dunkel zugleich: Er war – ein bisschen wie seine Gedichte selbst – zugleich mit dem Leben (mit einer Fröhlichkeit, einem Übermut fast) und mit dem Tod verbunden.
Das alles habe ich im Kopf behalten, und ich habe Celans Gedichte als Schrift in mir behalten, die gar nicht zu löschen ist. Sosehr ich dann im Schreiben eigene Wege gegangen bin, nicht die der Lyrik, sondern der Prosa und der Reise, auf der man die Welt neu abzutasten und zu buchstabieren lernt, nicht die der sprachlichen Reduktion, sondern die der Erweiterung und des Aufbruchs, sosehr sind mir Celans Gedichte doch nachgegangen und haben mich immer wieder aufgesucht zwischen den Sätzen. Sie haben mich geprägt. Und auch darum wollte ich Ihnen heute davon erzählen.
Klaus Voswinckel, in Celan wiederlesen, Lyrik Kabinett München, 1999
Claudia Schülke: Paul Celans botanische Trittsiegel
Frankfurter Allgemeine Zeitung 17.11.2020
bei Verleihung des Bremer Literaturpreises
Theodor Fontane war siebzig Jahre alt, da schickte ihm ein uns nicht mehr bekannter Verleger, Paid Ackermann, auf schlechtem Papier schlecht gedruckt das Stück eines namenlosen jungen Autors Gerhart Hauptmann mit dem Titel Vor Sonnenaufgang ins Haus, Potsdamer Straße 134 c in Berlin. Nach drei oder vier Wochen erhielt Herr Ackermann von Fontane jenen Brief, der bekannt ist:
Sehr geehrter Herr, durch einen Zufall wurde auf meinem Riesenschreibtisch (einem alten Erbstück) das G. Hauptmannsche Stück verpackt und verschoben, so daß ich es erst am Freitagabend wiederentdeckte. Ich machte mich an die Lektüre, las an demselben Abend den ersten Akt und gestern den Rest. Ich war ganz benommen und kann Ihnen nur gratulieren, etwas so Hervorragendes herausgegeben zu haben. Der zweite Akt ist ganz Nummer Eins. Ich halte es nicht für unmöglich, daß das Stück aufgeführt werden kann. Allerdings, von erfreulich ist nicht die Rede. Auch erschrecke ich, wenn ich mir vorstelle, das solle nun die Literatur der nächsten Epoche sein; die Literatur hat im Letzten andere Aufgaben.
So geht es weiter, lange; der alte Herr rühmt und rühmt dieses Erstlingstück, von dem ich Ihnen versichere, daß es Sie heute noch, nach siebzig Jahren, heftig skandalisierte, wenn es wieder aufgeführt würde. Er rühmt es und schließt:
Ihr Dichter wird vielleicht ein Leben lang warten, eh ihm — und noch dazu von einem alten Herrn – wieder so viel Anerkennendes gesagt wird. Aber G. Hauptmann kann auf mich zählen.
Ich finde, dies bleibt eine der schönsten Geschichten unserer Literatur- und Geistesgeschichte. Es ist der schöne und seltene Fall – Gegenbeispiele sind leichter zu finden – einer Handreichung über die Generationen, die Strömungen, Kunstgesinnungen, Überzeugungen, über die Formen und Stile hinweg. Es ist das Fest einer Duldsamkeit und einer künstlerisch herzlichen Großmut.
Ich glaube, an diesen archetypischen Fall darf man denken, wenn es nun gilt, den jungen Lyriker Celan, Paul Celan, an dem Festtag und im Namen Rudolf Alexander Schröders zu preisen. Denn auch die Spanne von Schröder zu Celan ist groß, nicht weniger groß, denke ich, als die damals vom konservativen Weisen Fontane zum jungen sozialistischen Rüttler. Was aber sind Ismen und Stile, was sind Programme, Tendenzen, wenn es sich darum handelt, den wirklichen Künstler mit dem wirklichen Künstler zusammenzubringen. Der alte Künstler kann seinesgleichen ja nicht in seinen Nachahmern sehen, die nach einem Menschenalter etwa etwas Ähnliches machten wie er in längst vergangenen Tagen; natürlich sieht er seinesgleichen in solchen, die den Wagemut seiner Jugend neu auflegen, also etwas ganz anderes machen wie er. Der Blitz des Originalen, der Grundzug des Kühnen ist es doch, das trägt über die Lebensalter hinweg. Argo, das erste Schiff, das je auf ein Meer hinaus fuhr, ist von jeher die Ziffer für Dichtung gewesen, in der Antike, bei Dante, im Faust, zuletzt im Todeswerk von Max Beckmann: Argo, das Schiff, das die Argonauten, die Wager, den Orpheus, den Lynkeus an Bord trug. Es scheint mir nicht fehl, gerade hier in diesem berühmten Saale daran zu erinnern.
Nun ist nachzutragen, daß der Brief des alten Fontane den folgenden Schluß hat:
Eins noch. Wenn G. Hauptmann (was ich nicht wissen kann) nach meinem Brief Lust haben sollte, bei mir persönlich in Erscheinung zu treten, so bitte ich Sie, dies zu hindern. Ich verfolge noch alles sehr aufmerksam, aber ich kann nicht aus meinem Turmnest in die Arena steigen und mich an den Verdammungen und Lobpreisungen des Tages beteiligen.
Zu seiner Familie formulierte er so: „Jetzt schleppt mir bloß nicht den jungen Menschen ins Haus, ich will keine Enttäuschung erleben.“
Soweit freilich ließ sich die Parallele von Fontane zu Schröder nicht treiben. Allerdings schleppen wir den jungen Dichter ins Haus, allerdings beteiligen wir an Lobpreisung, wie es seit langem schöner Brauch dieser Stadt an diesem festlichen Jahrestag ist: den einen Dichter durch den anderen zu ehren und somit ihm selbst und uns allen eine Freude ungewöhnlicher Art, eine gut ausgedachte, sublime Freude zu machen.
Ich besinne mich genau des Momentes, als ich zum ersten Male ein Gedicht von Paul Celan las. Ich weiß gut, welches es war: das Gedicht, welches mit der Zeile: „Die Hand voller Stunden, so kamst du zu mir“ beginnt und in welchem alsdann das Haar eine so rätselhafte Bedeutung gewinnt, „das Haar auf der Waage des Leids“ und „das Haar, das nicht braun ist“, wobei alsbald deutlich wird, daß Haar und Auge und Krug und Dolch und braun und Brunnen und Schatten: daß dies alles sowohleben die Dinge als noch etwas anderes bedeutet, ungefähr so, wie es Ihnen von den Bildern Paul Klees her vertraut ist, wo ein Ding sich selber durch einen Traumsprung entspringt, oder wie man es von den höchst bedeutsamen, höchst aufschlußreichen mythischen Bildern von Braque kennt, wo sich die Eindeutigkeit einer Gestalt durch Mehrlinigkeit ausdrückt, da ja, wie wir längst wissen, die Dinge durch die sehr scheinbare, sehr trügerische Exaktheit der neueren Wissenschaft weit mehr verfehlt als bestimmt sind, weder selbst aufgeschlossen noch, was sie doch wahrlich sind und unserem Bemühen vor allem sein müßten: sich und uns Schlüssel.
