VII
In diesen schmalen Gassen, wo man auch mit Gedanken
überall aneckt; in diesem Serpentinen-
bündel eines von der Welt längst abgewandten
Hirns, wo man, aufgeregt und abgespannt, die vielen
Kirchen, die Brunnen heimsucht – da gibt es kein Halten
(wie bei der Nadel, die über die Schallplatte humpelt
und in der Mitte vergisst: es ist Schluss). Der ungestalte
Rest des Lebens wird hier erträglich, man wundert
sich, dass Vergangenes zu einem Ganzen
werden, sich vollenden kann. Die Sohlen
trommeln Arien aus dem Pflaster, sie tanzen
Serenaden – die Zeit stimmt ihre frohen
Lieder auf die Zukunft an. Das alles
kommt dem Hündchen auf dem Plattenlabel
wie ein Auftritt von Caruso vor, falls es
nicht schon weggelaufen ist – ins Leben.
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Beitrag zu diesem Werk:
Jens Herlth: Die Präsenz des Abwesenden. Zur Poetik von Iosif Brodskijs Rimskie ėlegii
Joseph Brodsky
– Um einen Dichter von außen bittend. –
Überleben der Poesie
Der Tag des heiligen Cassian, der nur jedes vierte Jahr erscheint, bringt den Besten den Tod. So will es, gemäß dem Bauernkalender, der russische Volksglaube. Am Cassian des Jahres 1996, in der Nacht zum 28. Januar, starb der Dichter Iossif Brodskij, jedoch nicht in Rußland, sondern in New York, im fernen Amerika, in dem der russische Jude und unfreiwillige Dissident fast so etwas wie eine neue Heimat gefunden hatte – und jene seitdem benutzte Abwandlung seines Namens: Joseph Brodsky. Er sei aber tatsächlich zum Sterben nach Rußland zurückgekehrt, meinte ein russischer Kollege, Viktor Kriwulin, wenn auch nur nach dem Gesetz des erwähnten Bauernkalenders. So stark war der Wunsch, den Dichter heimzuholen. Und natürlich berührte Kriwulin damit die Frage, wem ein Dichter gehört, der seine Essays englisch, seine Verse aber (bis auf einige Ausnahmen) weiterhin russisch schrieb. Keinen Zweifel ließ Brodsky über seine politische Haltung – aber was heißt schon politisch? Auf die Frage, ob er nach Petersburg zurückkehren wolle, soll er ausweichend geantwortet haben. Gewiß konnte er nicht vergessen, daß seine Eltern niemals eine Reise- und Besuchserlaubnis erhielten, ja daß die Behörden Ende der siebziger Jahre ihm nicht erlaubten, zum Begräbnis seiner Mutter zu kommen.
„Aus unerfindlichen Gründen klingt ,Tod eines Dichters‘ immer irgendwie konkreter als ,Leben eines Dichters‘“, hatte Brodsky zu Anfang eines Aufsatzes über Mandelstam geschrieben und die Begründung dann doch nachgeliefert:
Gleich woraus ein Kunstwerk besteht, es läuft auf das Finale zu, das seine Form mitbestimmt und das eine Wiederholung nicht zuläßt. Auf die letzte Zeile eines Gedichts folgt nichts als Literaturkritik. Wenn wir also einen Dichter lesen, haben wir teil an seinem Tod oder dem seines Werkes.
Solche Finalität setzt uns in Verlegenheit. Nicht wegen der Literaturkritik, die folgt; denn Brodsky war selbst ein eminenter Essayist. Er besprach nur Große und Großes, doch er liebte die Unterscheidung, war also Kritiker. Unvergeßlich etwa seine Zeile-um-Zeile-Interpretation von Audens Gedicht „1. September 1939“ (und das hat 99 Zeilen)! Eine Interpretation, die aus Liebe kam und Liebe erwecken sollte – Liebe zu einem Dichter, den er früh schon verehrte und mit dem er später befreundet war; eine Liebe, die er an die Teilnehmer seines Lyrik-Kurses an der Columbia University weiterreichen wollte.