Im herkömmlich-üblichen Sinn war bei diesem Gedicht, und so auch bei fast allen ändern des schwarzen, schmalen Gedichtbands, kaum eine Zeile voll zu verstehen. Dennoch war sofort klar, daß es sich bei jenem Gedicht, und so wiederum auch bei vielen anderen des Bandes, um ein wirkliches Gedicht handele. Ein großes Wort das: „ein wirkliches, wahres Gedicht“; und nun gar mehrere solche. Wer seine Worte und Sätze mit einigem Bedacht setzen möchte, muß wissen, was er da sagt: ein Gedicht. Er muß wissen, in den Sammlungen sogar der berühmtesten Dichter findet sich am Ende bloß eine Handvoll wirklich gelungener, wahrer Gedichte; er muß wissen, daß es somit ein Glück ist, ich würde auch das Wort Gnade nicht für zu Unrecht angewandt halten, wenn einer Sprache in einem Jahrzehnt ein paar wahre Gedichte einfallen. Auch das muß er wissen, daß es da hochmerkwürdige Täuschungen gibt, denen zufolge eine Dichtung den Mitlebenden etwas zuspricht, das sie erhöht und begeistert, und dann, eine Zeit später, gibt es Enttäuschung, wenn dieselbe Dichtung, dasselbe Bild und Theaterstück auf einmal verstummt und weiteres zu geben verweigert und so sein Ruhm schnell überständig und schal wird. Vorsicht also, muß man sich sagen, bei so großem Wort wie „ein wahres Gedicht“. Indessen, alles dies eingerechnet und vorbedacht, muß doch in diesem Augenblick angeführt werden, daß sich Paul Celan sogleich bei seinem Hervortritt das Vertrauen einer großen Zahl von Lesern erwarb; in kurzem hatte er viele Bewunderer und wenig Gegner und Zweifler. Zu hoch ist sein Anspruch, zu unbedingt seine Vorstellung, was das sei: ein Gedicht, zu überzeugend sein Künstler-Ernst, zu spürbar sein Wille, jeden, einmal wirklich jeden Preis für ein gelungenes Gedicht zu bezahlen, jeden Lebenspreis: ich bitte Sie, zu bedenken, wie selten das ist in unserer Welt des schnellen Verbrauchs, des schnellen Vergessens, des nervös überstürzten Neuherauskommens, – bei all diesen Tendenzen, die tief in die Kunstsitten einbrachen, wohin sie durchaus nicht gehören.
Es gibt unter den Gedichten Paul Celans einige, die im Verzicht auf Verständlichkeit, auf gewohnte Logik weitergehen als alles, was bisher in Deutschland gewagt worden ist. So das Gedicht, das ich (auch dieser Augenblick ist mir gut in Erinnerung geblieben) als zweites las: vom Kirschbaum und dem Knirschen von eisernen Schuhen, das offenbar rein lautverbindlich daraus folgt, dem demantenen Sporn, dem Schild und der Halbzeile: „Aus Helmen schäumt dir der Sommer…“ – einem halb panisch-bukolischen, halb heraldischen, ritterspornig-eisenhutigen Gartenstück von großer Genauigkeit und unvergeßlicher Wahrheit; die Existenz dieses unbeschuhten Sommerphantoms, dieser Lufterscheinung ist ganz gewiß. Dabei ist alles vielleicht bloß aus Anklängen, aus Bilderketten und wörtlichen Wahlverwandtschaften gemacht, eine Sache der Worte unter sich sozusagen, eine Angelegenheit, die sie unter sich ausmachen sollen.
Indessen, ich glaube, man sollte sich mit der Annahme eines so in sich gekehrten, in sich versunkenen Wortspiels nicht zu schnell begnügen. Rätselworte, Schlüsselworte: man wird sich wohl hüten, sie aufzulösen, weil sie dann sofort ihr Geheimnis verlören. Man wird sich aber auch hüten müssen, sie nicht aufzulösen und sie bloß so, ohne Rechenschaft, am Ohr vorbei- und vorübertriefen zu lassen. Ich glaube, das tut man nur allzu willig in den modernen Galerien, Ausstellungen und literarischen Stuben, wo es sich eingeführt hat, so zu tun, als ob man natürlich verstünde −: im Vertrauen darauf, daß es den anderen ebenso geht, eine stille gegenseitige Abmachung. Aber so ist das ja gar nicht, so will die Kunst unserer Tage sich doch gar nicht verstehen, das würde schlecht passen zu ihrem intellektuellen Charakter, zu ihrem oft festgestellten Laboratoriums- und Alchemistencharakter, zu ihrer Neigung zur Feinmechanik, zur Präzision; schlecht passen auch zu ihrem Arbeitscharakter in diesem Jahrhundert des Arbeiters, zu der ganz und gar anderen Beziehung des Dichters zur Muse – wenn er mit dieser schwer mitgenommenen mythischen Figur überhaupt noch zu rechnen gewillt ist, aber sofern er Dichter ist muß er.
Ich denke also, das kann der Sinn der schweren Verschlüsselung und Verrätselung nicht sein, die doch so bezeichnend ist für die Kunst unserer Tage und auf die zu verzichten, sich kaum einer ringsum entschließt. Es kann, nicht ihr Sinn sein, daß man sich vor verschlossenen Toren vergnügt. Ich meine, wo Verschlüsselung ist, ist auch Aufschluß: das Wort sagt es, und das Wort kann nicht lügen, das tun höchstens wir mit dem Wort, indem wir abfallen. Wo Verschlüsselung ist, da ist Aufschluß, wo Rätsel ist, da ist Rat, das Wort sagt es. Ich bin durchaus so gelehrt und ich glaube mit vielen, daß das Wort wissender ist als ich, der es im Mund führt; es ist dies der Glaube Mallarmés und Valérys und nach ihnen der gesamten Moderne: ein Theologicum ohne Zweifel, vielleicht ein Kryptotheologicum, also doch eins.
Also, wo Rätsel ist, da ist Rat, wo Verschlüsselung, da ist Aufschluß: es wäre denn Afferei und Geschwätz, was als Rätsel auftritt und was als Schlüssel sich gibt. Rebus: so wird seit alters eine gewisse Form des Rätsels genannt, rebus, durch Dinge, durch Bilder. Das Wort, wörtlich genommen, gibt Rat. Im Süddeutschen, also mundartlich, wird auch heut noch das Wort „Rätsel“ schlechthin für „Gedicht“ oder „Traum, Traumgesicht, Traumbild“ verwand: eben das, was ins Leben als Fragendes tritt, zwingt, nachsinnt, schon Rat wächst. Rätsel: was Rat gibt, woraus alsdann Rettendes wächst. So ist Wort eben Rätsel, Wort und Gedicht. Bloß in der ganz entzauberten Sprache der neuen Wissenschaft, da ist Ratlosigkeit. Das ist natürlich kein Rat. Da ist das Wort bloß Vokabel.
Also, wo Verschlüsselung ist, da ist Aufschluß, wo Rätsel, da Rat. Wäre man sich dessen nicht so sicher im Falle dieser Gedichte, so würde man weit geringer über sie denken, als wir es in der Tat tun. Dann könnte man wenig mehr hinter ihnen erblicken als eben, wie so oft, ein Studio, ein Atelier; dann würde ihr Verfasser nichts weiter sein als eben ein weiteres jener nicht gerade seltenen neuen Talente mit einer neuen, einer sogenannten persönlichen Note, einer eigenen Vokabelsammlung, die eine Zeitlang ein bißchen neu ist, einer Marottensammlung, einer Spezialität, einer neuen Montage, oder etwa einer besonderen Botanik oder einer besonderen Grammatik oder, was immer forthilft, einer besonderen Exotik oder, unstreitig am besten, einer besonderen Dämonik −: glaubten wir, in Paul Celan bloß einen Meister solcher Kunstgriffe gefunden zu haben, wir liebten seine Gedichte nicht so, wie wir sie in der Tat lieben.
Denn so war es doch, als vor fünf oder sechs Jahren in Literaturzeitschriften und Jahrbüchern einige dieser Gedichte auftraten, dann in die beiden schwarzen Bändchen gesammelt, die jetzt zu denen gehören, die man als ein Erkennungszeichen betrachtet, wenn man sie in einem fremden Bücherschrank oder auf dem Tisch einer Wohnung bemerkt, die man zum ersten Male betritt, als ein freundliches Einverständnis mit dem Besitzer und eine Gewähr −: so war es doch, daß gleich viele den Zauber dieser Stimme, dieser Zauber ist, womit Verse und Bilder einfangen; so kommt es, daß wir, gefangen, ein Bild, einen Vers forttragen und erst nach Jahren und Jahren verstehn: jeder kennt das aus Jugendtagen, aus früher Begegnung mit Dichtung. Indessen, Zauber ist doppelwertig, Magie kann auch leer, Faszination kann auch trügerisch sein; Kunst hat in jedem Fall Zauber, aber was den Zauber hat, braucht nicht in jedem Fall Kunst sein. Ich glaube indessen, für viele Freunde von Celan zu sprechen, wenn ich sage: diese Gedichte wurden von Anfang an deshalb geliebt und bewundert, weil größer als ihr Zauber, der groß ist, die Kraft ist, die in ihnen und über ihnen gespürt wird: Liebeskraft, Leidenskraft, also Lebenskraft, das ists.
In den genauen Bildern, die sich beim Lesen und Hören dieser Gedichte einstellen (ich bemerke übrigens, daß für mich das zweite, spätere Bändchen die vollendeteren, ausgeglühteren, einfacheren Gedichte enthält), teilt sich dem Leser etwas von jener Zuversicht mit, die sich einstellt, wenn man einen einsamen Künstler ausharren, bestehen und unbeirrt fortschreiten sieht. Lyrik ist Lebenskampf, alle Kunst ist nichts anderes, natürlich. Gedicht, das ist Kampf um eine Wirklichkeit, um die Gewinnung von Wirklichkeit: jedes Bild eine Breite gewonnener Heimat, jedes Gedicht eine Hufe zurückgewonnenen Lands, jeder Satz, der diesen Namen verdient, eine erschlossene, wiedererschlossene Fremde. Wirklichkeit, in der wirklich und eigentlich gelebt werden kann, wird einzig auf solche Weise erstritten; ist sie von einzelnen wahr und wirklich gemacht, so leben die Hunderttausend davon, auch solche, denen im Schlaf nicht einfällt, man könne von so etwas leben. Aber doch, es fällt ihnen schon ein. Auch den härter Verpackten begann es zu dämmern, daß das, was so Realität im Sinne der neueren Wissenschaften genannt wird, das Sinnloseste, Verzweifeltste und gespenstisch Unwirklichste auf der weiten Welt ist.
Und dann finde ich auch (neben vielem, das ich jetzt nicht alles sagen und rühmen kann, denn meine Rede- und Lobezeit ist bemessen), finde ich auch, daß diese Gedichte Schicksal tragen und haben. Ich meine jetzt nicht, daß sie Biograpnie haben, von der ich nichts weiß, die wohl dasein kann, aber ich kann es nicht wissen, sie ist in jedem Falle weit weg, außer Ruf-, außer Hörweite. Ich meine also nicht einen Lebenstoff, den ich nicht kenne, aber ich spüre, daß so etwas da ist, ich spüre eine Last, ein Gewicht, einen Mut, eine Trauer, spüre Überwindung und Drängen und Treiben. Es kann gut sein, daß ich dieses und jenes Gedicht falsch verstehe, in der Weise, wie ich es zu hören, zu lesen, mir auszulegen versuche; kann sein, daß ich es ziemlich anders verstehe als es gemeint ist, und so wird es auch Anderen gehen. Aber das macht nichts, das ist nicht so wichtig im Vergleich zu dem Umstand, daß diese Gedichte bedrängen, daß sie überfallen, daß sie zu einer wie immer gearteten Vorstellung zwingen. Wer schreibt, kann nicht wissen, welche Bilder er in Seelen erzeugt; aber Bilder, wie immer geartete Bilder muß er, muß er erzwingen. Welche es sind, und daß es wohl immer andere sind, das kann er bloß ahnen, darüber hat er nicht Macht. Das muß er schon dem Geschriebenen überlassen.
So ist es überhaupt, und mir scheint, im Fall dieser Verse besonders. Offenbar haben sich einige dieser Gedichte von ihrem Dichter gelöst, sind abgeschwebt, ziehen eigene Bahn, arbeiten, erleben auf eigene Faust, und einige sind ganz weggelaufen und haben sich trotzig selbständig gemacht. Weiß der Himmel, was alles so ein zartes und zähes, energisch-widerständiges Geschöpf dann erlebt. Wem es wohl so erscheint? Was es dem zuspricht? Weiß es der Himmel. Nicht selten wird das ziemlich verschieden von dem sein, was man ihm auftrug, mindestens eine zweite Kontur, eine Mehrlinigkeit, eine Schwingung. Da muß sich manchmal der eigene Erzeuger sehr wundern. Doch dann muß er sich sagen: Verständnis ist Mißverständnis, immer und immer, wie Umwege Wege. So läßt er sie machen. Sagen sie auch ein bißchen was anderes als er ihnen gesagt hat, das macht nichts. Das ist eingerechnet, dafür sind sie ja Rätsel und Schlüssel. Dafür sind sie ja Boten. Irdische? himmlische? wie immer: ein bißchen Freiheit muß man Boten bei ihrer Ausrichtung auch lassen.
Erhard Kästner, Neue Rundschau, Heft 1, 1958
sind in unserer Sprache Worte ein und desselben Ursprungs. Wer ihrem Sinn folgt, begibt sich in den Bedeutungsbereich von: „gedenken“, „eingedenk sein“, „Andenken“, „Andacht“. Erlauben Sie mir, Ihnen von hier aus zu danken.
Die Landschaft, aus der ich – auf welchen Umwegen! aber gibt es das denn: Umwege? –, die Landschaft, aus der ich zu Ihnen komme, dürfte den meisten von Ihnen unbekannt sein. Es ist die Landschaft, in der ein nicht unbeträchtlicher Teil jener chassidischen Geschichten zu Hause war, die Martin Buber uns allen auf deutsch wiedererzählt hat. Es war, wenn ich diese topographische Skizze noch um einiges ergänzen darf, das mir, von sehr weit her, jetzt vor Augen tritt, – es war eine Gegend, in der Menschen und Bücher lebten. Dort, in dieser nun der Geschichtslosigkeit anheimgefallenen ehemaligen Provinz der Habsburgermonarchie, kam zum erstenmal der Name Rudolf Alexander Schröders auf mich zu: beim Lesen von Rudolf Borchardts Ode mit dem Granatapfel. Und dort gewann Bremen auch so Umriß für mich: in der Gestalt der Veröffentlichungen der Bremer Presse.