Brodskys Insistieren auf Finalität ist zugleich unschuldig und radikal: Sie ist die Konsequenz eines Lebens, das auf Dichtung hinauswollte und selber die kompromißlose Strenge von Poesie besaß. Was sagen schon die Etikettierungen wie der größte Dichter Rußlands oder der Gegenwart überhaupt? Schwerlich wird man einen Autor finden, der im vergangenen halben Jahrhundert gegen alle Versuchungen zu Maskierung und Doppelleben die Figur des Dichters so entschieden und so glaubwürdig verkörpert hat. (Oder fänden wir schon Pendants, so wären es vermutlich wieder russische, Achmatowa, Mandelstam oder Zwetajewa,) Er muß diesen Eindruck schon ganz früh vermittelt haben. Der Dichter war gleichsam vor dem Autor. Denn die Studenten der Leningrader Universität unternahmen nächtliche Spaziergänge „vom Hause Blocks zum Hause Brodskys“, da war Brodsky erst zweiundzwanzig und hatte kaum etwas veröffentlicht. Bei seinem einzigen öffentlichen Auftritt in Moskau sollen selbst die staatlichen Kontrolleure offnen Mundes seinem Vortrag gelauscht haben.
Es gibt eine Faszination, die nichts zu tun hat mit persönlicher Kenntnis und Berührung: Brodskys wahrhaft unverwüstlicher und ansteckender Enthusiasmus für die marginalisierte Sache der Lyrik, der den Common sense überrannte und zu fast absurden Hoffnungen und Forderungen führte. Zahlreich sind die Äußerungen dafür: So forderte Brodsky, daß die Studenten wieder eine Anzahl von Gedichten auswendig lernen; und als Poeta laureatus machte er 1991 in der Library of Congress den „unbescheidenen Vorschlag“, man solle Gedichte in Millionen von Exemplaren drucken, denn Lyrik sei „die einzig vorhandene Versicherung gegen die Gemeinheit des menschlichen Herzens“. Was wunder, wenn er – fast donquijotesk – die Vorstellung ins Auge faßte, die Politiker, die „potentiellen Lenker unserer Geschicke“, sollten über ihr Verhältnis zur Poesie befragt werden. Im übrigen machte er sich über lesende Diktatoren, über Lenin, Stalin, Hitler und Mao, keine Illusionen:
Was diese Männer miteinander verbindet, ist die Tatsache, daß ihre schwarzen Listen länger waren als ihre Lektürelisten.
Natürlich wuchs diese Ansicht im Positiven wie Negativen aus erlittener und errungener Erfahrung: der mit dem totalitären Sowjetstaat. Die Nobelpreis-Rede bringt das auf die denkbar kürzeste Pointe: „In der echten Tragödie stirbt nicht der Held, sondern der Chor“ – was beweist, daß es Brodsky um anderes als um die bekannte Selbstbezogenheit der Poeten ging. In seinem Essay über die „klagende Muse“ Anna Achmatowa formuliert er sein Credo vom Überleben der Poesie:
Weil Sprache älter ist als der Staat und weil Prosodie die Geschichte immer überlebt.
Die Achmatowa war es ja auch, die den jungen Mann, der ihr ein Bündel Gedichte übergab, zu jener Karriere ermutigte, die ihm den vollen Preis abverlangte. Ihr Ritterschlag war der Satz: „Seit Mandelstam habe ich so etwas nicht mehr gelesen“ – das bedeutete aber auch, daß aus Mythos Biographie werden mußte.
Der Gorgo Haupt
Zwar warnt Brodsky:
Die Biographie eines Schriftstellers ist in seinen Sprachwindungen enthalten.
Doch dieser Satz steht in einem wunderbaren Stück autobiographischer Prosa, in den Erinnerungen an Leningrad – Erinnerungen an eine Stadt, deren Namen er immer verabscheute; und Brodsky schrieb diese Erinnerungen auf englisch, „denn die englische Grammatik könnte sich zumindest als besserer Fluchtweg aus den Schornsteinen des staatlichen Krematoriums erweisen als die russische“. Das ist eine Absage an das politische System, nicht an die russische Sprache; vor allem aber der Versuch, durch Sprachmagie die Eltern zu sich zu holen:
Ich möchte, daß Maria Volpert und Alexander Brodsky in „einem fremden Bewußtseins-Kode“ Wirklichkeit werden.
Und die eigene Wirklichkeit? Mag sein, daß auch hier das Englische eine Distanz schuf, die jenen kühlen, von Ironie imprägnierten Ton zuließ, in dem die eigene Entwicklung eher glossiert als analysiert wird.