Aber Bremen, nähergebracht durch Bücher und die Namen derer, die Bücher schrieben und Bücher herausgaben, behielt den Klang des Unerreichbaren.
Das Erreichbare, fern genug, das zu Erreichende hieß Wien. Sie wissen, wie es dann durch Jahre auch um diese Erreichbarkeit bestellt war.
Erreichbar, nah und unverloren blieb inmitten der Verluste dies eine: die Sprache.
Sie, die Sprache, blieb unverloren, ja, trotz allem. Aber sie mußte nun hindurchgehen durch ihre eigenen Antwortlosigkeiten, hindurchgehen durch furchtbares Verstummen, hindurchgehen durch die tausend Finsternisse todbringender Rede. Sie ging hindurch und gab keine Worte her für das, was geschah; aber sie ging durch dieses Geschehen. Ging hindurch und durfte wieder zutage treten, „angereichert“ von all dem.
In dieser Sprache habe ich, in jenen Jahren und in den Jahren nachher, Gedichte zu schreiben versucht: um zu sprechen, um mich zu orientieren, um zu erkunden, wo ich mich befand und wohin es mit mir wollte, um mir Wirklichkeit zu entwerfen.
Es war, Sie sehen es, Ereignis, Bewegung, Unterwegssein, es war der Versuch, Richtung zu gewinnen. Und wenn ich es nach seinem Sinn befrage, so glaube ich, mir sagen zu müssen, daß in dieser Frage auch die Frage nach dem Uhrzeigersinn mitspricht.
Denn das Gedicht ist nicht zeitlos. Gewiß, es erhebt einen Unendlichkeitsanspruch, es sucht, durch die Zeit hindurchzugreifen – durch sie hindurch, nicht über sie hinweg.
Das Gedicht kann, da es ja eine Erscheinungsform der Sprache und damit seinem Wesen nach dialogisch ist, eine Flaschenpost sein, aufgegeben in dem – gewiß nicht immer hoffnungsstarken – Glauben, sie könnte irgendwo und irgendwann an Land gespült werden, an Herzland vielleicht. Gedichte sind auch in dieser Weise unterwegs: sie halten auf etwas zu. Worauf? Auf etwas Offenstehendes, Besetzbares, auf ein ansprechbares Du vielleicht, auf eine ansprechbare Wirklichkeit.
Um solche Wirklichkeiten geht es, so denke ich, dem Gedicht.
Und ich glaube auch, daß Gedankengänge wie diese nicht nur meine eigenen Bemühungen begleiten, sondern auch diejenigen anderer Lyriker der jüngeren Generation. Es sind die Bemühungen dessen, der, überflogen von Sternen, die Menschenwerk sind, der, zeitlos auch in diesem bisher ungeahnten Sinne und damit auf das unheimlichste im Freien, mit seinem Dasein zur Sprache geht, wirklichkeitswund und Wirklichkeit suchend.
1958
Ansprache anläßlich der Entgegennahme des Literaturpreises der Freien Hansestadt Bremen
– Erinnerungen an Paul Celan. –
Der französische Dichter René Char, den ich in Paris durch seinen Übersetzer Jean-Pierre Wilhelm kennengelernt hatte, fragte mich im Frühjahr 1953, wer denn gegenwärtig Deutschlands bedeutendster Dichter sei. […]9 Und so kam es zur Frage, wer denn heute für uns junge Deutsche wesentlich sei. Ohne zu überlegen, nannte ich den Namen Paul Celan.
Von Paul Celan war damals in Deutschland sein erster schmaler Band, in schwarzes Leinen gebunden, Mohn und Gedächtnis, erschienen, auf den Rudolf Hartung mich aufmerksam gemacht hatte, und man las von ihm in regelmäßigen Abständen in Zeitschriften und Zeitungen neue Gedichte. Diese Gedichte waren so anders als alles, was wir bis dahin gelesen hatten, seine uns unverständlichen Bilder hatten eine so starke Suggestion, betrafen uns in einer Weise wie vorher nur die Verse Rilkes oder Benns, dass Celan vom ersten Augenblick an für uns zum wichtigsten Dichter wurde.
Mohn und Gedächtnis, dieser Band seltsamer Sprachalchemie mit seinen romantisch-surrealistischen Metaphern und seinen saugenden Rhythmen, mit der „Todesfuge“, die zum ersten Mal wagte, Bilder für das Unaussprechlich-Schreckliche der Judenvernichtung zu finden, dieser kleine schwarze Band machte Paul Celan sofort in ganz Deutschland bekannt, wie man es nach dem Krieg bis dahin nicht erlebt hatte, bekannt auf eine unerklärliche Weise, denn was diese scheinbare Traumsprache mit so betroffen machender Genauigkeit festhielt, ließ sich nicht genau benennen.
Man suchte nach Vergleichen, und ich erinnerte mich daran – davon erzählte ich René Char –, dass mir in der Jugend die Parabeln Kafkas unverständlich geblieben waren bis zu dem Zeitpunkt, wo ich den kleinen Insel-Band der Handzeichnungen Klees zu Weihnachten geschenkt bekommen hatte. Kafka und Klee gehörten für mich zusammen und ergänzten einander, und die seltsamen Traumsprünge in den Bildern Klees führten mich auch hin zu den Metaphern Celans.
Einfriedungen um das grenzenlos Wortlose
Celans richtungweisende Autorität war so groß, dass ich nicht gewagt hätte, während meines kurzen Aufenthalts in Paris ihn anzurufen. Als Char jedoch hörte, Celan wohne in Paris, erklärte der französische Dichter, da es keine Übersetzungen der Gedichte gebe, würde er zumindest seinen deutschen Kollegen gern persönlich kennenlernen. So schrieb ich denn, kaum nach Deutschland zurückgekehrt, einen Brief an Celan, den ich über seinen Verlag, die Deutsche Verlags-Anstalt, ihm zugehen ließ, und übermittelte ihm die Adresse Chars und dessen Wunsch, ihn kennenzulernen. Dies war der Beginn einer für die deutsche Literatur fruchtbaren Freundschaft zwischen dem deutschen und dem französischen Dichter, die so verschieden und doch wesensverwandt waren. Aufgrund dieser Begegnung lernte ich ein Jahr später selbst dann auch Paul Celan kennen.
Wie geschwisterlich mussten damals für uns, die wir in den Dichtungen der französischen Nachsurrealisten nach einem Schlüssel zu den Versen des in Paris lebenden deutschen Dichters suchten, die Gedichte Chars und Celans erscheinen. Char war und ist ein Moralist im Sinne Nietzsches. Er weiß den Menschen in seinem Versagen unvollkommen, aber er hat ein Menschenbild vor Augen. Das von ihm evozierte Morgenrot des Bewusstseins, das Reifwerden des Menschen, erfüllt sich für ihn nicht in der Utopie, sondern gilt jenseits des Nihilismus einer unbestimmten Hoffnung, dass aus der Schönheit ein neuer Mensch entstehe, ein Hoffen jedoch, das nicht zur Arglosigkeit werde, denn Poesie, meint Char, sei „Einsamkeit ohne Abstand inmitten der Geschäftigkeit aller“.
Das Weltbild Chars war verschieden von dem der Verzweiflung Celans, das keine Hoffnung, zuließ, doch die Sprache beider war geschlossen, war eine männliche Sprache.
Celan lehnte den Vorwurf ab, dass seine Gedichte unverständlich und dunkel seien, er nannte sie, nach einem Wort Rilkes, „Einfriedungen um das grenzenlos Wortlose“. Wie in den Dichtungen Chars, die er später übersetzte, sei ein jedes Bild zu begründen, so erklärte er mir. Aber aus Schutz vor der Welt wurde seine Dichtung hermetisch, wurde Dichten für ihn „ein Verwischen der ursprünglichen Spur“.
Kristall
Er verwies auf Dylan Thomas, der erklärt hatte, jedes Bild im Gedicht trage den Keim seiner eigenen Zerstörung in sich.
Meine dialektische Methode besteht in einem ständigen Aufbau und Niederreißen von Bildern, die aus dem Zentrum kommen, das zerstörerisch und schöpferisch zugleich ist.
Celan war skeptisch gegen die Magie, die Assoziationskraft der Sprache, und war zunehmend bemüht, den Sprachfluss zu zerstören. Die Sprache solle nicht verklären, nicht poetisieren, „sie versucht, den Bereich des Gegebenen und Möglichen auszumessen. […] Wirklichkeit ist nicht, Wirklichkeit will gesucht und gewonnen sein“, so heißt es bei Celan in einem Aufsatz 1958 für den Almanach des Pariser Buchhändlers Martin Flinker.
Celan vermied alles Ungewisse. So erzählte er mir einmal, dass es ihn bedrückt habe, nicht zu wissen, warum er einem seiner frühen Gedichte den Titel „Kristall“ gegeben habe.
Nicht an meinen Lippen suche deinen Mund,
nicht vorm Tor den Fremdling,
nicht im Aug die Träne.
Sieben Nächte höher wandert Rot zu Rot,
sieben Herzen tiefer pocht die Hand ans Tor,
sieben Rosen später rauscht der Brunnen.
Eines Tages kaufte er einen Band der Göschen-Reihe über „Allgemeine Mineralogie“ und fand darin nicht nur die Lehre vom Raumgitter der Kristalle, die ihn zum Begriff des „Sprachgitters“ führte, sondern auch folgende Definition des Kristalls:
Ein Kristall ist ein regelmäßig begrenzter Körper, der seine Form den diesem innewohnenden Kräften verdankt.
Und dieses ist genau die Definition des Gedichts, die Dylan Thomas gab, wie sie Celan erfahren hat. Er wusste nun, warum er seinem Gedicht den Titel „Kristall“ gegeben hatte, dass der Kristall Gedicht bedeutete und zugleich Welt und Wirklichkeit, Innenwelt und unbegrenzte Zeitlichkeit:
Das Schneebett unter uns beiden, das Schneebett.
Kristall um Kristall,
zeittief gegittert, wir fallen,
wir fallen und liegen und fallen.
Wir fallen:
Wir fallen. Wir sind.
Wir sind ein Fleisch mit der Nacht.
In den Gängen, den Gängen.
Die Notwendigkeit, die Celan verspürte, zum Schutz gegen die Welt das Gedicht hermetisch zu verschließen, wurde für ihn deutlich am Beispiel der ihm sprachlich verwandten beiden großen jüdischen Dichter deutscher Sprache, Else Lasker-Schüler und Nelly Sachs, wo das Gedicht verletzbar bleibt und offen gegen Larmoyanz und Spott des Lesers. Schon damals, als ich Paul Celan, ein Jahr nachdem ich ihm den Brief über René Char geschrieben hatte, in Paris persönlich kennenlernte, war er der großen in Stockholm lebenden Dichterin Nelly Sachs freundschaftlich zugetan, wovon ein umfangreicher Briefwechsel einmal zeugen wird. Er verspürte schmerzlich diese Gefahr der Verletzlichkeit und Hilflosigkeit in ihren Versen und war ihr verbunden aus der gemeinsamen Erschütterung durch die Zeit, das gemeinsame jüdische Schicksal.
Ihre Gedichte von der Sternverdunkelung waren für ihn die Möglichkeit einer großen Katharsis, die seinem eigenen Gedicht verwehrt war. Für Paul Celan, den die Zeit und nicht der Glaube zum Juden gemacht hatte, wurde durch das Gedicht der Nelly Sachs ein persönliches Vergangenheitstrauma leichter ertragbar.
Zu jener Zeit, 1954, lagen zwei Gedichtbände von Nelly Sachs vor, die nur schwer zu finden waren, weil vergriffen und außerhalb der Bundesrepublik erschienen. Kein Verleger, kein bekannter Schriftsteller, keine Gruppe 47 setzte sich für die spätere Nobelpreisträgerin ein, nur ein sehr junger, damals noch unbekannter Schriftsteller, Peter Hamm, versuchte vergeblich, etwas für die Dichterin zu tun.
Zu einer persönlichen Begegnung zwischen Paul Celan und Nelly Sachs kam es erst 1959 in Zürich. Nelly Sachs hatte einen ersten Literaturpreis in Deutschland empfangen und wurde vom Flugplatz in Zürich vom Ehepaar Celan und Ingeborg Bachmann abgeholt. Es kam zum ersten Gespräch zwischen Celan und der Dichterin, dem andere später in Paris folgen sollten. Nelly Sachs wohnte in Zürich im Hotel Zum Storchen, und unter diesem Titel hat Celan sein Gespräch mit der jüdischen Dichterin aufgezeichnet.
Deutschland
Das Hadern gegen Gott, das Hoffen auf den Gott Israels, den Gott auch des Himmelfahrtstags, von dem wir nicht wissen, was gilt, wurde mit den Jahren zunehmend zum Thema der Gedichte Celans. Er war als Kind in einem Umkreis aufgewachsen, einer deutschsprachigen Enklave der Bukowina im damaligen Rumänien, wo Religion und Judesein noch eins waren, ohne dass seine Eltern über die Tradition hinaus den Glauben praktizierten.
Paul Celan hatte in seiner Kindheit und Jugend in Czernowitz Phasen des Glaubens und Nichtglaubens.erlebt, er zeigte in frühster Jugend eine Neigung zu den klassischen Autoren der anarchistischen Bewegung, Kropojkin und Bakunin, die er in den Privatbibliotheken befreundeter Familien fand, so wie später sein Interesse für den Zionismus wach wurde. Er hatte als Kind Hebräisch gelernt und kannte das jüdische Schrifttum deutscher Sprache. Er suchte später, von Paris aus, Martin Buber und Gershom Scholem zum Gespräch auf. Aber sehr erschreckend, mit einem Zittern im Unterton, als er von einer Reise aus Deutschland zurückkehrte, dem Land seiner Sprache und seiner Ängste, sagte er mir einmal:
Zum Juden bin ich erst ich erst jetzt geworden, Heinrich Böll und Paul Schallück haben mich eigentlich zum Juden gemacht.
Was er damit wohl meinte, dass man ihm als deutschsprachigen Dichter jüdischer Herkunft zum Schutzjuden der Gruppe 47 und des literarischen Wiedergutmachungsbetriebs gemacht und ihm eine Rolle aufgezwungen habe, die ihn bedrängte und ängstigte. Es war ihm nicht länger vergönnt, frei vom Trauma der Vergangenheit in Paris zu leben, es galt für ihn nun jedes Wort gegenüber der Erwartung aus Deutschland abzuwägen; und so viele Worte kamen aus Deutschland von einer bösartigen Kritik, die für ihn den Keim des Antisemitismus in sich trug. So verfinsterte sich zunehmend die Welt des Dichters, und sein Leben endete im Verfolgungswahn.