So ergeben sich Rückblicke auf ein Bildungssystem, das weder Kindheit noch Erziehung ermöglichte. Ein Beispiel:
Was die Marine betraf, war ich ganz der Sohn meines Vaters und bewarb mich mit vierzehn um die Zulassung zu einer U-Boot-Akademie. Ich bestand alle Examen, wurde aber wegen Paragraph fünf – Nationalität – nicht angenommen.
Der junge Mensch, der unter die Rubrik Nationalität das Wort „Jude“ zu schreiben hatte, verzichtete ostentativ auf die Bildungschancen, die ihm das System nicht zu geben bereit war, und nahm seine Erziehung in die eigene Hand. Brodsky ging also mit fünfzehn von der Schule ab, arbeitete unter anderem als Fräser in einer Fabrik, benutzte die Bibliothek eines Onkels, brachte sich selbst Polnisch und Englisch bei, machte Übersetzungen und lernte überhaupt, das Lesen einem ohnehin unmöglichen Handeln vorzuziehen. In den anderthalb Zimmern der elterlichen Wohnung hatte er sich aus Brettern, Ziegeln und Regalen eine Enklave abgetrennt, die nur durch eine Schrankwand zu betreten war. Diese „Zelle, Wandschrank, Grab“ wurde zum innersten Bereich des familiären Refugiums, zum Ort seiner Poesie.
1960 erschienen einige Gedichte in der Untergrundzeitschrift Sintaxis. Dann folgten die Ereignisse, die Brodsky zum Dissidenten wider Willen machten, zum politischen „Fall“: der Vorwurf des „Parasitentums“ und die Verurteilung des Dreiundzwanzigjährigen zu fünf Jahren Verbannung. Jefim Etkind hat die Nachschrift der Vernehmungen vom Februar und März 1964 überliefert – ein klassisches Dokument für die Situation der Poesie im totalen Staat. Darin heißt es zum Vorwurf, Brodsky habe keine ständige Arbeit:
Ich habe gearbeitet. Ich schrieb Gedichte.
Noch bezeichnender vielleicht Brodskys Antwort auf die Frage, woher das Dichten komme, wenn er es denn nicht auf einer Hochschule gelernt habe:
Ich glaube, das… (etwas verwirrt), kommt von Gott.
Nach anderthalb Jahren Zwangsarbeit im hohen Norden kam der Dichter auf Grund internationaler Interventionen frei und durfte nach Leningrad zurückkehren: „Als ich freigelassen worden und in meine Vaterstadt zurückgekehrt war, war ich außerdem selbst eine Art von Berühmtheit, und in einigen Buchläden behandelte man mich sehr freundlich“, heißt es mit leisem Sarkasmus. Man braucht aber wohl nicht viel Phantasie, um sich die Jahre bis zur Ausbürgerung 1972 vorzustellen.
Zum fünften Jahrestag dieser Ausbürgerung (4. Juni 1977) schrieb Brodsky ein Gedicht, in dem es heißt:
Jetzt gibt es mich da nicht. Die Vorstellung ist seltsam.
Doch noch bizarrer wärs bestimmt, sich dumm zu stellen,
nur des Tyrannen letzte Tage zu vergällen
und doch zu zittern. Jeder lebt nach seinen Regeln:
ich beugte nicht die Knie, mochte keine Flegel,
der Gorgo Haupt an einer Brücke jener Gegend
erschien mir dort das ehrlichste Gesicht von allen.
Und als ich jetzt auf dessen volle Größe prallte,
hab ich nicht aufgeschrien, bin nicht umgefallen
und wurd auch nicht zu Stein, Ich hör die Muse stammeln.
Ich spür, die Parze spinnt mir ihren Faden strammer:
noch dulden die da oben, daß mein Atem strampelt.
Ein großartiges Resümee von Epoche und Biographie. Der Dichter, klarsichtiger als wir alle, rechnete schon mit den letzten Tagen des Tyrannen – wenn auch nicht mit dem Perseus, der der Gorgo das Haupt abschlägt. Er spricht nicht von Siegen, darf sich aber rühmen, ihrem Blick standgehalten zu haben. Überstehn ist alles, wie der von Brodsky geliebte Rilke sagte.
Kontrafakturen
In seinem Essay „Einem Schatten zu Gefallen“ findet sich ein ebenso schlichter wie zentraler Satz: „doch der Mensch ist, was er liest“. Der Schatten, den Brodsky hier wieder lebendig macht, ist der W.H. Audens. Auden war für Brodsky Erwecker, Lehrmeister, Freund. Man kann seinen Einfluß kaum überschätzen.
Brodsky lernte Audens Werk in einem entscheidenden Moment seines Lebens kennen, in der Zeit seiner Deportation, in einem kleinen Dorf, „verloren zwischen Sümpfen und Wäldern“. Dort geschah ihm das Augustinische Nimm und lies! vor einer Anthologie englischer Lyrik:
Durch puren Zufall öffnete sich das Buch bei In Memory of W.B. Yeats. Ich war damals jung, und daher besonders begierig auf Elegien als literarisches Genre, da ich niemanden um mich hatte, der sein Leben dafür geben würde, eine solche für mich zu schreiben, So las ich sie vielleicht etwas gieriger als alles andere, und ich dachte häufig, daß die auffälligste Eigenart an diesem Genre in dem unbewußten Versuch der Autoren lag, sich selbst darzustellen. Fast jedes Gedicht, das den Zusatz „in memoriam“ enthält, ist damit übersät – oder befleckt.
Wie immer es um Brodskys damalige Selbstbezogenheit stehen mochte: Er bewunderte Audens Bestreben, dem toten Dichter Tribut zu zollen, nicht minder aber die ingeniöse Professionalität, die sich darin ausdrückte, daß Auden „in umgekehrter Reihenfolge des großen Iren eigene Stilentwicklung nachahmte“. Das muß den jungen Poeten so beeindruckt haben, daß er bei passender Gelegenheit seinem Lehrmeister Dank abstattete, indem er in analoger Manier ein Gedicht auf den Tod T.S. Eliots schrieb, Brodskys „Verse auf den Tod T.S. Eliots“ sind nach Thematik wie Gestalt virtuose Kontrafaktur. Geschrieben wurden sie 1965 am Ort seiner Verbannung, und zwar binnen vierundzwanzig Stunden, nachdem Brodsky die Nachricht von Eliots Tod erhalten hatte.
Die vier Teile von Brodskys Poem entsprechen in Gliederung, Proportion und Vers ziemlich genau dem Audenschen Vorbild. Auden beginnt mit einer freirhythmischen Phantasie über den Todestag des Dichters und das Angedenken seiner Leser. Im zweiten Teil bedenkt er Yeats’ Vaterland („Narr Irland quälte dich zur Dichtung“) und das Paradox von Wirkungslosigkeit und Überdauern von Poesie. Der in festen Reimstrophen gehaltene Schlußteil beschwört die historische Stunde, den drohenden Krieg („und die Völker stehn auf Wacht, / abgetrennt von ihrem Haß“), und setzt dagegen die Unzerstörbarkeit von Yeats’ dichterischer Stimme. Hier die Strophen 4 und 5 in der Übertragung Ernst Jandls:
Folge Dichter, folg bedacht
bis zum tiefen Grund der Nacht,
deine Stimme, unzerstört,
helfe uns, daß Jubel währt;
mit dem Pfluge im Gedicht
Weinberg mach aus Strafgericht,
hingerissen von der Not
sing, was alle uns bedroht.
Brodskys Gedicht auf T.S. Eliot ist Gegengedicht und Variation zugleich. Auch hier der Eingang mit dem Winterpanorama (zumal Eliot wie Yeats in einem Januar starb); dann das – stärker als bei Auden – allegorisierende Mittelstück: zwei trauernde weibliche Figuren als „Amerika“ und „Anglia“; und schließlich die Reimstrophen mit der Apotheose des toten Dichters. Während Auden in seinen Naturbildern aktualisiert, nämlich auf die epochale Not und Bedrohung anspielt, scheint Brodsky mit besonderem Nachdruck das zeitenthobene Weiterleben des Dichters in der Natur zu akzentuieren. Hier die analogen Strophen in der Übertragung Rolf Fieguths:
Schrittgeräusch und Lyra-Klang
erinnern wird der Wald ringsum.
Dem Gedächtnis dienen wird
das allein, was weiterlebt.