Der Name Heinrich Böll stand für einen, wenn auch verständlichen, so doch verkrampften Philosemitismu dem Celan unter den Schriftstellern und Intellektuellen in Deutschland begegnete; sein Vorwurf hatte nichts mit der Person Bölls zu tun, dem der Dichter in Paris Achtung und Sympathie entgegenbrachte. Ich selbst konnte in jenen frühen Jahren nicht nur nichts mit den Büchern Bölls anfangen, sondern ich sprach gegenüber Celan sogar einmal den Argwohn aus, die Naivität und das Moralisieren Bölls, die ich glaubte in seinen Romanen zu finden, beruhten auf Heuchelei. Dem widersprach Celan aufs entschiedenste: Wenn ich Böll persönlich kennen würde wie er, würde ich an seiner schmerzlich moralischen Aufrichtigkeit, daran, dass er seiner Überzeugung lebt und es sich schwermache, nicht einen Augenblick zweifeln; und Celan fügte leise hinzu:
Ja, Heinrich Böll ist ein guter Mensch, ist ein wirklicher Christ.
Wir leben in dunklen Zeiten
Inzwischen, das war im Frühjahr 1955, war ich für wenige Wochen Sekretär bei Celan geworden. Das heißt, diktierte mir seine Übersetzungen, von denen er lebte, in die Maschine. Er übersetzte damals einen Roman von Jean Cayrol, der in Deutschland später unter dem Titel Im Bereich der Nacht herauskam. Einmal sprachen wir über die Gedichte Cayrols, Naturlyrik, die inhaltlich, wenn auch nicht in ihrer Qualität, mit der Dichtung Wilhelm Lehmanns zu vergleichen ist. In der literarischen Diskussion in Deutschland hatten sich damals Fronten für und gegen die Naturlyrik gebildet; es war ein ideologischer Streit, der sachlich nicht ausgetragen wurde, der für Celan sachlich aber Bedeutung hatte.
Noch in seinem Text über den österreichischen surrealistischen Maler Edgar Jené aus dem Jahre 1948 heißt es bei Celan, das Ziel des Dichters sei, die Dinge direkt zu benennen, aber die Zeit habe es mit sich gebracht, dass die Dinge nicht mehr bei ihrem richtigen Namen genannt werden können. Nur so könne man in einer schon vorgedeuteten Welt wieder zu einer neuen Ursprünglichkeit finden.
In einem Gespräch glaubte ich damals Celan gegenüber vorschnell, wie es das Privileg der Jugend ist, über die damals in Deutschland in der Nachfolge Lehmanns und Friedrich Georg Jüngers geschriebene Dichtung ein abschätziges Urteil abgeben zu dürfen. Er meinte aber:
Wir leben in dunklen Zeiten. Sie können gar nicht dunkel genug sein. Aber erst wenn sie ganz dunkel sind, dann werde auch ich die Kraft haben, Naturlyrik zu schreiben.
Naturlyrik ist Naturbeschreibung, Aussparung, Reduktion wie in einer naturalistischen Zeichnung. Die Natur spielte bei Celan eine wesentliche, aber andere Rolle: Sie ist nicht die Wirklichkeit, sondern geht als Teil der Wirklichkeit mit ein ins Gedicht wie nicht ausgeschriebene Notizen in ein Tagebuch. Keiner verstand es wie Celan, die Vollkommenheit der Sprache mit der Strenge des Gedankens im Gedicht zu vereinigen. Daher rührt nicht nur seine Beschäftigung mit den großen Philosophen, mit der philosophischen Dichtung als Wirklichkeitskritik durch den Geist, sondern auch seine Erarbeitung der Naturwissenschaften. Als Beispiel nannten wir bereits die Mineralogie, und man findet in seinen Gedichten eine Reihe von Termini, die aus diesem Bereich stammen. Dass auch Pflanzenkunde und Zoologie ihn beschäftigten, hat zudem die Bewandtnis, dass er seine Sprachkenntnis gerade dort im Deutschen erweitern wollte, wo er die Namen in anderen Sprachen kannte.
Ich entsinne mich eines Spaziergangs auf dem Land mit ihm entlang eines Baches. Wir erblickten einen kleinen Vogel, der sich kopfüber ins Wasser stürzte. Er wusste die französische Bezeichnung, ich kannte nicht die deutsche. Wieder zu Hause angelangt, suchten wir die deutsche heraus, es handelte sich um den Eisvogel, und wir fanden in Brehms Tierleben, dessen großartiger Text schon Hofmannsthal dazu brachte, den Beginn eines Kapitels daraus in sein „Deutsches Lesebuch“ aufzunehmen, zur großen Freude folgende Beschreibung:
Die Eisvögel sind stille, grämliche, neidische Gesellen, die Umgang mit ihresgleichen möglichst vermeiden. Sie tauchen, indem sie sich von einer erhöhten Warte herabstürzen. Der Eisvogel hat etwa die Größe eines Sperlings, ist oberseits prächtig metallisch glänzend smaragdgrün bis türkisblau gefärbt. Die rostrote Unterseite am dahinfliegenden Tier sieht man meist nicht, weil man von der funkelnd aufblitzenden Oberseite völlig überrascht ist. Im Sonnenschein ist der Eisvogel eine blau und rot und grün zugleich aufblitzende jäh dahinschießende Stichflamme, die grell aufleuchtet und plötzlich wieder erlischt. Leider gehört er zu den Vögeln, die in vielen Gegenden von Jahr zu Jahr seltener werden. Flußkorrektionen, Kanalbauten und Fischereiinteressen machen vielfach dem fliegenden Edelstein das Leben unmöglich.
Aus diesem Naturerlebnis, das durch die Lektüre bewusst gemacht wurde, entstand darauffolgendes Gedicht:
Stimmen, ins Grün
der Wasserfläche geritzt.
Wenn der Eisvogel taucht,
sirrt die Sekunde:
Was zu dir stand
an jedem der Ufer,
es tritt
gemäht in ein andres Bild.
Das Gedicht ging vom blitzschnell nach seiner Fischbeute tauchenden Eisvogel aus und entwickelte sich in den folgenden Tagen zu einer Versfolge über das Thema Stimmen, Stimmen der Welt und der Erinnerung, mit der berühmten Zeile:
Stimmen, vor denen dein Herz ins Herz deiner Mutter zurückweicht.
Deutschstunde
Aber nicht nur Erlebtes, Biographisches gehen ein in Celans Gedichte, so dass ein jedes Gedicht für ihn tagebuchartig eine Geschehnisnotiz ist, sondern seine Gedichte sind auch voller Zitate, Selbstzitate, Hinweise, die Erarbeitung einer Lektüre. Im Grunde ist ein jedes Gedicht Celans ein Gelegenheitsgedicht, und er kannte viele selbst auswendig, er schrieb sie einem auf die Rückseite eines bedruckten Blattes.Das biographische Detail zu kennen hilft für das Verständnis des Gedichts. Die beiden hervorragendsten Celan-Exegeten, Peter Szondi und Bernhard Böschenstein, haben hier viel erschlossen, haben aber auch gezeigt, dass bei genauer Lektüre die Gedichte verständlich sind, immer von der zu erschließenden Sache ausgehend, auch wenn man das genaue Erlebniselement, das ins Gedicht eingegangen ist, nicht kennt.