Erinnern wird dich Wald und Tal.
Erinnern dich höchstselbst Äol.
Erinnern wird dich jeder Halm,
wie’s Horatius Flaccus wollt
So weit etwa kommt man ohne Kenntnis des Originals. Für den russischen Leser ergeben sich (neben den unübertragbaren Sensationen von Melos und Rhythmus) weitere Konnotationen aus der Kenntnis der im Original angelegten Anspielungen. Brodsky bezieht sich zwar explizit auf das „Exegi monumentum…“ des Horaz, subkutan aber auf Puschkins Fortführung des Horazischen Gedankens. Bei Puschkin nämlich – so sagt uns eine Anmerkung der Übersetzer – findet sich die Vorstellung, daß die Grashalme die Erinnerung an den Dichter bewahren werden: „k nemu ne zarastet narodnaja tropa“ (zu ihm – d.h. zum Denkmal – wird der Pfad des Volkes nie zuwachsen). Was dem Gedicht erst auch jenen politischen Gehalt gibt, der in der deutschen Version nicht zu erkennen ist.
Bleibt nachzutragen, daß Brodsky seinem verehrten Auden auch ausdrücklich gehuldigt hat; nämlich 1976, drei Jahre nach Audens Tod, in dem Gedicht „York“. Dort heißt es:
Und deine Stimme: „Drei große Dichter hab ich gekannt. Durchweg
ausgesprochene Schweine“ klingt mir in den Ohren mit
unverminderter Klarheit.
Im Gedicht verschweigt Brodsky die Namen der Gemeinten; im Auden-Essay lüftet er das Geheimnis: es sind Yeats, Frost, Bert Brecht. Sein Kommentar:
Bei Brecht hatte er unrecht: Brecht war kein großer Dichter.
So dürfte vieles in Brodskys Kunst – über die Fragen von Reim und Rhythmus hinaus – aus einer Tradition heraus verständlich sein, die dem deutschen Leser weitgehend verschlossen ist. Hat man sich damit abgefunden, darf man sich getrösten. Wie Brodsky selbst, der über Rilke schrieb, den er nicht im Original lesen konnte. Oder der anläßlich einer Montale-Übersetzung anmerkte, das wohl oder übel andere Tonsystem hole das Original doch irgendwie ein: durch Interpretation, notfalls Vereinfachung.
Selbst manche Stücke aus Brodskys eigener Lyrik wird man mit gewissem Recht als „Übersetzung“ verstehen können, nämlich als nach- und neuschaffende Aneignung. Mag man die Auden-Kontrafaktur auf Eliots Tod noch als Gesellenstück ansehen, wird man aber nicht leugnen, daß auch einige von Brodskys wahrhaft großen Gedichten auf vielfältige Weise tradierte Muster und Bezüge aufnehmen, ohne je an Originalität einzubüßen. So spielen die „Neuen Stanzen an Augusta“ auf ein titelgleiches Byron-Gedicht an, das Pasternak (und hier ist wieder der russische Bezug) übertragen hatte. „Einem alten Architekten in Rom“ – die Überschrift ist übrigens deutsch – variiert einen Titel von Wallace Stevens: „To an Old Philosopher in Rome“. Der dort evozierte Stoizismus erhält bei Brodsky eine besondere historische Pointe: Das einem alten Architekten zugedachte Gedicht handelt vom zerstörten Königsberg. Für den „Architekturfetischisten“ Brodsky, dem wir so hinreißende Städteschilderungen von Venedig, Florenz oder Rom verdanken, ist dies eine besonders sarkastische Pointe.
Noch weiter aus greift Brodskys „4. Ekloge: Winter“. Das Motto des Gedichts stellt ausdrücklich den Bezug zu jener Ekloge Vergils her, die in der Geburt eines göttlichen Kindes ein neues goldenes Zeitalter erwartet. Dies nämlich ist Vergils Prophezeiung, die bei Brodsky, im lateinischen Original, dem Text vorangestellt ist:
Nun ist gekommen die letzte Zeit nach dem Spruch der Sibylle;
neu entspringt jetzt frischer Geschlechter erhabene Ordnung
Freilich steuert schon der „Winter“ in Brodskys Titel allzu optimistischen Erwartungen entgegen; das Gedicht selbst aber auch einem ebenso schlichten Pessimismus, Denn es heißt dort grimmig-humorig:
Ich bin außerstande, ein Leben in anderen Breiten zu führen,
Wie die Gans den Spieß brauch ich der Kälte Segnung.
Das Entstehungsjahr des Gedichts wiederum meint nicht bloß russische Zeit, sondern Weltzeit: 1977. Das Gedicht endet mit dem Topos vom vereisten Fluß:
(…) Der Fluß ist vom Eis gefesselt;
du kannst in lange Unterhosen schlüpfen, mutig
eiserne Kufen unter die Schuhe schnallen.
Die Zähne, dies leid sind, vom Frost besessen,
Steptänze aufzuführen, klappern nicht vor Angst. Und die Stimme der Muse
klingt gedämpft, privat, ohne große Intervalle.
Das ist die Geburt der Ekloge. An die Stelle von Sonnenstille
tritt strahlender Lampe Brennen:
die Kyrilliza, sinnlos durch die Gegend rennend, um dem Fänger
zu entkommen, weiß mehr als jene Sibylle
vom Kommenden. Weiß, wie auf Weißem Schwarzes dämmert,
solange Weißes da ist. Und länger.
Was aber bleibt? Die Kyrilliza, die kyrillische Schrift, aber nicht als der „feste Buchstab“, sondern als Schrift in Bewegung, ja Flucht, die aber eben deshalb als bewegliche überdauert.
Gleichwertig neben dem Vergilischen Motto – genau genommen über ihm – steht die Widmung „Für Derek Walcott“, den karibischen Kollegen und Freund. Da darf ich – im Netz der Bezüge – auch ein Gedicht erwähnen, das Walcott Brodsky gewidmet hat: „Der Forst Europas“ – nicht zuletzt, weil es ein schönes Porträt des Freundes gibt und weil es den weltweiten poetischen Austausch auf eine bemerkenswerte Gnome bringt:
Die Touristenarchipele meines Südens
sind auch verderbliche Gefängnisse, und ob doch
kein härteres Gefängnis ist, denn Verseschreiben,
was denn ist Poesie, die etwas taugt,
als ein von Hand zu Mund gereichtes Wort?
So schuf sich Brodsky, der weder in Rußland noch sonstwo ein augustäisches oder gar goldenes Zeitalter erwartete, jenes Reich der Poesie, das zuallererst eine Gesellschaft der Dichter ist. Viel weiter reichten wohl auch Vergils Hoffnungen nicht, als er mit seiner vierten Ekloge auf eine Epode des Horaz antwortete. Immerhin: wäre er Dante, so Brodsky in Flucht aus Byzanz, dann hätte er „diesen Römer im Paradies untergebracht“…
Redeteil
Haben wir also einen Klassizisten vor uns? Eine janusköpfige Figur: einen Dichter von politischer Schärfe und historischer Klarsicht, aber eben doch einen neohellenistischen Formkünstler, der sich eine Internationale der Poeten träumt? Und das soll ein moderner Lyriker sein? Brodsky selbst lenkt uns nicht ohne listige Ironie auf diese Spur. In einem frühen Gedicht heißt es: „Ich kranke an normalem Klassizismus“, und noch derber:
Ich bin ein Epigon und Papagei.
Ironie bemäntelt das stupende Formvermögen des Dichters; sie kaschiert aber nur notdürftig jene Kühnheit, die sich der metrischen und strophischen Muster bedient, um ein wahres semantisches Feuerwerk abzubrennen. Man mag das Manierismus nennen oder linguistische Passion. In jedem Fall ist es eine Komponente, ohne die Brodskys Dichtung nicht zu denken ist. Ausgerechnet sie ist zutiefst an die besonderen Gesetze einer Sprache gebunden. Pound definierte die semantischen Möglichkeiten der Poesie als die Logopoeia, den „Tanz des Geistes unter den Worten“, und meinte:
Logopoeia läßt sich nicht übersetzen; wohl aber kann die Geisteshaltung, die sie ausdrückt, in die Paraphrase eingehen.
Das haben die deutschen Übersetzer versucht, indem sie, wie Pound vorschlägt, nicht wörtlich übersetzten, sondern einen „abgeleiteten oder gleichgerichteten“ Ausdruck zu finden suchten. Sie taten das mit unterschiedlicher Intensität und Deutlichkeit, so daß der deutsche Leser zumindest zwei Tonarten vorfindet, eine traditionellere und eine manieristisch-moderne. Daß dies auch Tonarten der Originale sind, macht die Sache nur verzwickter.