Eines der schönsten Liebesgedichte Celans geht aus von dem Gedichten eines anderen, von einem frühen Erlebnis gemeinsam mit seiner Frau, das er Jahre später festgehalten hat. Celan heiratete 1952 die französische Malerin Gisèle de Lestrange, die er gelegentlich damals, scherzend ihren Namen verdeutschend, Fräulein von Seltsam nannte. Er brachte ihr die deutsche Sprache bei anhand von Gedichten. Eines dieser Gedichte war von Georg Heym, das mit den schönen, sehr Celanschen Versen beginnt:
Deine Wimpern, die langen
Deiner Augen dunkele Wasser,
Laß mich tauchen darein.
Laß mich zur Tiefe gehn.
Und die letzte Zeile dieses Verses wird zehn Jahre später zur ersten eines Gedichts, das ursprünglich den Titel „Deutschstunde“ getragen hat: ein Titel, der in der Veröffentlichung fortfiel, weil er zu jener Zeit auf eine nähere Benennung seiner Gedichte verzichtete:
Das Wort vom Zur-Tiefe-Gehn,
das wir gelesen haben.
Die Jahre, die Worte seither.
Wir sind es noch immer.
Weißt du, der Raum ist unendlich,
weißt du, du brauchst nicht zu fliegen,
weißt du, was sich in dein Aug schrieb
vertieft uns die Tiefe.
Wie sehr der Dichter, in der Liebe zu seiner Frau, sich seiner eigenen wachsenden Vereinsamung in der Welt, seinem Davongetragenwerden in Hilflosigkeit, bewusst war, geht aus einem 1965 geschriebenen, an den späten Goethe erinnernden Gedicht hervor. Celan befand sich in einer Lebens- und Schaffenskrise, und seine Frau half ihm, durch Zeichnungen, zu einem neuen Beginn. So schrieb er, in Paranthese gesetzt wie eine Zueignung, das kleine Gedicht:
(Ich kenne Dich, du bist die tief Gebeugte,
ich, der Durchbohrte, bin Dir untertan.
Wo flammt ein Wort, das für uns beide zeugte?
Du – ganz, ganz wirklich. Ich – ganz Wahn.)
Wenige Monate bevor Celan den Tod wählte, während seiner Israel-Reise im Oktober 1969, mit der so viel Lebenshoffnung verbunden war, während der Tod doch stets präsent war, kommt er nochmals darauf zurück. Aber das Du ist wieder zum Zwillings-Du, zur eigenen Gegengestalt, zum anderen Ich des Dichters geworden. „So viele Juden, nur Juden, und nicht in einem Getto“, das war, so erzählte er nach der Reise, das große Erlebnis in Israel. – Aber er fühlte sich davon ausgeschlossen.
[…]
Israel war Celans letztes prägendes Erlebnis, die Begegnung mit den historischen Stätten der Bibel, dem befreiten jüdischen Volk, den Freunden seiner Kindheit. „So viel Ungesehenes und Ungehörtes“, schrieb er begeistert in Briefen, und die Freunde waren erstaunt, wie fröhlich und unbeschwert er sich während seines Aufenthaltes gab.
Er wollte wiederkehren, es beschäftigte ihn das Angebot der Universität von Tel Aviv, für ihn einen Lehrstuhl zu schaffen, dessen Aufgabe weit über die der Seminare hinausgehen sollte, die er vor einem kleinen Schülerkreis an der Pariser École Normale Superieure hielt und die im Grunde Sprachunterricht waren, in dem er mit seinen Studenten deutsche Texte und vor allem Gedichte las, ganz so, wie er früher der eigenen Frau seine Muttersprache beigebracht hatte.
Aber wenige Wochen später sprach er auch nicht mehr von Israel und seinen Plänen, und seinen israelischen Freunden kam es im nachhinein so vor, als sei seine Lustigkeit etwas Erzwungenes gewesen. Nicht er war von Israel enttäuscht, aber er hatte Furcht, die auf ihn gewartet hatten, könnten von ihm enttäuscht sein, in einem Land, wo er die Menschen und Laute seiner Kindheit wiedergefunden hatte und in dem dennoch, wie er gelegentlich zugab, alles für ihn fremd geblieben war.
Celan lebte damals in Paris bereits getrennt von seiner Familie. Er hatte sich eine kleine Wohnung in der Nähe der École Normale genommen, in die er aber selten Freunde mitnahm. Wer mit Celan sprach, bemerkte die ungewöhnliche Konzentration seines Sprechens, handelte es sich nun um Persönliches oder um Literatur. Wenn er feststellte, dass jemand etwas „gemerkt“ hatte in seinen Gedichten, dann wurde er lebhaft vor Freude.
Dann aber konnte gleich darauf ein kurzes Aufflackern von Unruhe in seinem Blick bemerkbar werden, ein Zeichen dafür, dass es Zeit war, das Gespräch baldmöglichst abzubrechen.
Während der letzten beiden Wochen seines einsam gewordenen Lebens beobachteten die wenigen, die ihm nahestanden, eine wiedergefundene Ruhe, ein gelegentliches Lächeln. Nach seinem frei gewählten Tod fand man auf seinem Schreibtisch ein Buch über Hölderlin (Wilhelm Michel, Das Leben Friedrich Hölderlins), in dem ein Wort Brentanos unterstrichen war:
Manchmal wird dieser Genius dunkel und versinkt in den bitteren Brunnen seines Herzens.
Christoph Schwerin, in Der Monat (Weinheim) 279, April/Juni 1981
Adolf Endler: Eine Reihe internationaler Lyrik, Sinn und Form, Heft 4, 1973
PAUL CELAN
immer spät
– im zwielicht zeit –
die ganz leisen
explosionen
deiner verse
deine trotz-
deine aberworte
du hast – immer schon –
von der seine gesprochen
ohne sie
beim namen zu nennen
Hermann Wallmann
PAUL CELAN
Die Weinung deine
ungesargte Sehnsucht
fährtet den
Wirrweg wirher
Mal um Mal
sammle ich vor den
Trockenvögeln sammle
Jederzeitzeichen
Nur wie
streut man den
Winter mit
Leben
Friederike Lagemann
Paul Celan: Dichter ist, wer menschlich spricht. Ein Film von Ulrich H. Kasten und Hans-Dieter Schütt mit Eric Celan und Bertrand Badiou.
Gerhart Baumann hielt seinen Vortrag Paul Celan: Um-Wege zu sich und die offene Frage des Gedichts auf der Tagung Vom Sinn moderner Lyrik am 23. Januar 1971 im Haus der Katholischen Akademie in Freiburg.
Niemand zeugt für den Zeugen. 100 Jahre Paul Celan. Literarische Soirée am 30.9.2020 im Haus am Dom Limburg.
Paul Celan, Czernowitz & die „Todesfuge“. Helmut Böttiger berichtet.
„Ästhetik und politische Dimension der Dichtung Paul Celans“. Mit Helmut Böttiger, Thomas Sparr und Monika Rinck; Moderation: Dieter Stolz am 23.11.2020 im Literaturforum im Brecht Haus.
Serhij Zhadan und Oleksandr Bojtschenko: Paul Celan – zwischen Biographie und Poetik
Paul Celan in Europa – Videogespräch am 22.9.2020 im Rahmen der trilateralen Forschungskonferenzen 2020–2023 in der Villa Vigoni.