Manches Wortspiel läßt sich wohl im Deutschen nachbilden, etwa leicht erkennbar in der Zeile „Jede Kolonnade wirkt wie die fünfte Kolonne“. Und auch der Vers „Ein kleiner Nachtmuschik tritt geigend ein“ läßt uns Mozarts Serenade assoziieren. In anderen Fällen geht es nicht ohne Erläuterungen, Ein Beispiel: Der von Felix Philipp Ingold übersetzte Zyklus „Post aetatem nostram“ ist eine satirisch aktualisierende Schilderung des römischen Imperiums:
Ein Land für Narren – das Imperium
Die zwölf Gedichte operieren mit Anspielungen und Wortspielen im Dienst eines oft recht derben Sarkasmus. So hält in Nr. 10, „Der Kaiser“ überschrieben, ein Söldner oder Legionär vor einer mit einem goldenen M beschrifteten Tür Wacht, hinter welcher der sonst nicht weiter Genannte offenbar defäziert. Das Paradox „Der goldne Großbuchstabe M, der an / der Tür prangt, ist eher klein, verglichen / mit jenem andern (…)“ löst sich auf, wenn im Original die Doppelbedeutung von „propisnaja bukwa“ realisiert wird, was zugleich die Majuskel und „etwas Mickriges, Kleinkariertes“ bezeichnen kann. Und der satirische Effekt wird auf die Spitze getrieben, wenn jener Gemeinte – „ein Gigant, rot angelaufen“ – einige Zeilen später als „Vesuff“ bezeichnet wird. Das russische Original „Wersuwi“ arbeitet hier mit einer Kontamination von „Wesuwi“ und „Wersat“ bzw. „Wersit“, was eine „angestrengte, aber nutzlose Tätigkeit“ bezeichnet. Die entsprechende Strophe lautet bei Ingold:
Das transparente Wasser strömt und murmelt.
Der riesige Vesuff, der umgekehrt
darüber hängt, kotzt sich mühselig aus.
Der Tanz des Geistes unter den Worten – Pounds Logopoeia also – reicht bei Brodsky auch in die höheren Sphären der Sprache und eines emphatischen Sprachdenkens. Das frühe Gedicht „Verben“ gibt eine Apologie und Leidensgeschichte der Wortart:
So werden, mit allen drei Tempi,
die Verben einst Golgatha ersteigen.
Man sollte auch nicht übersehen, daß ein Gedichtband Tschast retschi (Redeteil) betitelt ist, aber das Resümee ist auch hier eher illusionslos:
(…) Das Leben, dem man – immerhin
ist’s ein Geschenk – nicht gleich ins Maul schaut,
fletscht überall die Hauer und gibt Laut.
Vom Ganzen des Menschen bleibt – als Teil –
bloß Sprache übrig. Er als Sprachanteil. Als Redeteil.
Illusionslosigkeit und Pathos sind Widersprüche, die für die Poesie nicht gelten. Eines von Brodskys wunderbarsten Gedichten, groß und großartig auch in der deutschen Version, seine „Große Elegie für John Donne“, annihiliert die Welt im Sterben des großen metaphysischen Poeten – und errichtet sie neu, in einer summierenden Negation, die fast wieder Schöpfung ist. Es hebt an:
John Donne schlief ein, Alles ringsum schlief ein.
Über London und England hinaus versetzt dieses Gedicht die ganze Welt in Schlaf und ruft sie dennoch auf, in der Klage um den Dichter:
Sieh hin, und du erblickst in Wolken einen Stern,
der durch so viele Jahre deine Welt beschützt hat.
Nun ließe sich diese 1963 geschriebene Elegie auf den metaphysical poet unseres Jahrhunderts beziehen; doch hat der Dichter, präzis und unsentimental, seinen eigenen Nekrolog mit dem säkularen verbinden wollen:
Bald endet das Jahrhundert, doch vorher ende ich.
In seinem 1989 geschriebenen „Fin de siècle“ ist kein Raum für Ermahnungen an die Nachgeborenen, Stoizistisch und sarkastisch ist die Bilanz:
Das Jahrhundert war, insgesamt, gar
nicht so übel. Genau besehen, vielleicht ein paar Tote zuviel –.