Paul Celan übersetzen – Gabriel Horatiu Decuble im Gespräch mit Ton Naaijkens und Alexandru Bulucz, Moderation Ernest Wichner am 6.11.2021 im Literaturhaus Halle im Rahmen der Tagung „Was setzt über, wenn Gedichte übersetzt werden“.
Clément Fradin, Julia Maas und Michael Woll stellen Paul Celans Bibliothek im Deutschen Literaturarchiv Marbach vor.
„Die Todesfuge. Zur Biographie eines Gedichts im Archiv“ – Thomas Sparr im Gespräch mit Jan Bürger, Kai Uwe Peter und Michael Woll
Michael Woll stellt Paul Celans Nachlass im Deutschen Literaturarchiv Marbach vor. Im Mittelpunkt stehen dabei die Hölderlin-Bezüge in Celans Texten.
Felix Philipp Ingolds Skorpioversa – Kehraus mit Celan
Zwischen „Grabschändern“ und „Linksnibelungen“. Wolfgang Emmerich im Gespräch mit Michael Braun über Paul Celans Verhältnis zu Deutschland und seinen deutschen Kritikern.
Carolin Callies, Ann Cotten, Daniela Danz, Aris Fioretos, Norbert Hummelt und Rainer René Mueller kommentieren Paul Celans Gedicht „Was es an Sternen bedarf“.
Paul Celan liest Gedichte in Jerusalem am 9.10.1969
Daniel Jurjew / Klaus Reichert: Paul Celan: Ich sehe seine Hellsichtigkeit, bei anderem denke ich einfach: er übertreibt
Frankfurter Rundschau, 19.4.2020
Gregor Dotzauer: Das Eigene und das Andere
Der Tagesspiegel, 19.4.2020
Susanne Ayoub: Es ist Zeit, dass es Zeit ist
Der Standart, 19.4.2020
Sandro Zanetti: Akute Dichtung: Celans Zumutungen
Geschichte der Gegenwart, 19.4.2020
Friederike Invernizzi: Sprechen zwischen Wunde und Narbe
Forschung & Lehre, 19.4.2020
Frank Trende: Die bewegende Geschichte der Todesfuge
shz.de, 19.4.2020
Dunja Welke: Paul Celan – Ein zerrissener Dichter
RBB, 18.4.2020
Stefan Lüddemann: Paul Celan, Dichter des Holocaust, starb vor 50 Jahren
Neue Osnabrücker Zeitung, 19.4.2020
Shmuel Thomas Huppert: Erinnerungen an Paul Celan
SR 2, 26.2.2020
Christoph Bartmann: Ein Riss, der nicht zu heilen war
Süddeutsche Zeitung, 20.4.2020
Christine Richard: Ein Leben, immer nahe am Untergang
Tages-Anzeiger, 20.4.2020
Anton Thuswaldner: „Die Welt ist gegen mich losgezogen“
Salzburger Nachrichten, 19.4.2020
Klaus Reichert im Gespräch mit Niels Beintker: Erinnerungen an Begegnungen und Gespräche mit Paul Celan
BR24, 20.4.2020
Rüdiger Görner: Asche atmen: Zu Paul Celan
Die Presse, 23.4.2020
Marko Martin: Paul Celan und die „Linksnibelungen“
Welt, 27.4.2020
Evelyne Polt-Heinzl: Paul Celan Ein Migrant in Wien
Die Furche, 8.4.2020
Andreas Wirthensohn: Todesklage für die Überlebenden
Wiener Zeitung, 21.11.2020
Klaus Demus: „Eine sehr große Freundschaft“
literaturoutdoors.com, 22.11.2020
Claus Löser: Fünf Filme für Paul Celan
Berliner Zeitung, 21.11.2020
Krisha Kops: Paul Celan: Dichter, Überlebender, Heimatloser
Deutsche Welle, 22.11.2020
Ulf Heise: Lyrik als Flaschenpost
Freie Presse, 22.11.2020
Susanne Ayoub: Paul Celan: Verlust der Heimat, Trauer um die Eltern
Der Standart, 22.11.2020
Wolf Scheller: Was nicht gesagt, nur angedeutet werden kann
Der Standart, 23.11.2020
Andreas Montag: Dichter Paul Celan – Der Schleier des Herbstes
Mitteldeutsche Zeitung, 23.11.2020
Andreas Müller: Paul Celan – zum 100. Geburtstag
Wiesbadener Kurier, 23.11.2020
Stefan Kister: Unter die Deutschen gefallen
Stuttgarter Zeitung, 22.11.2020
Paul Jandl: Vielleicht war Paul Celan einmal ganz er selbst. Da spielte er die Dürrenmatts beim Tischtennis in Grund und Boden
Neue Zürcher Zeitung, 23.11.2020
Sabine Glaubitz: Er schrieb das Unsagbare auf: Nachkriegsdichter Paul Celan wäre heute 100 Jahre alt geworden
stern, 23.11.2020
Volker Weidermann: Ein Grab in den Lüften
Der Spiegel, 20.11.2020
Jochen Hieber: Im Höhenrausch mit Ingeborg Bachmann
Der Spiegel, 23.11.2020
Stefan Brams: Interview mit Thomas Sparr – Paul Celan stiftet zur Erinnerung an
Neue Westfälische, 23.11.2020
Helmut Böttiger: Die graue Sprache
Süddeutsche Zeitung, 22.11.2020
Helmut Böttiger: Auf der Suche nach einer graueren Sprache
Jüdische Allgemeine, 21.11.2020
Albrecht Dümling: Die Todesfuge in Tönen
Deutschlandfunk Kultur, 20.11.2020
Nikolaus Halmer im Gespräch mit Barbara Wiedemann: Paul Celan: „Es sind noch Lieder zu singen jenseits der Menschen“
Die Furche, 11.11.2020
Harald Seubert: Lieder jenseits der Menschen und kodierte Zeit: Paul Celan (1920–1970). Zum Gedenken
youtube.com, 15.6.2020
Celebrating Paul Celan: An Evening with Pierre Joris and Paul Auster
youtube.com, 21.11.2020
Stadtführung „Auf den Spuren von Paul Celan“
youtube.com, 10.9.2020
Paul-Celan-Literaturtage 2020. Videopräsentation vom Paul Celan Literaturzentrum Czernowitz
Ausstellung Paul Celan 100 – Unter den Wörtern
Online-Begleitprogramm zur Ausstellung Paul Celan – Meine Gedichte sind meine Vita
West-östliche Konstellationen. Internationale Tagung als hybride Veranstaltung im Lyrik Kabinett, München, sowie online.
Tagungskonzeption und -organisation: Prof. Markus May und PD Dr. Erik Schilling (Institut für deutsche Philologie der LMU München)
8.–9.10.2020
Eröffnung
Ambivalente Topographien. Rilkes Dritte Duineser Elegie und Celans „Walliser Elegie“
„West-östliche“ Lesarten im Jahrhundert nach Celan
Das Schweigen über Brücken. Orte Celans bei Robert Schindel
Abendvortrag: Todesfuge. Biographie eines Gedichts
„Wortaufschüttung“. Materialität als Indexikalität bei Paul Celan
Betreten. Zum Anfang von Engführung
Celans Draußen. Über reale und sprachliche Räume in seiner Dichtung
„Stimmen vom Galgenbaum“. Celans west-östliches Rotwelsch
Paul Celans Todesfuge interpretiert von Diamanda Galas im Teatro Albeniz, Madrid, 15.10.2008.
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