Aber zuletzt gibt Brodsky doch einen Wink, eröffnet er in wenigen Zeilen eine neue Ära der Entdeckungen, nicht wie Rimbaud, um das Unbekannte zu finden:
nein, ein ganz anderer Fund
will entdeckt sein – der eigene Mund
Harald Hartung, Sinn und Form, Heft 3, Mai/Juni 1996
1. Erlanger Literaturpreis für Poesie als Übersetzung 2005 an Felix Philipp Ingold.
Fakten und Vermutungen zum Übersetzer + Instagram + KLG + Kalliope + Viceversa + Forschungsplattform + slavistik-portal + IZA + Preis
Porträtgalerie: akg-images + Autorenarchiv Isolde Ohlbaum + deutsche FOTOTHEK + IMAGO + Keystone-SDA
shi 詩 yan 言 kou 口
[FÜR JOSEPH BRODSKY]
War das Sofa rot?
Der Koffer ja Überseekoffer
stand da wie ein Boot
bereit für Amerika.
Fahne Koffer die Bücher
im Lot. Das Weggehen
so plötzlich aber Not
und wie sich zeigte
für immer. Jetzt bist du tot.
Es schneite in Leningrad.
Nacht und die Tankstelle
öd wie Brachland. Straßen
Fassaden verwaist ohne
Pracht. Du hast dich auf
leisen Lippen davongemacht
ins Gedicht. So fuhren wir
still und gewichtlos durch
deine Stadt. Sprachen nicht.
Die Schuhe der Schritt
die Gasse dein Gesicht
mittendrin. Du stehst
am Kanal im Licht wie bestürzt
und ich weiß nicht
was sagen. Kragen hoch
das Wort eine Wolke vorm Mund
rund. Und lebwohl.
Bis in wie viel Tagen?
Ilma Rakusa
(zum nachhören hier)
Anders sein. Dissens in der Sowjetunion – Joseph Brodsky
Leonhard Reinisch: Gespräch mit Jossif Brodskij, Merkur, Heft 305, Oktober 1973
Horst Bienek: Die Freiheit, wie ein Dichter zu leben, Die Zeit, 30.10.1987
Birgitta Ashoff im Gespräch mit Joseph Brodsky: Heimat – daran denke ich überhaupt nicht…, Die Zeit, 30.10.1987
Fritz J. Raddatz im Gespräch mit Joseph Brodsky: Ich mag Brecht nicht, Benn ist mein Idol, Die Zeit, 16.12.1988
Christoph Buch: Begegnung mit Joseph Brodsky, Die Zeit, 22.4.1988
Adam Michnik spricht mit Joseph Brodsky – Dostojewskij kannte nicht die ganze Wahrheit, Die Zeit, 10.3.1995
Felix Philipp Ingold: Gedenkblatt für Joseph Brodsky
DU, Heft 6, 1996
Timo Brandt: Über Joseph Brodsky bei babelsprech.org, internationales Forum für junge deutschsprachige Lyrik
Hans Magnus Enzensberger: Überlebenskünstler Joseph Brodsky
Irena Grudzińska-Gross: Czesław Miłosz und Joseph Brodsky. Die Freundschaft zweier Dichter
Fakten und Vermutungen zum Autor + Instagram 1 & 2 + IMDb + KLfG + PIA + Internet Archive + Poets.org + Kalliope
Porträtgalerie: akg-images + Autorenarchiv Isolde Ohlbaum + Brigitte Friedrich Autorenfotos + gettyimages + IMAGO + Keystone-SDA
Nachrufe auf Joseph Brodsky: Schreibheft ✝ Die Zeit ✝ „Dieser Text ist verschwunden.“
Zum 25. Todestag des Autors:
Zakhar Ishov: Brodskys Venedig
dekoder.org, 28.1.2021
Brodsky …Ferngespräche verfilmt in 9 Kapiteln | Kapitel 1: San Pietro
Alle weiteren Videokapitel bei der Schaubühne Lindenfels
Anderthalb Zimmer in Leningrad: Ein Museum für Joseph Brodsky.
Joseph Brodsky rezitiert „Натюрморт“ 1989.








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